Der schneeärmste Winter | Schweizer Alpen-Club SAC
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Der schneeärmste Winter Kryosphärenbericht 2023

Der schneeärmste Winter seit Messbeginn leitet ein weiteres Extremjahr für die Kryosphäre ein. Zwischen Oktober 2022 und September 2023 war es sogar die wärmste 12-Monatsperiode überhaupt. Die Schweizer Gletscher haben weitere 4% ihres Volumens eingebüsst, und im Permafrost wurde es trotz der fehlenden Schneedecke an vielen Stellen wärmer.

Witterung und Schnee

Der Winter 2022/23 war beidseits der Alpen durch grosse Niederschlagsarmut und überdurchschnittliche Temperaturen zwischen November und Februar gekennzeichnet. Dies verursachte stark unterdurchschnittliche Schneehöhen an allen Stationen. Gemäss der mittleren Schneehöhe zwischen November und April oberhalb von 1000 Metern erlebte die Schweiz klar den schneeärmsten Winter seit mindestens 1961/62 (siehe Grafik). In der ersten Februarhälfte waren die gemessenen Schneehöhen meistens noch etwas höher als in den bekannten schneearmen Frühwintern 1964, 1990 oder 2007.

Vor allem die Periode von Ende Februar bis Anfang März 2023 war aber rekord-schneearm und die Schneehöhe betrug nur rund ein Drittel der normalen Werte. So lagen zum Beispiel auf 1500 Metern etwa 20 cm statt der üblichen 75 cm Schnee. Auch oberhalb 2000 Metern zeigte mehr als die Hälfte der automatischen Stationen mit mindestens 25-jährigen Messreihen neue Rekordminima. Sogar die über 80-jährige Reihe vom Weissfluhjoch (GR, 2540 m) zeigte anfangs März kurzzeitig rekordtiefe Schneehöhen von nur rund 1 m gegenüber den üblichen 2 m. Noch niederschlagsärmere Winter hat es dort aber in der Vergangenheit schon gegeben, zum Beispiel 1964. Die durch den Klimawandel bedingten höheren Temperaturen führen jedoch dazu, dass erstens ein Teil der Niederschläge als Regen statt Schnee fällt, und zweitens ein Teil des Schnees wieder wegschmilzt.

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Sogar die über 80-jährige Reihe vom Weissfluhjoch (GR, 2540 m) zeigte anfangs März kurzzeitig rekordtiefe Schneehöhen von nur rund 1 m gegenüber den üblichen 2 m.

Im Frühling erlebten die hohen Lagen aufgrund von Schneefällen kurzfristig fast normale Verhältnisse. Aber der trockene und sehr warme Juni führte dazu, dass der Schnee unterhalb von 2200 Metern 2 bis 4 Wochen früher schmolz als üblich. Der fünftwärmste Sommer seit Messbeginn und eine teils rekordhohe Nullgradgrenze von fast 5200 Meter im August und September waren verantwortlich, dass vereinzelte Sommerschneefälle meist wieder rasch dahinschmolzen und daher den Gletschern kaum halfen.

Gletscher

Für die Gletscher folgt ein Extremjahr auf das andere: verloren die Schweizer Gletscher 2022 6% an Volumen, so waren es 2023 4% – und damit der zweitstärkste Rückgang seit Messbeginn. Die Beschleunigung der Gletscherschmelze ist dramatisch: In nur zwei Jahren ging so viel Eis verloren wie in den 30 Jahren zwischen 1960 und 1990.

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Im südlichen Wallis und Engadin wurde auf 3200 Metern – also einer Höhe, in der Gletscher bis vor kurzem noch im Gleichgewicht waren – eine Eisschmelze von mehreren Metern gemessen.

Die massive Schmelze ist auf die Kombination des schneearmen Winters und den hohen Sommertemperaturen zurückzuführen und betraf die ganze Schweiz. Im Süden und Osten schmolzen die Gletscher fast gleich stark wie im Rekordjahr 2022. Im südlichen Wallis und Engadin wurde auf 3200 Metern – also einer Höhe, in der Gletscher bis vor kurzem noch im Gleichgewicht waren – eine Eisschmelze von mehreren Metern gemessen. Der mittlere Eisdickenverlust beträgt da 3 Meter und mehr, zum Beispiel am Griesgletscher (VS), am Ghiacciaio del Basòdino (TI) oder am Vadret Pers (GR), und liegt deutlich über den Werten des Hitzesommers 2003 (siehe Grafik). Etwas weniger dramatisch war die Situation zwischen Berner Oberland und Wallis, zum Beispiel am Grossen Aletschgletscher (VS) oder am am Glacier de la Plaine Morte (BE), da dort im Winter nicht ganz so wenig Schnee gelegen hatte.

