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1. Eine Wanderung durch Biasca

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Wer in Biasca dem Zuge entsteigt mit der Erwartung, eines jener originellen Dörfer zu betreten, an denen der Kanton Tessin so reich ist, der sieht sich angesichts der Umgebung des Bahnhofes enttäuscht. Diese Gegend kann niemand Freude machen. Das nächste, das man sieht, sind Dienstgebäude der Bahnverwaltung, die nach Normalplänen entstanden sind, Häuser, darunter viele solche, die mit den zahlreichen Wirtschaften dazu dem Ganzen das Aussehen eines italienischen Vorstadtviertels verschaffen, dann rauchgeschwärzte Schuppen, Geleiseanlagen und Eisenbahnwaggons. Wer auf einer Ferienreise hier ausgestiegen ist, wird machen, dass er weiter kommt. Doch das ist nicht das eigentliche Biasca, dieses liegt noch einige Minuten nordwärts.

Topfeben breitet sich der Talgrund aus. Um so gewaltiger wirken die Berge, die jäh und unvermittelt ansteigen. Gleich gegenüber dem Bahnhof hebt der Fuss des Monte di Biasca an, senkrechte, braune Felsen, über die ein munterer Wasserfall hoch herabschiesst. Meist sind es zwei Wasserstrahlen, die sich im Sturze spielend kreuzen, wie bei einer Kunstfontäne. Der Bach ist die Froda lunga, die hoch oben einem einsamen Seelein entspringt und durch den schattigen Riss, der die himmelhohen Felsen vor uns durchfurcht, ihren Weg nimmt. In unzähligen Stürzen, von hier aus meist nicht sichtbar, nimmt der Bach seinen jähen Weg, bis er sich zum letzten Sprung anschickt. Eine jener originellen, kühnen Steinbrücken, die man im Tessin da und dort bewundern kann, spannt sich ob dem Wasserfall über den Bach. Daneben leuchtet aus dem Grün der Kastanienbäume das weisse Gemäuer einer Kapelle, zu der vom Dorfe her über diese Brücke ein Kreuzweg hinaufführt. Es ist die Capeila della Santa Petronilla.

Hier in der Gegend des Pedemonte ( d.h. am Fusse des Berges ), wo sich heute der moderne Verkehr abwickelt, Lokomotiven pfeifen und Wagen rasseln, sah es in frühern Zeiten anders aus. Ein stiller, weltverlorener Winkel war Pedemonte zwar auch damals nicht, denn durch seine Wiesen zog sich wie heute die Strasse nach Bellinzona hinab, und in den Felsen widerhallten das Geklingel der Maultiere und die Rufe der Säumer. Denn damals schon floss der Verkehr der Alpenpässe Gotthard und Lukmanier durch Biasca, und zwar fühlbarer als heute, wo viele Züge vorbeisausen oder sich der Aufenthalt der Reisenden nur auf einige Minuten Wartezeit im Zuge beschränkt. Nicht nur der Verkehr allein belebte die Gegend von Pedemonte, sondern auch die alljährlich dort stattfindenden Gerichtstage. Das war in alten, weit zurückliegenden Zeiten, als die Innerschweizer auf der Südseite des Gotthard noch nicht Fuss gefasst hatten.

Biasca erfreute sich damals grosser Freiheiten, und es wäre irrig, zu glauben, erst die Eidgenossen hätten ihm diese gebracht. Im Gegenteil, sie brachten dem Lande eine Fremdherrschaft, die wahrscheinlich als solche vom Volke schwerer empfunden wurde als die Regierung der mailändischen Herzoge, unter denen doch Biasca sich freiheitlich weniger günstig gestellt hatte als vorher unter dem Domkapitel von Mailand ( siehe Kapitel 2 ).

Kehren wir zur Gegenwart zurück. Die Bahnhofanlage Biasca wurde 1874 dem Betriebe übergeben. Sie gehörte damals zu den tessinischen Talbahnen, die später ein Teilstück der 1880 eröffneten Gotthardbahn wurden. Am Beginn der Südrampe des Schienenweges über den Gotthard gelegen, fiel Biasca in technischer Hinsicht eine ziemliche Bedeutung zu. Hier fand wie in Erstfeld, Lokomotiv-wechsel statt; die schweren Berglokomotiven wurden hier vorgespannt. Daran hat nun die sich stets verbessernde Technik allerlei verändert, und die Bedeutung Biascas als Bahnhofanlage ist gesunken und hat durch die Einführung des elektrischen Betriebes noch mehr eingebüsst. Aber immer noch ist die Zahl der Eisen-bahnangestellten eine ganz beträchtliche.

Früher, zu den Zeiten der Gotthardbahn, war darunter das deutschschweizerische Element stark vertreten. Das führte dazu, dass die fürsorgliche Bahngesellschaft für die Kinder der deutschschweizerischen Angestellten eine deutsche Schule errichten Hess, die heute noch besteht. Auch die Entstehung einer protestantischen Kirche geht auf die deutschschweizerische Kolonie zurück. Dieses Gotteshaus liegt am Wege zum Flecken. Man kann von ihm heute schon sagen, dass es nie zu den beachtenswerten Baudenkmälern des Tessins gezählt werden wird. Der nüchterne Sinn des Protestantismus kommt an ihm zu aufdringlich zum Ausdruck.

Der Verkehr des Bahnhofes Biasca stand 1912 unter den tessinischen Stationen der schweizerischen Bundesbahnen an dritter Stelle. Heute ist er stark zurückgegangen. Ausgeführt wird in der Hauptsache Granit aus den umliegenden Steinbrüchen und Holz.

Der Flecken « il borgo » zählt 3350 Einwohner 1 ), davon sind etwa 1800 Ortsbürger und über 800 Italiener. Die hohe Zahl der letztern ist für den Tessin eine so bedenkliche Sache wie für die deutschschweizerischen Grenzkantone der Überfluss an Reichsdeutschen. Es lebten vor Kriegsausbruch ( 1914 ) etwa 40,000 Italiener im Tessin, und als 1915 Italien in den Krieg trat, sollen sich aus dem Kanton Tessin 2700 Mann unter die bandiera tricolore gestellt haben. So stark ist vielleicht nicht einmal das Tessiner Regiment. Der Tessiner sucht sein Brot auswärts, und in der Lücke, die er lässt, machen sich zwei Italiener und ein Deutscher breit2 ). Es ist eine beklagenswerte Sache, dass es die obersten Behörden nicht verstanden haben, die Auswanderung der Tessiner zu dämpfen, indem sie ihm seine Heimat begehrenswerter gestalteten. Ich muss das hier aussprechen, wenn es auch nicht unbedingt in eine solche Monographie hinein gehört. Der Leser wird dann die Stimmung der Tessiner Intellektuellen eher verstehen. Der Italiener hat sich hier begreiflicherweise besser angepasst als der Deutschschweizer. Dieser hatte den Hang, sich abzusondern, und da fast alle im Dienste der Gotthardbahn standen, so schlössen sie sich um so leichter zusammen. So blieben sie deutsch bis auf die Knochen und betrachteten Land und Leute durch die deutsche Brille. Da sie derart nur Ungünstiges sahen, fühlten sie sich als Angehörige einer überlegenen Rasse. Wie oft habe ich in meinen Jugendjahren hierüber gestaunt. Aber der grosse Haufen dachte einmal so und zeigte kein Verständnis für die Eigenart des Tessiner Volkes. War das allein schon schmerzlich, so wirkte anderseits noch die Die Hinweise *),usw. beziehen sich auf den Kommentar, der erst im nächsten Band des Jahrbuches S.A.C. erscheinen wird.

robuste Arbeitskraft und die derbe, nüchterne und peinliche Pflichtauffassung des Deutschschweizers abstossend auf den Tessiner, das war es und nicht die Sprache, welche das gegenseitige Verstehen verhinderte. Der Ausbruch des Weltkrieges brachte es mit sich, dass eine grosse Zahl deutschschweizerischer Truppen in den Tessin kam und dass das Interesse für diesen Kanton viel grosser wurde als früher. Wie war man da überrascht ob der herzlichen Aufnahme, welche der deutschschweizerische Soldat im Tessin fand. Eine Erscheinung, die einem Kenner des Tessiner Volkes selbstverständlich vorkam, denn Gastfreundschaft und Herzlichkeit im Verkehr liegen dem Tessiner im Blute.

Der Verkehr ist durch die in Biasca einmündende elektrische Bleniotalbahn ( Ferrovia Elettrica Biasca-Acquarossa ), die 1910 eröffnet wurde, nicht bemerkenswert gestiegen. Diese für touristische Unternehmungen höchst willkommene Linie dient in der Hauptsache dem Verkehr der Talgemeinden unter sich.

Wenden wir uns dem nahen Flecken zu. Seine Nähe verkünden die breiten, granitenen Wagengeleise und das altersgraue Gemäuer einer Kirche, das zur Rechten am Berghang über die Kastanienbäume hinweg sichtbar wird. Diese Wagengeleise, die ( ( lastroni », sind eine Eigentümlichkeit tessinischer Gassen, die uns zwar allerdings schon in Altdorf drüben entgegentritt.

Ein Gang durch den Flecken bietet bei oberflächlicher Betrachtung recht wenig Beachtenswertes. Man sieht viel Wirtschaften und, was einem hier besonders auffällt, stattliche Metzgerläden. Da hängen die allerschönsten Salami und Mortadella in schwerer Menge. Und im Herbst sieht man alltäglich frischgeschossene Gemsen in der Auslage. Wer aber mit offenen Augen durch die Gassen streift, auch die Gässlein und Winkel nicht meidet, mit den Leuten plaudert und etwa in alten Büchern grübelt, der findet dann auch in Biasca gar vielerlei, woran sich Erinnerungen knüpfen, die es verdienen, erhalten zu bleiben.

Bald weitet sich die Gasse zu einem kleinen Platze. Ein altes Haus mit schweren Loggien steht da zur Linken. Sie sind selten geworden hier herum, die Häuser dieses Schlages, und auch dieses da hat an die Neuzeit Konzessionen machen müssen, denn « Al buon mercato » prangt es gross auf seiner Fassade. Widerwillig scheinen die Mauern diese merkantilen Worte zu tragen, entstammen sie doch einer Zeit, wo « buon mercato » noch nicht für alles galt wie heute.

