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Almageller Eindrücke

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SOMMER 1959 VON IMMANUEL LIMBACH, ZÜRICH

Es hat keinen Sinn, über das Saastal und seine Wander- und Bergsteigemöglichkeiten zu schreiben. Wir besitzen schon viele gedruckte gute Bücher und Berichte darüber, die uns eingehende und genaue Angaben über Ausführbarkeit, Weg und Richtung, über Schönheit oder Gefährlichkeit geben, über blosse Wanderwege oder Klettertouren.

Persönliche Eindrücke aber sind immer neu, eben weil sie persönlich sind. So versuchen wir, einige Beobachtungen und Eindrücke aus unsern Almageller Ferientagen wiederzugeben, die wohl mehr von der menschlichen als von der bergsteigerischen Seite Teilnahme erwecken dürften, vielleicht aber gerade bei jenen, die Tal und Leute schon kennen, oder solchen, die sie kennenlernen möchten.

1. Durchs Centovalli Von Zürich fuhren wir über den Gotthard nach Bellinzona und von dort nach Locarno. Diese Fahrt machte uns eigentlich viel weniger Eindruck, als wir nach vierzig Jahren erwartet hatten. Damals fuhren wir im ersten Weltkrieg als junge Soldaten dieselbe Strecke und empfingen viele unerwartete Eindrücke, die jetzt in unserer Erinnerung hafteten. Auch heute noch bot die Gegend jenseits des Gotthards einen andern, wirklich fremdartigen Anblick, einen fremdartigen Einschlag in der Natur. Der südliche Charakter liess sich sogar von der Bahn aus leicht erkennen. Aber offenbar waren wir älter geworden, so dass die Magadinoebene enttäuschend auf uns wirkte, weil Menschenhand, Verkehr und Industrie allzu deutliche, unliebsame Spuren aufwiesen im ursprünglichen Angesicht der Natur, in unserem Erinnerungsbild. Auch Locarno zerstörte fast völlig das schöne, idyllische Traumbild jener Soldatenzeit. Unter einer trüben Wolkendecke liegend, war sie eine moderne, überfremdete Stadt mit einem eiligen, unruhigen Verkehr geworden, deren Strassen und Seeanlagen mit den fremdländischen Bäumen und Büschen sich ganz diesem Getriebe angepasst hatten. Trübes Wetter und Nebel liessen uns den geplanten Ausflug auf die Madonna del Sasso nutzlos erscheinen, so dass wir eben in der Stadt umherbummelten, Leute und Läden betrachteten und uns endlich in der freien Gartenwirtschaft eines Hotels am Rande der Seeanlage im Anblick der Palmen niederliessen, als wären wir in eine verwunschene Gegend geraten. So erwarteten wir die Abfahrt ins Centovalli.

Am Locarner Bahnhof sahen wir ein unruhiges, herrisch und rücksichtslos auftretendes Volk. Mit Erstaunen vernahmen wir nicht die Tessinersprache, sondern meist das schnarrende Deutsch von jenseits des Rheins. Bahnangestellte und Gepäckträger sprachen und riefen italienisch aus, gaben aber willig nach ihren Kenntnissen auf deutsche Fragen freundlich deutsch Antwort, ganz » zum Unterschied zu ihren welschen Miteidgenossen in Lausanne, die uns anstarren und tun, als verstünden sie kein Wort Deutsch. Hier ein unhöflicher, verkehrter Nationalstolz, dort natürliche Liebenswürdigkeit unserer liebenswerten Tessiner. Wir fragten nach der Station der Centovalli-bahn. Man zeigte am Bahnhof vorbei auf einen grösseren Platz, wo einige « Tramzüge » standen. Dort sollten wir einsteigen. Es standen nebeneinander zwei solcher Züge, die unserm Forchbähn-chen glichen, vorn ein längerer mit neuen Wagen, dahinter einige bejahrte Kasten mit merkwürdiger Bestuhlung ( nicht Bänke ). Man forderte uns auf, diese alten Häuser zu beziehen, da das Luxus-expresszüglein direkt nach Domodossola fahre, das ältere aber den Lokalverkehr bediene. Und wir wollten ja heute nur bis Intragna fahren. Wir staunten über das Erstklassabteil: Tische und alte Polsterstühle standen frei beweglich umher Man glaubte sich in einer Gastwirtschaft zu befinden und erwartete den Kellner. Wir lachten und liessen uns nieder, und schon fuhr das Züglein an. Es fuhr ein Stück im Bogen um die Stadt herum, bis es ins freie Gelände und zwischen Reben und Obstbäumen bergan dem Centovalli zustrebte. Die Gegend wurde naturhafter und unberührter; ja, von Pontebrolla an drückte sich mehr und mehr etwas Wildes und Ungebärdiges in die nähere Umgebung ein, erst durch die Maggia, dann durch die Melezza, die den Menschen zu allerlei kunstvollen, reizenden Viadukten über die felsigen Flusstäler zwangen. Da unten hörte man ein Zischen und Brodeln, das oft merkwürdige Uferformen bildete.