Die Messungen an den Gletscherzungen zeigten ebenfalls fast ausnahmslos einen weiteren Rückgang. Einzig bei einigen kleinen, meist stark schuttbedeckten Gletschern wie dem Grand Plan Névé (VD), dem Ammertengletscher (BE) oder dem Sulzfirn (GL) fallen die Veränderungen gering aus. Umgekehrt trennte sich an mehreren Gletschern ein grösserer Teil ab, zum Beispiel am Vadret Calderas (GR) oder am Paradiesgletscher (GR), womit sich das Ende der zusammenhängenden Eismasse schlagartig um mehrere hundert Meter verlagerte. Eine solche ausserordentliche Entwicklung konnte in den vergangenen Jahren mehrfach beobachtet werden und zeichnet sich jeweils bereits vorher ab. Im Gegensatz zur Winterschneemenge und der Eisschmelze, widerspiegeln die Messungen am Zungenende nicht die Witterung im aktuellen Jahr, sondern die langfristige Entwicklung. So führt der ausbleibende Eisnachschub aus dem Nährgebiet dazu, dass sich der Gletscher über mehrere Jahre kontinuierlich ausdünnt, sich das Gletscherende aber nur wenig zurückzieht. Schliesslich trennt sich die Eismasse meist in einem steilen oder engen Abschnitt komplett ab. Ein weiteres klares Anzeichen des voranschreitenden Zerfalls ist das Ausapern von neuen Felsinseln im Gletschereis. Dies konnte im Sommer 2023 wieder fast überall beobachtet werden.

Permafrost

Je nach Zeitpunkt des Einschneiens im Herbst und Ausaperns im Frühling haben die Schneeverhältnisse einen wärmenden oder kühlenden Einfluss auf den Permafrost, da die Schneedecke den Untergrund von den Bedingungen in der Atmosphäre isoliert. Fällt der Schnee wie Ende des Jahres 2022 sehr spät, kühlt der Untergrund aufgrund der sinkenden Lufttemperaturen aus. Ist der Boden wie im Frühsommer 2022 oder 2023 früh ausgeapert, führt dies dagegen zu wärmeren Verhältnissen. Dies zeigt sich auch bei den Temperaturen an der Bodenoberfläche in den Permafrostgebieten im letzten Jahr: Nach den rekordhohen Werten im Jahr 2022 sind die Oberflächentemperaturen im Winter 2022/23 an den meisten Standorten gesunken. Dies wurde jedoch über den heissen Sommer teilweise kompensiert und die Oberflächentemperaturen blieben auf hohem Niveau (siehe Grafik).

Entsprechend war die Auftauschicht – die oberste Schicht über dem Permafrost, die jeweils im Sommer auftaut – im Jahr 2023 wie bereits im Vorjahr sehr mächtig, oft mit neuen Rekordwerten (z.B. Les Attelas (VS), 4,9 m gegenüber 4,7 m im Vorjahr) oder egalisierten Rekordwerten (z.B. Stockhorn (VS), mit 5,2 m oder Lapires (VS) mit 6,7 m). An einigen Standorten kann die Auftauschicht für 2023 nicht bestimmt werden, da das Maximum erst nach der Erhebung der Daten erreicht wurde, die Auftauschicht bereits tiefer reicht als das Bohrloch, oder sie im Winter gar nicht mehr durchfriert. Letzteres bezeichnet man als Talik und ist ein typisches Phänomen für degradierenden Permafrost, das zum Beispiel bei einem der Bohrlöcher am Schilthorn (BE) beobachtet werden kann.

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An einigen Standorten kann die Auftauschicht für 2023 nicht bestimmt werden, da das Maximum erst nach der Erhebung der Daten erreicht wurde, die Auftauschicht bereits tiefer reicht als das Bohrloch, oder sie im Winter gar nicht mehr durchfriert.

In der Tiefe – im eigentlichen Permafrost – reagieren die Temperaturen zunehmend verzögert und auf mehrjährige Änderungen an der Oberfläche. In 10 m Tiefe haben die Temperaturen im Vergleich zum Vorjahr wenig zugenommen als Reaktion auf den heissen Sommer 2022. In Blockgletschern mit sehr grobblockiger Oberfläche wie zum Beispiel Murtèl-Corvatsch (GR) oder Ritigraben (VS), die besonders deutlich auf die Schneearmut reagieren, hat die Temperatur in 10 m im Jahr 2023 sogar leicht abgenommen (siehe Grafik).

Die Blockgletscher haben sich im Jahr 2023 im schweizweiten Durchschnitt nur wenig schneller als im Vorjahr bewegt. Während sie in den westlichen Regionen etwas schneller wurden, sind die Blockgletschergeschwindigkeiten in den südlichen und östlichen Regionen der Schweiz leicht gesunken. Dieses regionale Muster lässt sich mit der ausgeprägteren Schneearmut und damit kühleren Verhältnissen im Untergrund im Süden und Osten erklären.

Kryosphärenmessnetze Schweiz

Die Beobachtung der Kryosphäre umfasst Schnee, Gletscher und Permafrost. Die Kommission für Kryosphärenbeobachtung koordiniert die Beobachtungen und die Messnetze. Die Schnee-, Gletscher- und Permafrostmessungen werden von verschiedenen Bundesämtern, kantonalen Forstämtern, Forschungsinstitutionen des ETH Bereichs und den Universitäten und Hochschulen getragen. Sie beinhalten rund 150 Schneemessstationen (www.slf.ch, www.meteoschweiz.admin.ch). Messungen an etwa 120 Gletschern werden im Rahmen des Schweizer Gletschermessnetzes (GLAMOS) durchgeführt (www.glamos.ch). Das Schweizer Permafrostmessnetz (PERMOS) umfasst rund 30 Standorte mit Messungen von Permafrosttemperatur-, Geoelektrik- und/oder Blockgletschergeschwindigkeit (www.permos.ch).

Autor / Autorin

Matthias Huss, Christoph Marty, Andreas Bauder, Jeannette Nötzli, Cécile Pellet

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