Im Hause zur Rechten amtet im Untergeschosse die Post. Ein eigenes Postgebäude hat also Biasca nicht, und es wird den Mangel eines solchen palazzo federale zu ertragen wissen. Übrigens ist heute die Post für Biasca nicht mehr von so grosser Bedeutung wie früher, als noch die gelbe « diligenza » unter Peitschenknall durch seine Gassen rollte.

Neben der Post, man sieht noch die Türschwelle, stand früher das Oratorio di San Rocco, eine dem Pestheiligen Sankt Rochus geweihte Kapelle. Ich erwähne sie wegen der Ursache ihrer Entstehung 3 ) und auch darum, weil sie ein beachtenswerter, spätgotischer Schnitzaltar deutscher Herkunft schmückte, der wahrscheinlich aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts stammt. Die Kapelle wurde in den 50er Jahren abgetragen. Der Schnitzaltar ging, nachdem er in der Casa comunale ein vorübergehendes Heim gefunden hatte, 1885 käuflich in den Besitz der Antiquarischen Gesellschaft Zürich über und steht heute im Schweizerischen Landesmuseum.

Neben dem « buon mercato » biegt ein Gässchen ab, Via Sulgone geheissen, dem es sich lohnt, einige Schritte zu folgen. Man steht dann vor einem alten, typischen Tessiner Landhaus von anmutiger Originalität. Den Torbogen schmückt ein stark verwitterter Wappenschild, und an der Giebelfront, hoch oben, sind Worte eines lateinischen Spruches übriggeblieben:

OVID MIRAN QUALIA VIDENS SENESMISERANDA Vielleicht kennt ein Lateiner den fehlenden Rest. Leserlicher steht darunter:

DVC PELLANDA ANNO DOMINI MCCLXXV Also einst ein Sitz eines Angehörigen der Familie Pellanda, auf die ich noch an anderer Stelle zurückkommen werde. Wenn auch einfach und dazu heute baufällig, ist dieses Haus, von der Strasse oder vom Hofe her betrachtet, interessant. Im Innern ist nichts mehr zu sehen. Ausser einem schmucklosen, mächtigen Kamin, der die Jahreszahl 1587 trägt, hat sich von der ursprünglichen Einrichtung gar nichts mehr erhalten.

Vom schon erwähnten kleinen Platze, auf den die Via Sulgone ausmündet, führt bergwärts ein Gässchen ins « kirchliche Viertel » hinauf, wie mir ein Biaskese jene Gegend zutreffend bezeichnete. Zwei Kirchen thronen da am Hang, eine alte und eine neue. Ich werde später noch auf sie zurückkommen, denn das Kirchliche greift tief in die Geschichte Biascas hinein. Vorläufig folgen wir der Hauptgasse weiter. Bald öffnet sich zur Rechten ein Torbogen. Im Hofraum dahinter liegen eng aneinander geschachtelt bescheidene Behausungen. Einige Spuren und der Torbogen selbst lassen vermuten, dass zu den Zeiten, an welche die Jahreszahl ( 1675 ) über letzterem erinnert, hier einst Leute ein- und ausgegangen sind, die mit grössern Glücksgütern gesegnet waren als die heutigen Bewohner.

Noch einige Schritte auf der Hauptgasse, und wir stehen wieder auf einem Platze. Links zweigt die Via San Gottardo ab; die Hauptgasse, der wir weiter folgen, heisst Via Lucomagno. Rechts entdeckt man zwei Seitengässchen, und wo das eine derselben beginnt, ist schon wieder so ein typischer alter Tessiner Torbogen. Das Haus, an das er sich anlehnt, die heutige Macelleria Pedrazzini, war einst, vor vielen Jahren, die Bildungsstätte Biascas. Diese Schule, « scuola del canonico-maestro » genannt, entsprang privater Initiative. Denn um das Schulwesen ihrer Untertanen bemühten sich die regierenden Kantone nicht. Lag doch dieses bei ihnen selbst sehr im argen. Die Schule wurde 1612 vom Ritter Giovanni Battista Pellanda gegründet. Im Jahre 1766 fand sie einen Gönner am « Luogotenente » Carlo Giuseppe Tatti und später an Carlo Rivera. Die Schule bestand bis 1835, also mehr als zwei Jahrhunderte, und war während dieser Zeit die einzige in Biasca. Ihre Leitung lag, wie schon aus ihrem Namen hervorgeht, in den Händen der Geistlichkeit. Gelegenheit zur Erwerbung weiterer Schulbildung bot sich aber noch in Pollegio.

Treten wir durch den Torbogen ein, den das typische Dächlein aus Gneisplatten überschattet. Wir stehen im Hofe eines Hauses, dessen einfache, kräftige Formen und weitausladendes Dach an ein Patrizierhaus der deutschen Schweiz erinnern. Die Casa Pellanda, die Einheimischen nennen sie « palazzo », stammt aus derselben Zeit wie das vorerwähnte Landhaus. Aber es ist grosser und stattlicher und durfte sich als Sitz des weit herum angesehensten und reichsten Pellanda wohl sehen lassen. Mit ihm konnten sich die Häuser des Propstes und Landvogtes, ja, überhaupt talauf, talab, bis Malvaglia hinauf kein Privathaus messen.

Durch einen weiten Hausgang mit Tonnengewölbe tritt man ein. Eine breite Treppe führt ins erste Stockwerk und eine andere in den mächtigen, gewölbten Keller. An der Gangdecke sind eigenartige, dreizackige Haken eingelassen, von denen niemand mehr weiss, wozu sie dienten. Durch den Gang tritt man auf ein Gässchen hinaus, das sich vor dem Hause weitet. Dorthin wendet sich die Hauptfassade, und über dem Eingang thront da, hübsch in Stein gehauen, das Wappen des Erbauers und eine Inschrift. Seit vielen Jahren schon dient die Casa Pellanda als Miethaus, aber sie schaut heute noch trotz ihrer 350 Jahre hablich und stattlich in die Welt, nur an der Hofseite ist die Bemalung verblichen.

Typisch für das den Überschwemmungen früher oft ausgesetzte Biasca sind die Einrichtungen beim Portal und vor den Kellerlucken, um das Eindringen des Wassers zu verhindern.

Der ernste, schwere Bau passt so recht in die durch die gewaltige Wucht der Berge ebenso gestimmte Umgebung hinein. Im Erdgeschoss hat sich eine Weinstube aufgetan, wo sich bei einem ausgezeichneten Tropfen so gut über die entschwundenen Zeiten plaudern lässt. Aber man nimmt es bei der angeborenen Freundlichkeit des Tessiners dem Fremden auch nicht übel, wenn er sich das Hausinnere näher ansieht. Treppengeländer, Decken und Türen verraten noch an mancher Stelle den einst stattlichen Ausbau. Recht hübsch, wenn auch einfach, sind die vom Alter dunkel gebräunten Decken. Ein grosses Bild im Gange des zweiten Stockwerkes ist so düster und dunkel geworden, dass seine Deutung wohl ebenso schwierig geworden ist wie bei dem Gemälde eines modernen Meisters. Ein Zimmer der Casa Pellanda schmückt heute unser Landesmuseum in Zürich. Leider fehlt der zugehörige Ofen, der nach Mitteilung des verstorbenen Sig. Ispettore Rossetti ein Prachtstück gewesen sein soll und durch Juden ins Ausland verschachert wurde. Ich sehe es nicht gern, wenn der Schmuck von Kirche und Haus in die Museen wandert, ich sähe ihn am liebsten dort, wo er hingehört. Aber wenn ich an das Schicksal dieses Ofens denke, so bin ich froh, dass wenigstens der Rest des Prunkzimmers heute in sicherer und wenigstens in schweizerischer Obhut steht. Im zweiten Stockwerk zeigt man die « camera del santo », worin einst der später heilig gesprochene Kardinal Carlo Borromeo übernachtet haben soll. Das beruht nun auf einer Verwechslung. Die Casa Pellanda ist 1586, also nach dem Tode San Carlos ( 1584 ), erbaut worden und kann denselben also nicht beherbergt haben. Dagegen ist der Neffe und Nachfolger San Carlos, der Kardinal Federico Borromeo, einst bei dem Cavaliere Pellanda abgestiegen ( 30. August 1602 ), weil das Propsthaus für den hohen geistlichen Herrn zu unansehnlich gewesen sein soll. Die « camera del santo » hat durch die Veränderung des Hauses ihre ursprüngliche Grosse und ihre frühere Ausstattung eingebüsst.

Neben dem gepflasterten Hof, in den wir durch den Torbogen eingetreten sind, befindet sich der heute nur noch zum Teil erhaltene Hausgarten, den eine schmucke, einer Ringmauer ähnliche Umfassungsmauer abgrenzte. Auch diese ist zum Teil verschwunden.

In der Gegend der beiden beschriebenen Plätze und des « kirchlichen Viertels », an der Stelle, wo sich Lukmanier- und Gotthardstrasse treffen, lag das alte, offizielle Biasca. Die davon erhaltenen Überbleibsel sind gering und reichen mit Ausnahme der Stiftskirche nicht weit zurück. So finden wir denn nach dem Verlassen des Platzes, an welchem die alte Schule stand, nichts mehr an der Hauptstrasse, das von geschichtlichem Interesse wäre.

Dort, wo die Gasse sich abermals weitet, fällt einem zur Linken ein kleines Holzhaus von urschweizerischer Bauart auf. Rings umgeben von steinernen Nachbarn, nimmt sich dieses, scheinbar aus den Bergen ins Tal verpflanzte Häuschen wie ein Fremdling aus mit seinen von der Sonne braun gebeizten Wänden. Drüben, im Gewirr des Bauernviertels, ist noch ein zweites derartiges Häuschen versteckt, und das werden wohl in ihrer Art die südlichsten Holzbauten sein, welche im Talgrunde des Tessin vorkommen. Auch werden sie zu den ältesten Häusern Biascas gehören, die früher viel, man sagte mir sogar meist aus Holz gebaut wurden. ( Vielleicht waren es « Touvri », siehe Kapitel 8. ) Es sind nun 30 Jahre her, seit ich erstmals an dieses braune Häuschen hinauf schaute, als ich als junger Bursche der Val Pontirone zuschritt. Es kam mir damals wie heute noch als ein Gruss aus der Heimat vor, wenn ich wieder vorbeiwanderte.