Allmählich treten die dichtbewachsenen Hügelketten näher zusammen, um die Zügellosigkeit des Wasserkindes einzudämmen Wir fahren jetzt ins eigentliche Centovalli ein, das uns den ruhigen und erhebenden Eindruck einer Gegend jenseits des zivilisatorischen Getriebes macht. Es ist ein landschaftliches Paradies, diese stille, beruhigende Einsamkeit. Der einzige Lärm sind das Rasseln und die Pfeifsignale des Zügleins, das wie ein heiterer Kobold die Landschaft belebt. Das einsame Strässchen tritt nur gelegentlich hervor und stört nicht durch das Autorasen anderer Strassen. Dort, wo der Isorno in die Melezza einmündet, sich wie Mann und Frau brausend und leidenschaftlich begrüssen, gleiten wir über eine hohe eiserne Brücke.Von Ortschaften sieht man wenig; sie haben sich wie Feen im Märchen zwischen Obstbäumen und Reben versteckt. Doch diese treten auch mehr und mehr zurück, vertrieben von den einzigartig schönen Kastanienwäldern, die bis hinauf auf die Höhen zu beiden Seiten des Tales steigen und diesem sein eigenartiges, träumerisches Gepräge geben. Fast glaubt man, durch Urwald zu fahren. Jetzt bildet die Bahn einen grossen Halbkreis, man hört das Rasseln deutlicher, der Zug gibt Pfeifsignale, und bald fahren wir vor dem Bahnhof von Intragna an. Aber wo ist denn das Dorf? Wir fragen einen Bahnbeamten nach der Osteria Bastelli. Er weist auf ein steiles Weglein den Hang hinauf, und bald entdecken wir oben das Fahrsträsschen, das vom Tal hinauf am Dorf vorbeiführt. Jetzt glauben wir uns in die Zeit der Romantik zurückversetzt. Die Häuser sind ganz aus Stein gebaut, lose und ohne Kunst zusammengefügt und gerade deshalb reizend wirkend wie alles Primitive: enge, steile, sehr unregelmässige Gässchen, die in dunkle Höfe führen und zu dunkeln Portalen. Wir schauen hinein. Im Halbdunkel steigen enge steinerne Treppen hinauf zu den Wohnungen, ohne Regelmässigkeit, aber deshalb unsere besondere Neugier weckend. Dann wieder Strässchen mit richtigen Arkaden, weiter oben ein eingeschlossener Dorfplatz und eine verhältnismässig grosse, weit hinausblickende Kirche, wie eine Königin ob dem Traumdorf thronend. Sie schenkt uns einen märchenhaft schönen Ausblick auf ein zauberhaft verborgenes Tal und Gebiet.

Die Osteria, die im untern Dorfteil liegt, passt sich durchaus in Bauart, mit Vorterrasse und Eingangsportal der ganzen Dorfromantik an. Der Wirt aber ist ein Zürcher.

