Im Reich der Kristalle | Schweizer Alpen-Club SAC
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Im Reich der Kristalle Der Berufsstrahler

Er zwängt sich in enge Felsspalten, wühlt in kaltem Wasser und schleppt schwere Steinbrocken. Strahlen ist anstrengend und gefährlich. Trotzdem möchte Christoph Betschart aus Andermatt niemals einen anderen Beruf ausüben.

Von Kopf bis Fuss nass und schlammig schiebt sich Christoph Betschart langsam rückwärts aus einer engen Kluft heraus. Die Finger sind steif vor Kälte, doch das Lächeln auf seinem Gesicht könnte nicht breiter sein. In der rechten Hand hält er einen flachen Kristall in der Grösse einer halben Tafel Schokolade; die Kristalle sind parallel aufeinander gewachsen und gedreht. Der sogenannte Gwindel gehört zu den seltensten und wertvollsten Kristallformen. Weltweit sind nur drei Fundgebiete bekannt: einige Orte im Himalaya, eine einzige Fundstelle im Ural und einige wenige im Alpenraum. Viele Strahler finden ein Leben lang keinen einzigen.

«Dieses Gefühl ist wichtiger als der Stein»

Mit der Suche nach Kristallen verdient Betschart als einer von nur etwa einem Dutzend Strahlern in der Schweiz seinen Lebensunterhalt. Aber beim Strahlen geht es ihm um mehr als Geld. Bereits als Kind begleitete er seine Eltern, selbst leidenschaftliche Strahler. Mit zehn Jahren kannte er alle Kristallformen und ihre Namen und fand seine eigenen Klüfte. Sobald der Schnee im Juli genügend geschmolzen ist, steigt der inzwischen 35-Jährige an seinen Arbeitsplatz im Furkagebiet hoch und bleibt bis im Herbst jeweils sechs Tage am Stück oben. Abends vor seinem Biwak die Stille der Berge zu geniessen, sei für ihn etwas vom Schönsten. Dann überkomme ihn eine enorme innere Ruhe und Befriedigung. «Dieses Gefühl ist wichtiger als der Stein», sagt er.

Ehrenkodex und Plünderer

Besuch bekommt er von Alpendohlen, Steinböcken oder seinem Bruder Thomas, der ihm häufig hilft. Oder auch mal von anderen Strahlern. So wie jetzt. Dass er kürzlich eine vielversprechende Kluft gefunden hat, hat sich in der Szene rasch herumgesprochen. Einer nach dem anderen steckt den Kopf in die Schatzkammer und gratuliert ihm. «Am liebsten ist mir, wenn alle Strahler eine gute Kluft finden, dann ist es friedlich am Berg», sagt Betschart. Neid und Missgunst machen auch vor der schönsten Bergkulisse nicht halt. Die meisten Strahler halten sich an den Ehrenkodex, die Kluft eines anderen in Ruhe zu lassen. Aber eben nicht alle. Eine Zeit lang plünderten Kristalljäger vor allem aus Italien und Tschechien ganze Klüfte. Hier oben greife der Schutz der Ordnungshüter nicht, da müsse man sich selbst zu helfen wissen; ein Hauch von Wildem Westen und Goldgräberstimmung in den Alpen. Die Kluft, an der Betschart momentan arbeitet, schliesst er abends mit einem Gitter ab.

Das Auge geschult

Reich wird man als Strahler nicht. Die ersten Jahre waren hart. «Ich habe mich von Bouillon ernährt», sagt der gross gewachsene Mann mit den kräftigen Händen, denen man ansieht, dass sie zupacken können. Er wog noch etwas mehr als 60 Kilo. Trotzdem dachte er niemals ans Aufgeben, hat immer weitergemacht, immer besser gelernt, den Fels zu lesen, das Auge zu schulen für vielversprechende Stellen. Inzwischen kann er von den Kristallen leben, sogar eine Familie ernähren. Zusammen mit seiner Frau betreibt er in Andermatt einen Kristallladen. Während er nach den Mineralien schürft, managt sie den Verkauf und schaut zu den zwei gemeinsamen kleinen Kindern. Im Sommer ist die Zeit mit der Familie kurz, dafür hat er umso mehr davon im Winter. Und dank modernen Kommunikationsmitteln kann Betschart auch in den rund vier Monaten, in denen er am Berg ist, am Familienleben teilnehmen. Jeden Morgen, bevor er zu seiner Kluft aufbricht, spricht er per Videoanruf mit seiner Familie, und seine Kinder erzählen ihm, was sie am Tag davor alles erlebt haben. Es sei schön, nicht mehr überlegen zu müssen, wie er die Miete zahle, sagt Betschart. Trotzdem vermisse er die Zeit, als er nichts besass. «Diese Einfachheit, die glücklich macht.»

Zunehmende Gefahren durch Klimawandel

Betschart ist ein Bauarbeiter des Hochgebirges, die Felsvorsprünge sein Baugerüst. Nur ist niemand da, der die Sicherheit am Arbeitsplatz überwacht. «Ich mag es, allein die Verantwortung für mich zu tragen», sagt er. Knochenbrüche, Verstauchungen, Sehnenriss: Jede Saison fordert seinen körperlichen Tribut. In den ersten Jahren hat er auch verletzt weitergemacht. Die Strahlersaison ist kurz, er konnte sich keinen Unterbruch leisten. Inzwischen hat er einen Vorrat an Kristallen in seiner Werkstatt und gönnt sich einen Arzt und ein paar Tage Pause, wenn es nicht anders geht. Am Abend macht er im robust gebauten Biwak aus Lastwagenplanen manchmal Yoga, um seinen schmerzenden Rücken zu entspannen.

Der Beruf als Strahler wird durch den Klimawandel immer gefährlicher. Eis- und Steinschlag haben zugenommen. Etwa die Hälfte der Orte, wo er noch vor zehn Jahren strahlte, hat Betschart aufgegeben. «Kein Kristall ist es wert, dass ich mein Leben aufs Spiel setze», sagt er. Jeden Abend, wenn er zurück beim Biwak ist, meldet er sich bei seiner Frau, damit sie weiss, dass alles gut ist.

Ein magischer Moment

«Das Risiko lässt sich minimieren, aber nicht ausschalten», sagt Betschart und hievt einen etwa 40 Kilogramm schweren Gesteinsbrocken aus der Kluft. Darauf funkelt es verführerisch. Das Lächeln kehrt auf sein Gesicht zurück. «Ist der nicht schön?» Dieser Moment bleibe magisch, auch nach so vielen Jahren, wenn der Kristall nach Jahrmillionen in der Dunkelheit das erste Mal im Tageslicht glitzere. Es ist ruhig, niemand sagt ein Wort. Und dann: «Wenn der Tag kommt, an dem ich als Erstes überlege, was der Kristall wert ist, den ich aus der Kluft hole, dann ist es Zeit aufzuhören», sagt Betschart. Davon ist er weit entfernt.

Autor / Autorin

Sibyl Heissenbüttel

Die Regeln

Beim Strahlen gibt es klare Regeln, sie werden von den jeweiligen Landeigentümern aufgestellt. Im Urserental ist dies die Korporation Ursern. Der Mindestabstand zur nächsten Kluft muss acht Meter betragen, Strahlen darf nur, wer ein Patent besitzt, jede angeschriebene Kluft ist zwei Jahre reserviert, maximal zwei Klüfte gleichzeitig, jeder Fund, der mehr als 1000 Franken wert ist, muss der Korporation Ursern gemeldet werden, die dann den «Zehntel» einfordert.

Feedback