Neben dem kleinen Holzhause erhebt sich, dieses nicht nur an Grosse, sondern auch an Bestimmung und dem Namen nach überragend, das « Pretorio », das Amtsgebäude des Circondario della Riviera. Die Osognesi werden es nicht gerne gesehen haben, als dieses Haus hier entstand, denn Osogna ist der eigentliche Hauptort der Riviera. Diesen Vorzug hat es sich aus den Zeiten der Landvögte bewahrt, aber ursprünglich war Biasca Hauptort, und nur der Bergsturz mit seinen Begleiterscheinungen hat die Landvögte veranlasst, in Osogna unten den Sitz zu nehmen, und als sie einmal dort unten sich eingehaust hatten, kamen sie nicht mehr fort. Es werden zwar kaum historische Erwägungen gewesen sein, welche vor etwa einem Jahrzehnt dazu führten, die Amtsgeschäfte des Circondario nach Biasca zu verlegen, sondern eher der Umstand, dass eben Biasca vermöge seiner Lage und Grosse als geeigneter erschien.

Im Pretorio residiert als eigentlicher Statthalter der Regierung der « Commissario », dem der Gendarmerieposten untersteht, dann der « Pretore », ferner der Schulinspektor des 8. Bezirkes, der Friedensrichter, der zur Wahrung der Tradition während gewissen Zeiten auch noch in Osogna unten amten muss. Auch das Betreibungsamt hat im Pretorio seinen Sitz.

Dem Pretorio gegenüber liegt die Casa comunale, in deren Räumen nicht nur die Gemeindeverwaltung, sondern auch die Schulen untergebracht sind. Bezeichnend für die Veränderungen, die sich in der Zusammensetzung der Einwohnerschaft Biascas vollzogen haben, ist, dass aus der ehemaligen Casa patriziale eine Casa comunale geworden ist und dass sich das Uffizio patriziale schliesslich auswärts ein Obdach suchen musste. So wie in der Schweiz im allgemeinen, sind auch hier die Zeiten vorbei, wo die meisten Einwohner zugleich noch Nutzniesser des Gemeindebesitzes waren.

Überrascht ist man, wenn man aus der Ferne oder von der Bergseite her entdeckt, dass zur Casa comunale ein Glockenturm gehört, den man von der Via Lucomagno aus nicht beachtet. Beim nähern Zusehen entdeckt man weiter, dass dieser Glockenturm neben einem Gebäude steht, das an die Casa comunale angebaut ist und das der Bauart nach zu schliessen einst kirchlichen Zwecken diente.

So ist es auch tatsächlich; jener Raum, der heute « Palestra Ginnastica » ( Turnhalle ) heisst und ist, war früher eine Kapelle; die Kapelle entstand, als das Oratorio di San Rocco ( siehe oben S. 63 ) abgerissen wurde. Sie empfing daher auch als Ausschmückung dessen schönen Schnitzaltar. Diese Gemeindehauskapelle führte ein ziemlich vergessenes Dasein. Die Herren Gemeinderäte verpassten die günstige Gelegenheit meistens, sich hier vor den Sitzungen noch schnell zur Läuterung ihrer Gedanken einer Andacht hinzugeben. So wurde die Kapelle allmählich profanen Zwecken dienstbar gemacht, und schliesslich ward sie Turnhalle, der Schnitzaltar aber wanderte vorher noch glücklicherweise in ein Museum.

Die Schulen in der Casa comunale umfassen 8 Klassen, in denen 610 Kinder unterrichtet werden. Daneben gibt es in Biasca, wie schon erwähnt, noch eine deutsche Privatschule mit 35 Kindern und 6—7 Schulklassen.

Oben an dem schmalen, länglichen Platze, an dem das Pretorio und die Casa comunale stehen, beobachtet man zur Linken ein kleines, buntbemaltes Häuschen, das die Jahrzahl 1702 trägt. Bevor es der scheussliche Anstrich entstellte, glich es auch äusserlich jenen vielen typischen Behausungen, welche der Bauer hier im Tale bewohnt. Seine Insassen waren auch wirkliche Biaskeser Bauern, wenn man es den Nachkommen heute auch nicht mehr ansieht. Ein solcher Nachkomme ist der italienische Senator Lazzari, ein angesehener Schriftsteller und Politiker, der, stolz auf sein bescheidenes Herkommen, sein Bürgerrecht in Biasca nie aufgegeben hat. Dieser Senator Lazzari ist ein Abkömmling des Giuseppe Lazzari ( geb. 1759 ), der insofern früher schon eine wichtige Persönlichkeit in Neapel war, als er dort als « capo della cucina » für das leibliche Wohl König Ferdinands IV. von Bourbon sorgte.Vom Koch zum Senator ist ein weiter Schritt, besonders für einen Landesfremden, und dass dazu der Senator seiner Heimat und seinen Vorfahren eine solche Anhänglichkeit beweist, gereicht ihm zur besondern Ehre.

Biasca kann nicht, wie so manche Tessiner Ortschaft, eine Reihe berühmter Bürger aufzählen. Kein Biaskese figuriert im tessinischen Künstlerlexikon Oldellis, der doch so manchen anführt, der sich als Maler, Architekt oder Ingenieur einen grossen Namen gemacht hat. Vielleicht hätte er jenen Gabriele Ghiringhelli nennen dürfen, der 1487 unter Ludovico il Moro die Torrettabrücke ( bei Bellinzona ) über den Tessin baute, welche 1515 beim Durchbruch des Brenno zerstört wurde. Die Familie Ghiringhelli, die ursprünglich aus der Lombardei stammt, trat im Tessin zuerst in Biasca auf ( 1394 ). Später erwarb sie sich das Bürgerrecht von Bellinzona, wo sie heute noch blüht. Wenn die von Architekt Ghiringhelli erbaute Torrettabrücke, neben der Murata, welche jetzt noch den mailändischen Festungs-ingenieuren ein treffendes Zeugnis ausstellt, als « superbo nuovo ponte del Ticino » erwähnt wird, so darf man annehmen, dass es sich um ein recht ansehnliches Bauwerk handelte. Es vergingen denn auch volle drei Jahrhunderte, bis es wieder ersetzt wurde.

Einige Schritte neben der Casa Lazzari liest man an einem Hause die Aufschrift « Uffizio patriziale », was bei uns Burgergutsverwaltung bedeutet, denn « Patrizio », und sei er nur ein einfacher Bauersmann, nennt man im Tessin jeden nutzniessenden Bürger, und das Burgergut heisst Patriziato. Dass wir dem Worte bei uns einen vornehmen Anstrich gegeben haben, ist unsere Sache. In des Wortes wahrer Bedeutung darf sich aber der Tessiner Burger ruhig « Patrizio » nennen. Es braucht dazu keine nobeln Allüren. Ein einfacher, schlichter Mann waltet im Uffizio patriziale als Bureauchef, Sekretär und Kanzlist in einer Person. Ich verdanke diesem Herrn manch guten Aufschluss, aber das Patriziato verdankt Guglielmo Rossi noch viel mehr, denn die peinliche Ordnung, die er in den Büchern führt, dürfte man sich manchenorts zum Vorbild nehmen.

Im Gange des Hauses, welches das Uffizio patriziale beherbergt, interessiert mich immer der « Pozzo », der eingemauerte Sodbrunnen, ein Überbleibsel aus jenen Zeiten, da man in Biasca die Wohltat einer Versorgung mit fliessendem Wasser noch nicht kannte. Das geheimnisvolle, dunkle Loch des Pozzo, im Halbdunkel des Hausganges, erweckt in mir nie Sehnsucht nach der guten, alten Zeit, und es kommen mir immer die Worte Franscinis in den Sinn, der das Wasser der Sodbrunnen Biascas nicht rühmte * ).

Die Häusergruppe, die nun weiterhin die Gasse bildet, nennt der Volksmund « ai palazzi ». Es sind Bauernhäuser in ihrer bekannten Anspruchslosigkeit und Ställe. Aber der Name « zu den Palästen » ist nicht etwa der Ironie entsprungen, denn « palazzo » nennt der Tessiner Bauer im vollen Ernst auch das einfachste Wohnhaus.

Wir sind am Nordausgange des Fleckens, die zusammenhängenden Häuserreihen hören auf und damit auch die « lastroni », die treuen Begleiter der tessinischen Gasse, die einem in Biasca dadurch besonders auffallen, weil sie so sauber aussehen. Das haben sie der sonderbaren Strassenreinigung zu verdanken. Wöchentlich zweimal wird ein Wasserkanal ( la rungia ) durch die Via Lucomagno geleitet, der allen Kot, Staub und Unrat gründlich fortschwemmt, eine Massnahme, die im Sommer noch das Angenehme hat, dass sie Kühlung in die enge Gasse bringt. Leicht ansteigend, vielfach von Mäuerchen durchsetzt und von rebenüberspannten Pergole bedeckt, zieht sich Wiesland zu einem Hügel hinan. Den decken Busch und Wald, aber auch grosse Blöcke. Es ist der Schuttkegel des grossen Bergsturzes von 1513.

Wir wenden uns rechts, dem nächsten Seitenwege zu und kehren auf einem Umwege längs des Bergfusses wieder gegen das Innere des Fleckens zurück. Ein Gewirr von grauen, rauchgeschwärzten Häuschen breitet sich hier aus, sie gehören zu jenen « Palazzi », die vorn an der Hauptgasse Spalier bilden. Wir sind also im Bauernviertel. Die Behausungen sind unglaublich primitiv, und doch scheint da der Frohsinn nicht zu fehlen. Fröhlicher Gesang und lustiges Kinderlachen verkünden, dass man auch in der Dürftigkeit glücklich sein kann. Franscinis Beschreibung aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiss von einigen Reihen niederer, düsterer und schlechter Häuser ( alcune strisce di basse e squallide casacce ), die in Biasca vorkamen, zu berichten. Sind damit diese Häuser gemeint ?. Sieht man sich genau um, so empfängt man allmählich den Eindruck, dass das Bauernviertel einst bessere Tage gesehen habe. Das war aber wohl vor den Zeiten, aus denen Franscini erzählt, denn die verblichenen, demolierten Fassadenbema-lungen, die Fenster und Treppen, die Spuren frühern Wohlstandes verraten, sind älter.

Am Berghang, gegen die neue Kirche hin, breitet sich der Viehmarkt aus; sein Name « Monicheria » verrät, dass er einst zum Kirchengute gehörte.