Nach dem sorgfältig bereiteten Essen bummeln wir die Dorfgässchen hinauf und wieder hinunter auf das Talsträsschen, über eine hohe Brücke mit Ausblick in die Tiefe und Ferne des Tales mit seinen wilden Flüsschen und seiner stillen Ruhe. Wir sehen erst jetzt den unteren Teil des Dorfes, gelangen wieder zum Bahnhof und steigen unsern Pfad empor. Oben - es ist schon Abend - setzen wir uns auf ein Bänklein und atmen mit tiefen Zügen die Feier und grosse Ruhe, die wunderbare grüne Einsamkeit der unter Kastanien sich bergenden Hänge und Höhen ein. Keine Stimme, kein Geräusch oder Lärm, obschon hinter unserm Rücken das Strässchen hinaufführt. Es hat für uns Städter etwas Beseligendes, fast Unwahrscheinliches, diese Ruhe, dieser Friede, diese Abgeschlossenheit. Nur ein altes Weiblein klimmt mühsam vom Bahnhof herauf. Gerne lässt es sich neben uns nieder, um Atem zu schöpfen, gerne plaudert es ein wenig in gebrochenem Deutsch. Wir betrachten dann die Häuser der Strasse entlang, die teilweise auch das verwitterte, romantische Angesicht zeigen. Schönheit und Zerfall - wie nahe liegen sie beieinander! Einige Palmen fallen uns in der Wildnis links und rechts auf, besonders aber eine grosse Vorliebe für grosse, prächtige, aber schon abgeblühte Hortensien. Wir kehren nun zur Osteria zurück. Im Innenhof hat ein Maler seine Bilder ausgestellt, hübsche Tessiner Landschaften; aber sein eigener Charakterkopf macht uns einen stärkeren Eindruck. Er verhandelt mit einem Gast wegen eines Verkaufs, der ihm durch geschickt vorsichtige Überredungskünste zuletzt gelingt. Seine sicher arme Malerseele hat wieder mal dreihundert Franken verdient. Er wohnt ganz in der Osteria und steht sehr gut mit dem Wirt. Bald steigen wir in unser sauberes Zimmer hinauf mit der Absicht, uns zum Schlafe niederzulegen. « Doch mit des Geschickes Mächten -. » Unten in der Wirtschaft sammelt sich ein tanzlustiges Jungvolk. Man hört das Rufen der Burschen, das helle Lachen der Mädchen. Drei Sprachen tönen herauf: Italienisch, Französisch und Deutsch in lautem, aber friedlichem Durcheinander. Bald ertönt Musik. Das Tanzen und Treiben wird immer toller. Erst nach zwölf Uhr verabschieden sich in strömendem Regen, aber heiterer Stimmung, die einzelnen Paare. Halb ein Uhr ist Ruhe.

Wir benützen am andern Morgen den « Frühexpress », für den wir uns am Tag vorher anmelden mussten, weil er sonst stolz bei Intragna vorbeigefahren wäre. Das Wetter ist wunderbar, auch unsere Laune für die Fahrt hinan. Und welche Fahrt! Immer in halber Höhe und über dem Strässchen, den Schluchten, an grünen Kastanienhängen hin, zwischen den Bergen des Centovalli, überall unberührte Natur! Und drunten überspringen wie mutwillige Ziegenböcklein die Steinbrücken in elegantem Bogen die Schluchten und mutwilligen Bergwasser. Immer hinan springt auch unser elegantes Züglein, über den Viadukt bei Camedo. Wir bekommen allerlei freundlichen Besuch: Mit einem Bonjorno wird die Fahrkarte verlangt, mit einem ebenso freundlichen Gruss eilt jenseits der Grenze der Zöllner durch den Wagen mit der flüchtigen Frage nach Zollgut und einem noch flüchtigeren Blick hinauf zu den Gepäckträgern. Auch die Passkontrolle ist liebenswürdig und rasch erledigt. Zuletzt taucht noch einer mit einem Speise- und Verkaufswägelein auf; darauf sehen wir reizende geflochtene Weinfläschchen. Wir kaufen einige als Andenken an diese Fahrt. Der Zug hat die Höhe erreicht, die Hänge treten zurück und lassen einer breiten Hochfläche Raum. Und dort drüben liegt ganz im Grün der Tannen und Laubbäume wie eine Prinzessin im Naturparadies Santa Maria Maggiore. Bald sehen wir auf das Flachland von Domodossola hinab, und weiter zurück gewahren wir das weisse, königliche Haupt der Weissmies, dahinter ja unser Reiseziel liegt. In steiler Fahrt abwärts zwischen Weinbergen und Kastanienwäldern kommen wir bald in das ebene Tal von Domodossola, und unser Märchentraum ist zu Ende.