An der Monicheria, dem Fusse des Berghanges entlang, zieht sich ein Graben, in den die Rinnsale des Berges einmünden. Der Graben nimmt auch jenen Bach auf, der bei der Kirche herabkommt und den der Volksmund als Rì di Cesa ( Rio oder Riale di Chiesa ) bezeichnet. Die Hauptstrasse und die Bahnlinie kreuzend, führt er dann durch die Felder dem Ticino zu. Dieser zeitweise oft ganz ausgetrocknete Graben mag bei den am Südfusse der Alpen oft unglaublich ergiebigen herbstlichen Regenfällen die Wassermengen kaum zu fassen und wäre dann für die Nachbarschaft recht bedrohlich, wenn er Steine und Schutt mitführen würde, also ein eigentlicher Wildbach wäre, wie sein Name « Dragonato » vermuten Hesse. Aber am Monte die Biasca ist infolge der Steilheit schon längst alles in die Tiefe gerollt, was nicht gut festsitzt, und der harte Gneis bröckelt nicht ab. Also verdient der Bach den bösen Namen « Dragonato » nicht im schlimmen Sinne. Denn Dragonato nennt der Tessiner oft den Wildbach. Das Wort stammt von « dragone », der Drache, wie unser « Dragoner » auch, und seltsam, beide, Dragonati und Dragoner, sind gefährlich im Übermass von Feuchtigkeit, während sie trocken ganz harmlos sind!

Und nun betreten wir « il quartiere ecclesiastico », das geistliche Viertel. Vor uns steht die neue, San Carlo geweihte Kirche, weiter oben erblickt man die alte Stiftskirche, gegenüber die Häuser der Geistlichen und unterhalb, mit Vorplatz und Garten, das Asilo San Giuseppe. Also wirklich eine Gruppe Gebäude so vereint, dass auf sie die oben erwähnte Bezeichnung gut passt.

Die neue Kirche in erhöhter, vorteilhafter Lage ist unvollendet. Es fehlt am Äussern noch mancherlei, und wer daher sich einen guten Eindruck wahren will, betrachte sie lieber aus der Ferne. Da präsentiert sich der kräftige, lombardische Bau für sich recht gut, obgleich ihm heute noch der Hauptschmuck, der Campanile, mangelt. Aber in die stolze Einfachheit dieser Gebirgsgegend passt das pompöse, kuppeiförmige Gotteshaus doch nicht so recht, das sich wie eine schöne, fremde Pflanze ausnimmt, die man aus den Ebenen Italiens in die Berge hinaufversetzt hat, wo sie nicht hingehört. Es wird kein Zufall sein, dass die Chiesa San Carlo genau in der verlängerten Achse der Via San Gottardo liegt. Wenn man auf derselben dem Flecken zuwandert, sieht man am Ende der langen, geraden Strasse die Kirche oben am Berghang; der Anblick ist schön. Schöpfer des Baues ist der ehemalige Propst von Biasca, Giovanni de Maria, und ihr Architekt ist kein geringerer als Carlo Macciachini, dem Mailand seinen berühmten Monu-mentalfriedhof verdankt. 1891 wurden die Fundamente gelegt, 1899 wurde die Kirche dem Kultus geöffnet, und 1905 erfolgte die Einweihung durch Monsignore Peri-Morosini. Darüber, dass ihr neues Gotteshaus unvollendet geblieben ist, mögen sich die frommen Biaskesen trösten, andernorts ist es schon einige hundert Jahre gegangen, bis man fertig wurde. Ich will hoffen, dass sie weniger lang zu warten haben. Aber vielleicht ist es doch wahr, was mir ein altes Fraueli bei der Kirche oben sagte, dass die Frommen heute ganz gut in der alten Stiftskirche Platz fänden.

Ein Brücklein führt über das sorglich eingedämmte Bett des Riale di Chiesa, der wohl bisweilen ein unbändiger Geselle sein mag. Die fleissigen Wäscherinnen, die man da oft nach italienischer Sitte die Wäsche über die Steinblöcke schlagen sieht, so dass einer braven, deutschen Hausfrau der Schrecken in die Glieder fahren würde, werden zeitweise das Feld ihrer Tätigkeit räumen müssen. Hier am linken Ufer führt der Weg zur alten Stiftskirche zu Sankt Peter empor. Oben am Berghang thront sie, das Wahrzeichen Biascas und dessen ältestes Baudenkmal. Der Weg wird obenaus zur Stiege, und mächtige Kastanienbäume werfen ihren Schatten auf ihn, dann biegt er nach rechts um, unter der Kirche durch, die auf einer sehr gut gewählten und eindrucksvollen Höhe steht und in ihren einfachen, strengen Formen trefflich in die Umgebung hinein passt. Den Eindruck, dass hier etwas Eigenartiges und Beachtenswertes vor ihm steht, empfängt der Beschauer sofort mit dem Näherkommen, und das trotz dem rohen Gemäuer. Der Kenner entdeckt an der Stiftskirche interessante Einzelheiten; nicht umsonst hat ihr der verstorbene Prof. R. Rahn, ein feiner Kenner der tessinischen Kunstdenkmäler, eine ausführliche Beschreibung mit Skizzen gewidmet. Wer sich näher für die Stiftskirche interessiert, sei auf dieses Buch « Die Kunstdenkmäler des Kantons Tessin », das auch in italienischer Übersetzung ( von Dr. Eligio Pometta ) erschienen ist, aufmerksam gemacht.

Still ist es bei der alten Stiftskirche oben, die wenig mehr benützt wird, da sie für die heutige Bevölkerung zu klein und zu unansehnlich geworden ist. Dem, der es versteht, erzählt aber das alte Gemäuer seine alten Geschichten.

Einst war es nicht so einsam da oben, als die alte Stiftskirche noch das einzige Gottshaus der hier zusammenstossenden drei grossen Talschaften ( Tre Valli ) war, da strömten an den kirchlichen Festen aus den entlegensten Bergtälern die Gläubigen hier zusammen. Seit jenen Zeiten hat sich in Biasca manches verändert. Ja, man kann sagen, es ist kein Stein auf dem andern geblieben. Dem Brenno und Ticino, die jetzt zwischen sichern Dämmen dahinfliessen, war der Talboden von Biasca einst ein freier Tummelplatz. Was fleissige Menschenhände in jahrelanger Arbeit schufen, rissen diese Flüsse in ihrer Laune wieder nieder. Der Berg, der hinter der Stiftskirche sich riesenhaft auftürmt, zermalmte einst mit seinen Felsen einen grossen Teil des Fleckens. Einbrechende Eroberer brannten ihn nieder. In der Geschichte Biascas nehmen schwere Heimsuchungen einen grossen, viel zu grossen Raum ein. Nur die alte Stiftskirche da oben hat sich aus den schlimmen, alten Zeiten in die Gegenwart herüber zu retten vermocht. Sie soll im 12. oder 13. Jahrhundert entstanden sein und hat im Laufe der Zeit verschiedene Umgestaltungen erlebt. Ihre ursprüngliche Form wird verschwunden sein. Am grössten war ihre Bedeutung, als sie noch ein kleines Kirchlein war. Als dann dort, wo heute der Trümmerhaufen der Buzza liegt, sich die neue Kirche S. S. Filippo und Giacomo erhob, die grosser war und bequemer lag, da fiel die alte Stiftskirche, wie heute wieder, fast der Vergessenheit anheim und sank zu einer « chiesa secondaria » hinab. Der Bergsturz von 1513 begrub aber die Kirche S. S. Filippo und Giacomo, und so kam dann die alte Stiftskirche wieder zu Ehren und Rechten.

Die Zeit der Gegenreformation brachte der Stiftskirche manche Änderung, und wahrscheinlich stammt ihre heutige Gestalt von dorther. Man möchte das fast bedauern, wenn man das seltsame, uralte Weihwasserbecken betrachtet, das damals wohl von unverständiger Hand zum Teil eingemauert wurde, und wenn man die grosse steinerne Tischplatte im Freien trauern sieht, auf der sich früher im Innern der Kirche die heiligsten Handlungen vollzogen. Auch von einer steinernen Cathedra ist noch ein Bruchstück in einer Mauer eingefügt. Im alten, ursprünglichen Kirchlein, da mögen diese Skulpturen und Baufragmente am Ort ihrer Bestimmung gestanden haben. Schade genug, dass das Ganze nicht so auf uns gekommen ist. Und doch hat zum Glück der Umbau ein Gebäude geschaffen, dessen Form sich ausgezeichnet in die Landschaft einfügt. Man möchte die alte Stiftskirche, so wie sie dasteht, nicht missen.

Jener Ritter Giovanni Battista Pellanda, der sich im Flecken unten das stattliche Haus bauen Hess, hat sich an der Stiftskirche die Kapelle della Madonna del Rosario einbauen lassen, die zwar kein besonderes Interesse zu erwecken vermag.

Mehr Beachtung wird der Besucher den originellen Fresken 5 ) zuwenden, welche das kirchliche Leben vor und nach der Wirksamkeit des San Carlo darstellen. Hiernach beurteilt, scheint eine Reformation tatsächlich höchst notwendig gewesen zu sein.

In der nördlich an die Kirche angebauten, jetzt arg verfallenen Kapelle soll sich eine auf den Bergsturz bezügliche Inschrift befunden haben, die nunmehr verschwunden ist.

Verlassen wir nun die alte Stiftskirche, in deren Hut auf dem sie umschliessenden Friedhofe mancher Biaskese seine letzte Ruhestätte gefunden hat.

Neben der Stiftskirche, an der Via Crucis, befindet sich ein zweiter Friedhof. Ein marmorenes Grabmal verkündet dort, dass hier ein Engländer ( Matthew Inglett Fortescue-Brickdale ) ruht, der über den Wasserfall der Froda lunga zum Bahnhof hinuntergestürzt ist, als er nach Blumen suchte.

Die Via Crucis führt zur Petronillakapelle hinaus. Das steinige Weglein, über das uralte Kastanienbäume ihr kühlendes Blätterdach ausbreiten und an dem entlang üppige Brombeerstauden grosse, susse Früchte darbieten, wird gewiss recht wenig mehr begangen. Die Zeiten sind vorbei, wo der Biaskese in tiefer Zerknirschung jeden zweiten Sonntag im Monat den Kreuzgang zur Kapelle hinauf machte, um sich damit 40 Tage Ablass zu holen. Fünf Paternoster und ebensoviele Ave Maria musste er beten und Gott anflehen, die Ketzerei auszurotten und den katholischen Glauben zu heben, wenn er dieser Gnade wollte teilhaftig werden. Der Pfiff der Lokomotive, der aus der Tiefe heraufdringt, sagt uns deutlich genug, dass die Zeit religiöser Schwärmerei vorüber ist und der öde Materialismus am Ruder steht.

Die Stationen der Via Crucis sind verwittert und zerfallen. Die Bilder, welche die Leidensgeschichte darstellen, sind verblichen oder unter den Steinwürfen von Lausbuben, hier « birichini » genannt, schlimm beschädigt. Im Steinwerfen sind diese birichini Meister. Und da sich die Meisterschaft nur durch viele Übung erreichen lässt, so stösst man allenthalben auf ihre Spuren. Fast hat man den Eindruck, als würden Heiligenbilder mit besonderer Vorliebe zu solchen Übungen erkoren.

Das Ende des Kreuzweges ist die Kapelle della Santa Petronilla, zu der hinüber eine zierliche, kühn gespannte Steinbrücke führt. Es erscheint einem als seltsame Laune des Stifters, dass er den Kreuzgang erst am jenseitigen Ufer der wilden Froda lunga endigen Hess, wodurch diese kleine Kunstbaute nötig wurde. Aber vielleicht war schon früher eine Kapelle an jener Stelle und darum auch eine Brücke vorhanden. Oder stammt die alte Brücke aus den Zeiten der Burg von Biasca, die da oben stand? Der einzige Zugang zu derselben war vom Dorfe her der heutige Kreuzweg. Selbstverständlich spricht das Volk noch von einer Strickleiter, die vom Pedemonte über die hohe Felswand hinauf geführt haben soll. Aber die Strickleiter gehört nun einmal zur Romantik alter Ritterburgen.

Die Kapelle Santa Petronilla ist ein einfacher, schmuckloser Bau in ungemein malerischer Lage. Unter ihr bricht die Terrasse in einer hohen Wand zum Bahnhof ab. Wie von einem Balkon schaut man frei in die Tiefe und Ferne. Die weite Talebene breitet sich vor uns aus, umstanden von steil ansteigenden Bergen, in deren Hintergrund Schneefelder leuchten. In die Felsenlandschaft der Riviera und von Biasca im besondern passt die Verehrung der Felsenheiligen Petronilla gut. Sie reicht wahrscheinlich viel weiter zurück, als die Stiftung des frommen Ritters Pellanda. Als jener lebte, war der Kultus der Santa Petronilla schon im Verblassen, und als die neue, noch jetzt erhaltene Kapelle entstand, erbte sie von einer alten Kapelle, vielleicht nur von den Trümmern einer solchen, den Namen. So denke ich mir die Herkunft. Die Entstehung der ersten Kapelle würde so recht in die Zeit hinein passen, wo hier oben noch die Burg stand.

Hinter der Kapelle steigt ein Kastanienwald zu den schroffen Felsen empor, in denen sich der Berg weiterhin aufbaut. Dort, in der Heimlichkeit uralter Bäume verborgen, ist eine jener originellen, ländlichen Tessiner Wirtschaften, die man « Grotto » nennt. Ein kleiner Weinkeller, ein Bocciaplatz mit einigen steinernen Tischen und Bänken, das ist alles. Aber es ist viel, mit freundlicher Art wird Speise und Trank gereicht, und das hohle Gepränge eines modernen Restaurants fehlt hier oben in den rauhen Felsen. Man sitzt wohl unter den leise rauschenden Bäumen, durch deren Blätter die Sonnenstrahlen spielen. Eine Lücke lässt den Blick auf die bronzebraunen, in der Sonne glühenden Felsen frei, die so himmelan-stürmend aufragen und sofort daran erinnern, dass wir in Biasca sind. Als ich einst dort oben sass, flog ein gravitätischer Hahn so recht « prepotente » auf den Tisch und wollte mir mein Brot wegholen. Da mischte sich die junge Wirtin in die Angelegenheit und jagte das freche Federvieh mit dem Rufe « Va via Kaiser » vom Tische. Das war zur Zeit des Weltkrieges. Dass nun gerade der Hahn, das Symbol Frankreichs, den Namen Kaiser trug, kam mir recht komisch vor.

Der Grotto della Santa Petronilla ist mir aber besonders lieb, weil ich dort den inzwischen leider verstorbenen, trefflichen Kenner der Lokalgeschichte Biascas, Signor Ispettore Rossetti Isidoro, kennen lernte, einen alten, weisshaarigen Herrn, einer von denen, die im Innern nie alt werden. Ein junges, warmes Herz für sein Biasca hatte sich der Signor Ispettore bewahrt. Mit welcher Herzlichkeit trat er mir nach den ersten Worten der Begrüssung entgegen, ohne mich vorher je gesehen oder je ein Wort von mir vernommen zu haben. Es genügte Signor Rossetti, dass auch ich für sein Biasca Interesse zeigte, wenn er auch bald inne wurde, dass meine vielen Wanderungen in der Gegend früher eigentlich mehr den Bergen gegolten hatten. Dass man sich offen und herzlich gegenübertritt, auch wenn man fremd ist, gehört im heitern Tessin zur Regel. Das bei uns übliche gegenseitige wortlose Anglotzen, « comme deux chiens de fayence », gilt noch nicht als nobel.

Oberhalb dieses Grotto stand auf einem Felssporn neben dem Frodabach die Burg Biasca. Es sind nur noch wenige, aber deutliche Spuren von ihr vorhanden, und es ist unschwer, ihre Lage und ungefähre Form hieraus zu erkennen. Gross war die Anlage nicht. Was auf dem Felssporn allein stand, mochte 10 X 20 m im Grundriss messen, aber wahrscheinlich gab es noch eine Fortsetzung nebenan. Die Hauptfront war der Talebene zugewendet, wo sich der Brenno mit dem Ticino vereinigt. Weder die Riviera hinab noch in die Val Blenio hinein reichte der Ausblick. Also kann es sich schon aus diesem Grunde nicht um einen Wachtturm handeln, wie Rahn vermutete. Zudem wären die Dimensionen zu einem Wachtturm zu gross. Ein solcher soll sich im verschütteten Teil von Biasca befunden haben, vielleicht war er eine Ergänzung zur Burganlage von Biasca. Im Volke hat sich einzig die Bezeichnung « Riva del castello » als Erinnerung an das einstige Vorhandensein dieser Burg bewahrt, deren grosse Bedeutung für Biasca die Forschungen des Dr. Karl Meyer deutlich erkennen lassen.

Hier war der Sitz des Podestà, des Vertreters des Domkapitels von Mailand. Die Erinnerungen hieran sind, wie gesagt, im Volke völlig verschwunden, und hätten sie uns alte Dokumente, die in dem wiederholt angeführten Buche des Dr. Karl Meyer so trefflich verwertet sind, nicht erhalten, wir wüssten nichts mehr darum. Wir wüssten nicht, dass ein Podestà angesichts seiner Burg die Unabhängigkeit der Biaskesen anerkennen musste und dass einer der grössten und edelsten Männer, die der Tessin im Mittelalter hervorbrachte, von dieser Burg aus regierte. Im folgenden Kapitel findet der Leser einige Angaben über jene Zeiten, wer sich aber hierüber besonders interessiert, der greife zu Dr. Karl Meyers Buch.

Mit einer Handvoll Knechte war es leicht, die Burg Biasca zu verteidigen, aber trotzdem schlug ihr die Stunde früh, so dass heute niemand weiss, wer sie brach und wann dies geschah. Die Innerschweizer mögen es kaum gewesen sein, eher die freiheitsdurstigen Biaskesen selbst, denen die über ihnen thronende Burg immer als eine Bedrohung ihrer Selbständigkeit erscheinen musste.

Wir kehren nach diesem Abstecher zurück in den Flecken. Unterwegs durchschreiten wir wiederum das « quartiere ecclesiastico ». Das bescheidene und kleine Propsteihaus gibt beim ersten Anblick sein ehrwürdiges Alter zu erkennen. Der südliche Anbau, der den Saal zur Versammlung der Geistlichkeit der Tre Valli enthält, ist, wenn auch respektablen Alters, jünger als das eigentliche Wohnhaus. Hier und nicht in der Casa Pellanda wird San Carlo seinerzeit abgestiegen sein. Die Bescheidenheit des Hauses passte ja vortrefflich zu dem alle irdischen Vorzüge verachtenden, grossen Reformator der katholischen Kirche. Und ebensogut passt es für den Kunst und Pracht liebenden Kardinal Federico Borromeo, dass er die stolze Casa Pellanda der bescheidenen Behausung des Propstes vorzog.

Im erwähnten Saale prangt an der Decke eine alte, farbenfrohe Malerei mit dem Familienwappen der Rusca in der Mitte.

Über dem grossen Kamin an der Aussenwand erblickt man eine symbolistische Malerei. Ein Sonnenstrahl, der auf einen Spiegel trifft, entzündet zurückfallend einen Dornbusch. Der das Bild ergänzende Spruch lautet: « Lucet et ardet ».

Unterhalb des Propsteihauses liegt inmitten Spielplatz und Garten das Asilo San Giuseppe, heute ein Kinderheim des Theodosianums Ingenbohl. Sieben Schwestern unterrichten hier arme Kinder in der Elementarstufe und sorgen für die Pflege dieser Kleinen. Das Asyl ist eine Gründung des ehemaligen Propstes Martinoli und der damaligen Domherren Giovanni de Maria und Don Paolo d' Allesandri. Die Einweihung erfolgte im Jahre 1897.

Mitten im Flecken sind wir bereits schon der Via San Gottardo begegnet. Schnurgerade führt sie zur Brennobrücke hinaus, zum Weiler Ponte, der auch zu Biasca gehört. Niemand beginnt die erste Wanderung dort hinaus, ohne dass er an das neue Haus hinaufschaut, das beim Beginn der Via San Gottardo zur Linken scharf und schmal wie ein Schiffsbug ein Seitengässchen abspaltet. Dazu ist diese merkwürdige Schmalseite des Hauses dreimal abgesetzt, so dass sich drei kleine Terrassen bilden. Das ist wenigstens originell, was man nicht jedem neuen Haus nachsagen kann. Am andern Ende liest man die gemütliche Aufschrift:

Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 57. Jahrg.,.