O das schreckliche Treiben am Bahnhof, die Simplonzüge vollgestopft und vollbelegt von einem internationalen, anmassenden, unbändigen Reisevolk, das Rennen und Rufen der Gepäckträger! Der reinste Hexenkessel nach dem Frieden des Centovalli! Kaum finden wir einen Platz, weil manche Reisende drei für sich beanspruchen und nur missmutig einen freigeben. Dann das Rasseln durch den Simplon, das Warten in Brig bei einem ausgezeichneten Eiskaffee. Endlich im Zug nach Zermatt. Neues unbequemes Warten in Stalden. Die Postautos stehen zwar bereit, sind aber verschlossen. Die Fahrgäste sammeln sich nach Abgabe ihres Gepäcks und warten und warten vor der Eingangstür. Nicht gerade liebliche Gerüche schweben vom Kellerabtritt herauf, heiss brennt die Sonne von oben herunter. Aber man muss warten, warten! Fällt jemandem ein, diese Zeit zu nützen und hinab in den Kellerraum zu steigen, kommt er bald entsetzt wieder herauf und - wartet! Wartet bis der letzte Kinderwagen, der letzte Hundekorb im Anhänger des Autos verstaut ist, das letzte Päcklein verschwunden ist. Jetzt endlich bequemt sich der Postangestellte, auch an die wartenden Fahrgäste zu denken. Er liest die lange Liste langsam ab. Die Gäste steigen ein, und endlich bewegt sich das Vehikel das Dorf hinan nach Saas-Fee und Almagell. Hurra!

2. Vom Strassenbau und Mattmarkwerk Wenn man im Postauto ob Stalden auf der neuen Brücke über die Vispa fährt, fast erschrocken in den Flussabgrund hinabblickt und nach der alten Brücke Ausschau hält, wird das staunende Auge durch ein kühnes Baugerüst etwas weiter flussabwärts abgelenkt. Es ist recht vielfältig und für unsern Anblick verwickelt aufgestellt wie ein schwieriges Zusammensetzspiel. Es schwingt sich in verwegenem Bogen über die Schlucht, aus deren Tiefe man noch das Tosen des wilden Flusses vernimmt Daraus und darüber soll die allerneueste Brücke sich aufbauen, weil unsere Brücke dem rasch wachsenden Autoverkehr ins Matter- und Saastal nicht mehr genügen kann, um so weniger, als die ganze Saastalstrasse ausgebaut und erweitert und bis Mattmark weitergeführt werden soll. Die neueste Brücke soll nun ausschliesslich den Verkehr ins Saastal auf sich nehmen und unsere bleibt dann dem Mattertal vorbehalten.

In kühnem Bogen steigt jetzt unser Auto bergan, dass man die Sicherheit des Führers bewundern muss. Die Strasse ist recht gut ausgebaut, und das Auto kommt ungehindert rasch vorwärts. Kaum beachtet man entgegenfahrende Wagen, weil genügend breite Ausweichstellen vorhanden sind. Aber die Fahrt bleibt nicht so angenehm. Weiter aufsteigend erreicht man die Stellen, wo noch alles im Umbruch und Bau ist. Viele Stützmauern sind zur Rechten erstellt und schützen die Strasse vor dem Nachrutschen des Hanges. Sie sehen mit ihren guten Quadersteinen recht zuverlässig und vertrauenerweckend aus. Die linke Strassenseite steht noch im Umbruch. Aufschüttstellen, die weit bis in den Abgrund fallen, weil ein Teil des Aufgeschütteten hinabgerollt ist, verraten den Bau weiterer Ausweichen. Wieder rechts ist der Steilrain erst durch ein Drahtnetz gesichert, bis auch dort die Stützmauer erstellt werden kann. Je nach den Verhältnissen streben sie zwei, drei Meter oder höher hinauf. Weiter oben sind schon prächtige Galerien erstellt gegen Steinschlag, Erdrutsch, Wasser und Lawinen. Sicher fährt der Wagen hindurch; denn durch Fensteröffnungen fällt genügend Licht ein. Zwar beim Ein- oder Ausgang ist manchmal Vorsicht geboten; es liegt dort noch Material umher, und die Strasse selbst ist nicht vollendet. Immer droht zur Linken der Abgrund. Je weiter wir hinaufkommen, desto schlechter wird die Fahrstrasse. Sie ist oft aufgerissen, von Baumaterial belegt, von Schutt und Erde überschüttet und gleicht dann eher einem Bauplatz. Der Lenker fährt mit äusserster Vorsicht « im Schritt »; dennoch schaukelt der Wagen wie ein Schifflein auf den Wellen. Am Wegrand stehen die Arbeiter mit Schaufel und Pickel, wartet der Ingenieur mit dem Meßstab in der Hand. Wir winken ihnen zu. Sie erwidern aber nur mit mattem Lächeln, und wir begreifen es. Der Führer muss oft bis nah an den Strassenrand ausweichen. Er tut es sicher und gewohnt.

Nicht immer sehr rücksichtsvoll, oft gedankenlos und dumm erweisen sich die von oben Ent-gegenfahrenden. Sie sehen und hören das Nahen des Postautos, fahren jedoch zu, bis beide Wagen voreinander stehenbleiben müssen. Ein Ausweichen ist an vielen Stellen unmöglich. Das Postauto mit seinen vielen Fahrgästen hält sich immer bergseits und hat das Vorfahrrecht. Es geht oft lange, bis der andere Lenker oder gar die andere Lenkerin begreifen, dass sie rückwärts zur nächsten Ausweichstelle fahren müssen, was oft nicht ungefährlich ist. Aber es geschieht ihnen recht. Jeder kann sich ja nach den Fahrzeiten des Postautos erkundigen. Kleine Wagen flitzen oft mit der grössten Frechheit knapp am Postauto vorbei und knapp am Rande des Abgrunds. Andere warten die längste Zeit bergseits, bis das Postauto knapp über dem Abgrund an ihnen vorbeigefahren sei, nach dem Wort: « Heb du de Grind ane! » Aber der Postführer steigt aus und erteilt die nötige Lektion. In all den schwierigen Lagen bewundern wir die Ruhe, Geduld und Sicherheit unserer Pöstler. Sie erwecken das Vertrauen der Fahrgäste.

Es wird fleissig und systematisch am Strassenbau gearbeitet. An manchen Stellen muss die Felswand gesprengt werden, um die Strasse zu verbreitern. Der Bau einer Bergstrasse ist sicher kein leichtes Stück und erfordert viele Kenntnisse, viel Energie, Geduld und Geld und viele zuverlässige Arbeiter. Wir Mitfahrer sind zwar interessiert, aber jedesmal auch erleichtert, wenn ein freier, fertiger Abschnitt unbehindert und ungeschüttelt befahren werden kann.