« al giardinetto » ( zum Gärtchen ). Unter dem jungen Volke Biascas hat dieses Wort guten Klang. Geht man an einem Sonntag Abend am « Giardinetto » vorbei, so kann man, sofern die tanzlustige Menge die Fenster nicht gar zu dicht belagert, zuschauen, wie flink sich da die jungen Biaskesen und Biaskesinnen im Tanze wiegen. Letztere etwa auf den Zoccoli, was ihrer Grazie keinen Abbruch tut und mich jedesmal freut. Einst, zu den Zeiten der Mobilisation, bot sich mir im Giardinetto ein lustiger Anblick. Es lagen Appenzeller Landsturmsoldaten in Biasca, und die tanzen auch gerne. Da hatte so ein typischer Appenzeller mit mächtigen Bergschuhen und Ringli in den Ohren ein handfestes Tessiner Meitschi in den Armen. Er wollte sich in wohlabgemessenen Kreisen ringsumdrehen, sie, die Schwarze, wollte dagegen gradaus und zappelte mit dem ganzen Leibe. Es siegte natürlich die « brutale alemannische Kraft »; die Tessinerin musste auch mit « zringletumä ». Schade, dass kein Irredentista zur Stelle war, er hätte das Bild als eine Darstellung der Vergewaltigung der lateinischen Rasse verwerten können. Übrigens, da gerade vom Tanzen die Rede ist, sei noch bemerkt, dass im Tessin, schon vor Jahren, als noch kein Foxtrott durch die Welt wippte, die Rundtänze wenig üblich waren. Man war also der Mode weit voraus.

Beim Giardinetto schneidet die Ferrovia Elettrica die Strasse. Hier ist die Haltestelle « Biasca-Borgo ».

Gegenüber steht das Marmordenkmal des liberalen Politikers und Staatsmannes Ambrogio Bertoni. Die hübsch gearbeitete Büste, ein Werk des Luganeser Bildhauers Luigi Vassalli, hätte eigentlich in Aquila ( Val Blenio ), der Heimat Bertonis, aufgestellt werden sollen. Das sollen politische Gegensätze verunmöglicht haben, denn Ambrogio Bertoni war ursprünglich katholischer Priester. Dass diesem Manne der grosse Schritt aus seiner ursprünglichen Betätigung heraus möglich war, verraten besser noch als die Inschrift die kühnen und energischen Züge des Verewigten. Sohn desselben ist Brenno Bertoni, weiland Ständerat des Kantons Tessin.

An der Via San Gottardo liegen, von Gärten umgeben, neue und von den besten Häusern Biascas. Auch der beste Gasthof ist hier zu finden, das kleine, aber gute « Hôtel Suisse ». Stattliche Hotels, welche, wie Osenbrüggen aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erzählt, « ihre Omnibusse mit werbenden Herolden im Livree » an den Bahnhof schickten, gibt es keine mehr in Biasca. Der von der Gotthardbahn erwartete Goldregen ist nicht nur ausgeblieben, sondern es gingen sogar die zwei grossen Gasthöfe ein, welche zur Zeit des Postbetriebes gute Geschäfte gemacht hatten. Biasca wurde von der Bahn « abgefahren », wie der verkehrstechnische Ausdruck lautet. Im Itinerar des S.A.C. vom Jahre 1872 heisst es, es gebe in Biasca « ein ordentliches Wirtshaus nach italienischer Art », also stimmt es wohl mit den getäuschten Hoffnungen der Gastwirte, wenn Osenbrüggen nicht etwa mehr erzählt, als er tatsächlich gesehen hat.

Gasthöfe gab es in Biasca seiner Lage und seiner Märkte wegen immer, selbst zu den Zeiten der Landvögte und früher, aber sie waren jedenfalls bescheiden und klein, denn Biasca liegt keine Tagesetappe von Bellinzona, man übernachtete hier also nur ausnahmsweise, wenn man über den Gotthard oder Lukmanier reiste. So etwa, wenn der Brenno gelegentlich wieder einmal die Brücke weggerissen hatte, was nicht selten vorkam.

Ein Beispiel vom Gastwirtschaftsleben Biascas gibt die Beschreibung der Reise des Syndikats ( Vertreter der eidgenössischen Stände ) in die tessinischen Vogteien im Jahre 1682. Die Ratsherren spiesen in Biasca zu Mittag, und zwar die eine Hälfte im obern und die andere im untern Wirtshaus. Diese waren also offenbar klein, sonst hätte ein einzelnes die ganze Gesellschaft bewirtet. Es ist daher die Nachricht, dass 1599 der Erzherzog Albrecht von Österreich auf der Hochzeitsreise mit Isabella, Infantin von Spanien, in Biasca übernachtet sei, wahrscheinlich kaum wörtlich zu nehmen. Auf alle Fälle übernachtete das « erlauchte Paar », das mit einem Gefolge von 2000 Personen und 600 Tragtieren auf Einladung der katholischen Kantone über den Gotthard zog, nicht in einem einfachen Albergo, sondern wohl eher in der damals neuen Casa Pellanda. Viel wahrscheinlicher ist zwar, dass nur ein Teil des Gefolges in Biasca übernachtete. Denn Bellinzona reichte nicht aus, die enorme Reisegesellschaft zu beherbergen, hatte man doch sogar in Luzern Mühe genug, diese unterzubringen.

Ausserhalb des Hôtel Suisse stehen nur noch wenige Häuser an der Via San Gottardo. Die freie Talebene breitet sich aus mit ihren steinumfriedigten Matten, über die sich vielfach niedere Pergole spannen. Die Stützen derselben sind aus Gneisplatten gehauen, einem in dieser Gegend beliebten Baumaterial, das oft an die Stelle von Holz tritt und natürlich von unverwüstlicher Haltbarkeit ist. Mit Gneisplatten belegt man die Dächer, den Boden, die Stiegen und Lauben, überbrückt man kleine Wasserläufe, umfriedigt man als « Piantung » Gärten, Strassen, Bahnlinien, braucht sie als Tische und Bänke. Kurzum, die Gneisplatte gehört zur Eigenart der Riviera, wie die Kastanienwälder und die jähen Berglehnen, die sie seitlich wie die Wände eines Ganges begleiten.

Talaufwärts scheidet der finstere Sasso di Pollegio oder Mottone, wie ihn das Volk nennt, die Riviera in zwei Täler. Eng und schluchtartig beginnt die Leventina, froh und weit dagegen öffnet sich die Val Blenio. Der grosse Hügel der Buzza im Vordergrunde verdüstert ihren Anblick nicht, denn die 400 Jahre, die über ihn hinweggegangen sind, haben ihn grün übersponnen und damit der Umgebung angepasst, so dass er, aus der Ferne betrachtet, nicht als das Zeichen einstiger Zerstörung auffällt.

Am Ende der schnurgeraden Strassenstrecke liegen der Weiler Ponte und die Brennobrücke, die ihm zu seinem Namen verholfen hat. Es ist nicht viel zu sehen in Ponte draussen. Nur die geschichtlichen Erinnerungen, die sich an diese Gegend knüpfen, sind besonders interessant.

Die Brücke, die das geröllreiche Bett des Brenno überquert, dessen Wasserlauf normalerweise kaum ein Viertel der Breite beansprucht, trägt die Jahreszahl 1813. Demnach war also die Brennobrücke eine der ersten Kunstbauten der Gotthardstrasse, die erst 1830 fahrbar wurde, und wahrscheinlich ist sie ein Werk des Tessiner Ingenieurs Francesco Meschini, der die Südrampe des Gotthardpasses ausbaute.

Der Kanton Tessin entwickelte in seinen Anfängen, die doch reich waren an politischer Bewegung, eine bewunderungswerte Tatkraft. Dem Strassenbau wurden ganz beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt, während vorher unter der Herrschaft der Landvögte hierfür fast nichts getan worden war. Für die Gegend von Biasca darf man eigentlich ruhig sagen, dass gar nichts geschehen ist. Die Notwendigkeit der Strassen- und Brückenbauten sahen die Urkantone nicht ein, es geschah ja im eigenen Lande fast nichts; um so weniger fand man es nötig, im Untertanenlande Aufwand zu machen. Und doch erkannte die damalige Obrigkeit den Wert des Gotthardtransites recht gut. Aber ihn technisch zu verbessern unternahm sie, soviel mir bekannt, nur zweimal beachtenswerte Schritte. Da ist einmal die Weganlage am Monte Piottino vom Jahre 1493 und dann der Durchschlag des Urnerloches 1708. Das waren von der zwingenden Notwendigkeit diktierte Verbesserungen. Sonst blieb es beim alten, und im Tessin, dem Lande der kühnsten Ingenieure und kunstsinnigsten Architekten, blieben Weg und Steg in unglaublich primitivem Zustande.

Eine genaue Besichtigung der Brücke erweckte in mir die Vermutung, dass sie nur bis auf die Pfeiler neuern Ursprungs ist, und ein alter Biaskese versicherte mir denn auch, ohne dass ich ihm von meiner Wahrnehmung etwas gesagt hatte, er wisse es von seinem Vater, dass die jetzige Brücke auf alten Pfeilern ruhe. Die Bogen liegen nicht regelmässig auf den Pfeilern, es ist das Ganze nicht aus einem Guss. Unter den tüchtigen Ingenieuren der mailändischen Herzoge wäre die Entstehung solcher Pfeiler leicht möglich gewesen. Aber, dass diese die Katastrophe von 1513 überstanden hätten, ist kaum glaublich. Noch weniger denkbar ist es aber, dass sie nachher unter der Herrschaft der Landvögte entstanden sein könnten.

Ein mächtiger Steindamm schirmt den Weiler Ponte und die Felder Biascas. Er entstand nach der Wassernot von 1868, wo der alte, niedrigere Damm seine Aufgabe nicht zu erfüllen vermochte, trotzdem die Fluten sich in der Hauptsache gegen Pasquerio hin austobten. Das dortige Ödland deutet darauf hin, dass der Brenno seinen Überschuss an Wasser gern in jene Richtung abgibt. Auch die Bahn bekundet vor dem Brenno, der in gewöhnlichen Zeiten so harmlos aussieht, Respekt. Sie überspannt ihn mit einer mächtigen Eisenbrücke, und am rechten Ufer hat auch der neue Bahndamm einen Durchlass erhalten, um gegenüber Eventualitäten wie 1868 sicher zu sein.