Der Strassenbau von Almagell nach Mattmark ist so weit vorangetrieben, dass Lastwagen und Jeeps nach hinten fahren können. Sie bringen täglich Materialien dorthin, die zum Bau der Staumauer benötigt werden. Besonders fallen uns die häufigen Lastwagen mit Zementsäcken auf. Das Grundmaterial in Mattmark wird benutzt und vermengt, und man hört recht verschiedene Ansichten über die Dauerhaftigkeit des zukünftigen Dammes. Mancher Almageller äussert seine Besorgnisse und denkt im stillen an das Verderbnis, falls der Staudamm sich nicht als fest erweisen sollte. Auch wir denken nach den kürzlichen Ereignissen in Fréjus daran. Die meisten Almageller haben für den Bau des Dammes gestimmt; denn der Gemeinde erwächst daraus ein Geldgewinn. Ob sich die Hotelbesitzer eine Zu- oder Abnahme des Fremdenverkehrs versprechen, konnte ich nicht erfahren. Das alte Mattmarkhotel soll ja verschwinden und ein neues am Rand des Stausees errichtet werden. Auch der alte Moropasspfad soll zu einem richtigen Strässchen ausgebaut werden.

Ob die wenigen, die gegen das Unternehmen gestimmt haben, vorausschauender gewesen sind, wird erst die Zukunft erweisen. Das Werk wird noch manches Jahr beanspruchen.

3. Auf zum Gornergrat!

Faul, wie wir waren, wollten wir eines Tages eine mühelose, aber trotzdem grossartige Hochtour unternehmen. Aber wohin? Weil der Grossbetrieb noch nicht eingesetzt hatte, wählten wir den Gornergrat, der ja ohnehin auf unserem Programm stand, trotz des misslichen Drum und Dran. So fuhren wir mit dem ersten Postauto nach Stalden und stiegen dort in die Zermattbahn um. Merkwürdigerweise fuhr nur der kleinere Teil der wartenden Menge nach Zermatt, meist Deutsche und Engländer. Die andern reisten mit dem Zug talabwärts nach Visp - die Vorsaison wird immer häufiger benützt.

Im Zug sassen in unserer Nähe zwei Deutsche. Ununterbrochen schwatzte die Frau auf den Mann ein, dessen Worte ebenso zurückklapperten und unsere Ohren bedrängten. Sie konnten sich nicht von ihren heimatlichen und geschäftlichen Dingen befreien, sahen kaum den tobenden, Wasserstürze und Wirbel bildenden Bergbach, der oft ganz nah unter der Bahnlinie rastlos dahin-trieb und sein rauhes Berglied sang; sie bestaunten nicht die jähen Felswände zur Rechten, die steil-anstrebenden Berghänge zur Linken. Kaum wurde ihnen das Anhalten des Bähnleins an den Ortschaften des Mattertales bewusst, und sie blickten nicht wie wir hinauf nach der gefürchteten Ab- sturzstelle ob Randa, wo allerdings auch wir nichts Besonderes entdecken konnten. Schon lange vor Zermatt gewahrten wir den berühmten Zahn des Matterhorns. Gleich nach dem Aussteigen verloren wir die beiden aus den Augen, weil der Sturm zur Gornergratbahn einsetzte, der alle mitriss und doch weit gnädiger ablief als früher, so dass jeder seinen bequemen Sitzplatz gewann.

Diese Bergfahrt ist schon ein einzigartiges Erlebnis. Immer höher klettert die Bahn über Zermatt hinauf, und man gewinnt erst jetzt einen Überblick über den weitausgebreiteten Fremdenort. Die Schau wird immer freier und höher, auch weit ins Mattertal hinein. Mettelhorn, Gabelhorn, Dent Blanche und Matterhorn erheben sich wie stolze Riesen jenseits des Tales. Dann dreht die Bahn ab, und wir gewinnen eine völlig veränderte Schau aufs Mattertal und den nahen Findelenbach. Ob Riffelalp beobachten wir immer häufiger einzelne Bergwanderer auf dem schönen Pfad zum Gornergrat. Wir jauchzen ihnen zu, ihre Antwort klingt etwas spöttisch oder mitleidig. Jetzt fährt man durch eine lange Galerie steil hinan, bis zur Rechten die prachtvollen Gletscher und dahinter die urgewaltigen Bergriesen uns winzige Bahnfahrer gnädig betrachten. Wir steigen aus, befreien uns vom Schwärm der Mitfahrer und stehen bald vor der geschmacklosen Hochburg des Hotels, die uns wie eine Verhöhnung der Bergeswucht erscheint.