An derselben Stelle der heutigen lag auch die alte Brennobrücke. Die Lage ihres diesseitigen Brückenkopfes lässt sich noch gut erkennen. Das alte Haus unmittelbar nördlich der Strasse und nächst der Brücke stammt seiner Jahrzahl ( 1756 ) und seinem Aussehen nach aus den Zeiten der alten Brücke. Neben diesem Hause, wo, wie man mir sagte, der Brückenzoll erhoben wurde, sind noch die Trümmer eines Kapellchens sichtbar. Vor diesen Gebäuden durch führte der alte Gotthardsaumweg. Er lag hier viel tiefer als die Fahrbahn der heutigen Strasse. Schon hieraus erkennt man, dass die alte Brücke nieder und primitiv gebaut war. Schinz bestätigt das in seiner aus den Jahren 1783—1787 stammenden Beschreibung. Danach war die « Abläschger-Brücke oder Ponte Abiasco » eine Holzkonstruktion und nur so breit, dass gerade ein beladenes Saumpferd darüber gehen konnte. Nur die Pfeiler waren aus Stein. Der mittlere Pfeiler trug den Marchstein der hier zusammenstossenden Landvogteien « Livenen und Revier ». Jene war urnerisches Untertanenland, diese gemeinsames Untertanenland der Urkantone. Den Pfeiler schmückte auch eine Windfahne mit den Wappen « der beyde Herrschaften regierenden Stände ». Von den Reisenden wurde ein Brückengeld erhoben, das der Gemeinde Biasca zukam, die hieraus den Unterhalt der Brücke bestritt. Der Fussgänger hatte 1 Quadrino, für ein Saumtier war 1 Soldo ( =8 Cts. heutiges Geld ) zu zahlen. Wahrscheinlich lag die Zollstätte Biasca, die noch unter den Mailändern mit der von Bellinzona vereinigt wurde, ebenfalls an dieser Brücke.

Das Brückengeld scheint die Kosten für den Unterhalt nie gedeckt zu haben. Jeder Biaskese war verpflichtet, ohne dass ihm von jener Einnahme etwas zufloss, alljährlich ein dickes Lärchenbrett zum Brückenbelag beizusteuern. Dieses Servitut entstand unter den Landvögten, als einst ein Saumpferd durchbrach und in den Brenno fiel. Fast jedes Hochwasser schädigte das niedrige, primitive Bauwerk, das oft bis auf die Pfeiler weggerissen wurde. Der Gotthardverkehr kam dadurch oft ins Stocken. Wer es eilig hatte, musste zu einem grossen Umweg greifen, um zum Gotthard zu kommen. Über ein solches Vorkommnis berichtete seinerzeit Bernardino Tarugi, der geheime Bote Carlo Borromeos an seinen Herrn. Tarugi reiste im Juni des Jahres 1584 in einem wichtigen Auftrag nach Altdorf, wo über die Religionsangelegenheiten des Misox und Veitlins Besprechungen stattfanden. Im Tessin waren durch starke Regengüsse die Bäche und Flüsse mächtig angeschwollen. Während Tarugi in Biasca übernachtete, riss der Brenno ( Tarugi nennt ihn « Tesin»6 ) wieder einmal die Brücke weg. Da weder der Brenno noch der Ticino bei Hochwasser in der Umgegend überschritten werden konnten und Tarugis Auftrag keinen Aufschub gestattete, so entschloss er sich zu einem, damals wohl nicht selten benutzten Umwege. Er folgte dem Brenno taleinwärts und konnte denselben in der Gegend von Prugiasco überschreiten. Von dort stieg er über den Passo di Nara ( 2129 m ) nach Faido hinüber. Da dem Regen mächtige Schneefälle bis tief ins Tal hinab folgten, so wird die Überschreitung des Passes eine sehr mühsame gewesen sein. Tarugi berichtet denn auch von einer « strada invero arduissima ».

Hier am Brenno stossen noch heute die Riviera und Leventina zusammen. Die Grenze hat jetzt selbstverständlich wenig Bedeutung, während das in frühern Zeiten anders war. Viele Jahre lang stritt man hart um sie. Und als das jenseitige Ufer eidgenössisch geworden, das diesseitige aber noch mailändisch war, litt Biasca als Grenzort ausserordentlich viel. Es wechselte seine Herren mehrmals. Aber immer wieder hielt es treu zu Mailand, bis endlich alles ringsum eidgenössisch geworden war und es auch mittun musste. Als offener Ort konnte es sich keine Ausnahmestellung erlauben.

Die Herzoge von Mailand erkannten die Wichtigkeit Biascas gut, und es war ihnen sehr daran gelegen, seine Anhänglichkeit zu bewahren. Sie lohnten sie jedesmal durch irgendwelche Vergünstigungen, wenn Biasca durch kriegerische Verhältnisse zu Schaden gekommen war.

Gegenüber Ponte liegt, am Fusse des finstern Mottone, der Weiler Pasquerio, der Gemeinde Pollegio zugehörig. Die Wildnis des Flussbettes und Über-schwemmungsgebietes und der steinige, schroffe Berg geben der Gegend ein düsteres und melancholisches Gepräge. Kein Wunder, dass das Volk diese Wildnis einst mied, weil sie als nächtlicher Versammlungsort der Hexen im Verrüfe stand. Der Mottone ist ein typischer Tessinerberg, mit seinen gebauchten, braunen Felsen, zwischen die sich steile, grasbedeckte Hänge und Bänder und Gruppen von Kastanienbäumen zwängen. Ein Steinbruch hat wie eine Wunde den braunen Leib des Berges brutal aufgerissen und leuchtet weiss aus dem Braun und Grün heraus. Ein Anblick, der die Tessiner Landschaft an mancher Stelle verdirbt.

Heute ist es still im Steinbruch oben, die angebrochenen Felsen haben Zeit, die braune Patina wieder zurückzugewinnen.

Der Mottone muss in den bewegten Zeiten, als die Leventiner eidgenössisch geworden waren und die Innerschweizer ihre Bemühungen zur Eroberung des Tessintales in zäher Beharrlichkeit immerfort erneuerten, ein geschätzter Aus-spähposten gewesen sein. Von ihm aus sieht man nach Biasca hinein und weit in die Tessinebene hinab. Als im Dezember 1478 das mailändische Heer gegen das Häuflein Liviner und Eidgenossen auszog, hatte die eidgenössische Feldwache, die in Pasquerio lag, gewiss ihre Spähposten am Mottone oben.

Am Fusse des Mottone, etwas abseits der Strasse, erheben sich die Gebäulichkeiten des bischöflichen Priesterseminars ( Seminario Vescovile di Santa Maria ). Es ist nach mancherlei Wechselfällen aus einem Kloster des Humiliaten-ordens entstanden. Zu diesem « Klösterlin », wie es in der Schweizergeschichte mehrmals genannt wird, gehörte eine Herberge, wo mancher durstige und hungrige Wandersmann sich erletzt hat. Der Durchbruch des Brenno ( 1515 ) riss sie nieder. Aber es entstand nur eine geräumigere und bessere, und auch das « Klösterlin » ging nicht ein. Diese Gebäulichkeiten wurden später noch oft vom Brenno bedroht, besonders 1665 schien sie wieder das frühere Schicksal ereilen zu wollen. Dass die Herberge gut und geräumig war, wird wohl so sein, sonst hätten die Eidgenossen wohl kaum immer wieder das Kloster von Poüegio zu hochpolitischen Zusammenkünften vorgeschlagen. Solche waren nötig geworden, weil man bei der Erwerbung des Südtessins Baierna und Mendrisio vergessen hatte, in den Vertrag aufzunehmen. Die Franzosen, als damalige Herren der Lombardei, suchten sich mit allerlei Diplomatenschlichen um die Sache herum zu drücken. Die französischen Gesandten erschienen auf die eidgenössische Einladung hin erst überhaupt nicht in Pasquerio, und als sie sich schliesslich doch zur Stelle bequemten, anerkannten sie den von den Eidgenossen vorgeschlagenen Schiedsrichter nicht ( Juni 1519 ). Was half es? Einige Jahre später wurde das Mendrisiotto gleichwohl eidgenössisch; es war damals noch ein anderer Zug in Volk und Regierung als heute. Aber noch andere geschichtlich bemerkenswerte Momente spielten sich in den Mauern von Pasquerio ab. 1422, vor der Niederlage von Arbedo, schworen hier die Urner unter ihrem Landammann Hans Roth den Fahneneid, den sie dann auch in dem fürchterlichen Kampfe treu hielten.

Es ist nicht ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich, dass die Kloster-insassen von Pasquerio die Herberge selber betrieben. Allerdings würde dann die Angabe von Schinz, dass hier ein Frauenkloster gewesen sei, kaum stimmen. Aber es gab bei den Humiliaten nicht nur Mönchs- und Nonnenklöster, sondern sogar gemischte Klöster, und vielleicht war Pasquerio ein solches, weil die dortige Gegend nicht viel Zerstreuung bot. Dann hätte Schinz also teilweise recht. Der Humiliatenorden war zu jenen Zeiten so verweltlicht, dass es gar nicht verwunderlich wäre, wenn ihre Mitglieder nebenbei noch das Gastgewerbe betrieben hätten. Ihr Wahlspruch « Omnia vincit humilitas » stand dem nicht im Wege, im Gegenteil, mancher moderne Hotelier handelt heute nach ihm, wenn er sieht, dass der Gast viel Geld hat. Und gewerbstüchtig waren die Humiliaten; die Wollenindustrie betrieben sie mit grossem Geschick und erwarben damit Reichtümer. Diese wuchsen schliesslich derart an, dass der Orden zu einer Art Erwerbsgenossenschaft herabsank, auf die sein Wappen, ein Lamm, eigentlich nur noch als Symbol der Wollenindustrie, als Fabrikmarke, passte. Diese Zustände führten zu einer Reorganisation des Ordens durch den Kardinal Carlo Borromeo, was die erbitterten Mönche zu einem Mordanschlag auf den Kardinal veranlasste ( Mailand, 26. Oktober 1569 ), der dann 1571 Anlass zur völligen Auflösung des Ordens gab. Das Vermögen des Klosters von Pasquerio wurde dem Collegio Elvetico in Mailand zugeteilt, später dann aber wieder für Pasquerio verwendet, als 1622 der Kardinal Federico Borromeo dort an Stelle des Humiliatenklosters das Priesterseminar S. Maria ( Seminario Vescovile di Santa Maria ) errichten Hess, also dasselbe, das heute noch existiert.

Die Herberge überdauerte auch diese Veränderung, sie war damals ein ört-liches Bedürfnis, und so blieb es bis zur Konstituierung des Kantons Tessin. Von da an hört man nichts mehr von ihr. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde das Seminar aufgehoben und zu einem « Ginnasio industriale » umgewandelt. Als später wieder andere politische Strömungen im Tessin die Oberhand gewannen, wurde es wiederum Priesterseminar, als was es heute unbehelligt weiter existiert.

In Ponte, kurz bevor man zur Brennobrücke kommt, mündet zur Linken ein Strässchen ein, das unmittelbar vorher von der Bahnlinie überquert wird. Folgt man ihm, so ist man erstaunt, zu sehen, dass es sich weithin ganz gerade dahinzieht und dass es sehr lang und von beträchtlicher Breite, aber mit Gras überwachsen ist. Man hat sofort den Eindruck, auf einer alten, jetzt aufgegebenen Strasse zu stehen, und so ist es auch; wir haben die alte Gotthardstrasse vor uns. Diese zweigte 15 Minuten südlich des jetzigen Bahnhofes Biasca von der neuen Strasse Osogna-Biasca ab und führte, ohne Biasca zu berühren, direkt zur Brennobrücke. Aber nicht nur diese, am Anfang des 19. Jahrhunderts gebaute Strasse, verlief so, sondern auch die alte Saumstrasse über den Gotthard führte, nach alten Karten, an Biasca vorbei. Nur ein schmales Strässchen verband sie bzw. den Weiler Ponte mit dem Flecken. Dieses Strässchen, heute fast eher ein Feldweg, zweigt unmittelbar nördlich des Bahnüberganges von der alten Gotthardstrasse ab. Im Flecken wird es zur Via Sulgone, an der das Landhaus Pellanda liegt. Gewiss war es einst eine Hauptgasse des alten Biasca, denn seine direkte Fortsetzung ist die am linken Ufer des Riale di Chiesa zur Stiftskirche ansteigende Gasse.

Die Via San Gottardo ist also neuern Ursprungs, sie entstand mit der Gotthardstrasse, wenn nicht noch etwas später, um diese mit dem Flecken zu verbinden. Heute ist die Umgehungsstrasse, die « Strada vecchia », wo sie in die Strasse Osogna-Biasca einmündete, zerstört. Seltsamerweise wissen nicht einmal die sogenannten ältesten Leute mehr, übereinstimmenden Aufschluss zu geben, wann die Zerstörung erfolgte. Die einen geben die Wasserkatastrophe von 1868 schuld, andere verlegen die Zerstörung auf einen spätem Zeitpunkt.

Die Gotthardpost fuhr also nicht durch Biasca selbst. Haltestelle für den Flecken war Ponte. Ebenso war es auch mit der Säumerei gewesen. Die Sust für den Gotthardverkehr, wo die Kaufmannsgüter über Nacht lagerten, lag ebenfalls in Ponte draussen. Daneben war die Weide, wo sich die von der Last erlösten Maultiere tummeln durften, und nebenan stand selbstverständlich ein Wirtshaus für die Säumer oder « Mulatèr », wie sie hiessen, und wohl auch für die Herren Reisenden und durstigen Fusswanderer.

Schwerlich wird Biasca immer derart umgangen worden sein. Das geschah wohl erst, als der Verkehr über den Gotthard so stark überhand genommen hatte, dass der Lukmanier zu ganz nebensächlicher Bedeutung herabgesunken war. Vorher, als beide Pässe ungefähr gleich stark benützt wurden, mussten die Reisenden jedenfalls durch den Flecken. Dort an der Strassengabel lag das offizielle Biasca. Dort mussten sich ursprünglich Sust und Säumerstation befunden haben, und zum Nachdruck erhob sich über ihnen die Burg.

Auf der langen, schnurgeraden Strada vecchia ist es, nebenbei bemerkt, ganz angenehm zu schlendern. Kein Auto hüllt einem da in Staub und kein Velo droht uns über den Haufen zu rennen. Die Strasse endigt heute mitten im Felde draussen. Wenn man südwärts ein Stück neben Biasca vorbeigewandert ist, steht man plötzlich vor einer Hecke aus Steinplatten, die sich quer über die Strasse zieht. Jenseits setzen sich ihre Spuren fort. Es kommt dann aber bald jene Stelle, wo der Strassen-körper stark beschädigt ist und schliesslich ganz verschwindet. Es ist nicht leicht, zu entscheiden, wer die Hauptschuld an dieser Zerstörung trägt, ob der Ticino oder die Runsen der Val Alta und Val Scura. Wahrscheinlich sind alle beteiligt. So unermesslich gross kommt einem der Schaden nicht vor, dass man ihn nicht gut hätte reparieren können. Aber das lag nicht im Interesse der Biaskesen, und sie werden sich schwerlich darum bemüht haben, die Strasse, die ihnen vor der Nase vorbeizog, wieder in Betrieb zu bringen. Sie werden vielmehr dahin gewirkt haben, dass die Gotthardpost durch den Flecken ging. So blieb denn die Strada vecchia unbenutzt und dient heute nur noch als Feldweg. Die Gegend bei der Zerstörungs-stelle heisst « Capeila del prevosto » ( Propstkapelle ). Die Kapelle ist in Trümmer gesunken und verschwunden, aber die Erinnerung, die sich an sie knüpft, ist geblieben ( siehe Kapitel 5 ). Schön ist von der Strada vecchia aus der Blick auf den Monte di Biasca, besonders im Frühling, wenn ihn die vielen und hohen Wasserfälle beleben und wenn zu unterst über der Flussebene der Riviera der Camoghè noch im Schneekleide glänzt.

Von Ponte führt ein Feldweg nördlich der Via San Gottardo zum Flecken zurück, den man auf ihm am Nordausgang wieder erreicht. Man gelangt dabei zur Häusergruppe Casa Tinetti ( Cà Tinetti ), wie denn auch wirklich die Leute, die dort wohnen, fast ausnahmslos Tinetti heissen. Merkwürdiges haben diese Häuser nicht an sich, sie sehen aus wie alle Tessiner Bauernhäuser, mehr malerisch als komfortabel und stellen an die Genügsamkeit hohe Ansprüche. Wie nirgends, fehlt auch hier die Laube nicht, die hier den wahrscheinlich aus dem Deutschen übernommenen Namen « Lobbia » führt. Auf der Lobbia prangen die goldgelben Maiskolben, der Stolz der Tessiner Bauern, ohne welche Zierde sein Haus eigentlich gar nicht denkbar ist. Die Tinetti sind Biaskeser Bauern von echtem Schlage, altansässig und selbstverständlich « Patrizi ». 1570 haben Angehörige dieser Familie den Kardinal Carlo Borromeo in die Val Pontirone hinein getragen ( siehe Kapitel 10 ). Im Winterhalbjahr wohnen die Tinetti hier, nachher wandern sie zu ihrer Maiensässe Sulgone empor, am Eingang der Val Pontirone, und dann ziehen sie auf die Alpen. So geht es Jahr um Jahr, wer weiss wie viele Jahrhunderte schon. Jemand bleibt selbstverständlich immer im Tale zurück, aber auch im Sulgone oben, das man von hier aus gut sieht, hat es sogar den Winter über fast immer einige Leute.

Auch auf dem Wege über Casa Tinetti kommt man vielfach an den für die Riviera typischen Pergole vorbei, die von steinernen Stützen getragen werden. Sogar über die Wege spannen sie sich gelegentlich und spenden so angenehm Schatten. Im Herbst, wenn sie voll Trauben hangen, ist die Verführung für den Wanderer gross. Weil die Welt bekanntlich immer schlechter wird, hat man die neuen Pergole an der Via Sulgone recht hoch gemacht, so dass nur das Auge allein sich erquicken kann. Schon Franscini ist die Eigenart der Biaskeser Pergole aufgefallen, und er schreibt von ihnen, dass sie so nieder seien, dass kaum ein Sonnenstrahl unter sie falle.

Auch Maulbeerbäume erblickt man auf den Feldern, aber nicht so zahlreich wie in einer richtigen italienischen Landschaft, denn die Seidenraupenzucht hat in Biasca nie recht Fuss zu fassen vermocht.

Bei einem Gang durch die Felder der Tessinebene fällt einem stets der an vielen Stellen, besonders in der Nähe der Flüsse, leichte, fast sandähnliche Boden auf. Auch bei Biasca ist das so, und merkwürdigerweise gedeihen die Maisstauden in diesem Sande ganz üppig. Diese Erde ist angeschwemmter Flussschlamm, vorzugsweise ein Verwitterungsprodukt des Glimmerschiefers. Es ist ein grosses Glück für die Gegend, dass diese Flussablagerungen fruchtbare Erde ergeben, sonst wäre die Tessinebene, besonders um Biasca, eine Wüstenei.

Habe ich als Einführung zu dieser Monographie die Worte unseres Dichters Carl Spitteler angeführt, so will ich nun die Wanderung durch und um den Flecken Biasca damit beschliessen, dass ich über ihn noch einen seiner Bürger zur Sprache kommen lasse. Der verstorbene Schulinspektor, Isidoro Rossetti, schrieb über sein geliebtes Biasca:

« A 300 metri sul livello del mare, là dove l' impetuoso Brenno si confonde col rumoreggiante Ticino e le tre valli di Blenio, Leventina e Riviera si incom-brano, come tre sorelle che si rivedeno per stringersi la mano amica e narrarsi, a vicenda, i segreti del cuore, a piedi dell' aspro e minaccioso Crenone, fiancheg-giato, a meriggio, dalle romantiche cascatelle di Santa Petronilla, a borea, dalle immani macerie della buzza, in seno ad una fertile pianura, primo lembo di terra che, a giusto ragione, può dirsi fecondata ed abbellito dal simpatico sorriso del-l'italico sole, popolato da ben 2600 liberi cittadini — giace — non senza qualche invidiuzza l' antico Abiasca. » Wer nun anhand dieser kleinen Schrift einmal Biasca und seine Umgebung durchstreift, mag dann für sich selbst entscheiden, ob es sich lohnt, diese Gegend nur aus einem Fenster des vorbeisausenden Bahnzuges zu betrachten, oder ob es ihn besser dünkt, den historischen Boden Biascas für einige Stunden betreten zu haben.

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