Der Ausblick ist einzigartig, grossartig im wahrsten Sinn und erhaben. Schon die weitausgedehnten Gletscher, auf die man hinab- und hinüberblickt, die so weit nach hinten ansteigen, für den Wanderer so mühelos erscheinen, besonders der fast eben sich uns vortäuschende Gornergletscher! Was soll ich berichten von der Dufourspitze links, dem Hochgrat des Lyskamms, von Kastor und Pollux, die alle noch im Sonnenglanz stehen! Den gewaltigsten Eindruck aber macht uns das Breithorn, weit stärker als der abseits aufsteigende, prahlerische und doch so simple Zacken des Matterhorns. Das Breithorn bietet wirklich einen erhaben schönen, breit ausladenden Anblick, reiche Formenabwechslung mit seinen hinabstrebenden Gletschern und Felskämmen. Es steht als stolzer, behäbiger König zwischen Pollux und Kleinmatterhorn und lenkt den Blick von jenem hohen Zacken drüben ab.

Das Wetter hat sich verschlechtert, über die Gletscher schleichen erst Schatten, dann ziehen graue Nebel herauf, und der Himmel trübt sich. Wir betreten zeitig den Speisesaal ganz vorn, wo man auf Gletscher und Berge sieht. Bald nachher sind die Tische neben und hinter uns besetzt. In kaum zehn Minuten verdunkelt sich die Bergwelt, urplötzlich stürzt ein Gewitter über uns herein, Blitze zucken über den Gornergletscher, gewaltig dröhnt und rollt weithin der Donner. Die Berge alle sind hinter einer unheimlichen Grauwand verschwunden. Wir aber sitzen in Sicherheit und lassen uns ein recht gutes Mittagessen und einen feinen Johannisberger schmecken. Wir müssen nun allerdings auf unser letztes Reiseziel, das Stockhorn, verzichten: die Abfahrtszeit der Luftseilbahn ist längst vorüber, als der Gewittersturm wieder abgezogen ist. Dort drüben sehen wir jetzt das Stockhorn als würdigen Abschluss des Gornergrats inmitten von Gletschern. Die Abfahrt aber der nächsten Luftkabine ist für uns zu spät. So entschliessen wir uns mit einem dankbaren Ausblick auf die wiedererhellte gewaltige Bergwelt zur vorzeitigen Rückfahrt nach Zermatt. Auch diese, mit dem Glänzen und Flimmern des entschwundenen Gewitters auf den Matten, mit dem blassem Schein auf den Gletschern und Hängen ist ergreifend schön. Auf den Pfaden wandern wieder Leute mit Rucksäcken und Bergstöcken und winken uns zu. Wir bedauern nun wirklich, dass wir die Rückkehr über die schönen und sanften Alpweiden auf den sichtlich heitern Wegen nicht zu Fuss unternommen haben, und geloben uns, es das nächste Mal zu tun.

In Zermatt haben wir einen längern Aufenthalt. Wir schlendern der ganzen Länge nach durch das Dorf, ohne Entzücken, ohne Begeisterung. Alles scheint uns nur auf Fremdenverkehr und Fremdenausnützung eingestellt, ist nicht eigenartig und ursprünglich, sondern eben ein heraus- geputzter Fremdenort aus alten Buden und modernen Gebäuden. Der Verkehr auf der Hauptstrasse ist ruhig, die wenigen Autos lärmen nicht, und ergötzlich wie aus entschwundener, seliger alter Zeit eilen etwa auf Gummirädern die Einspännerkütschlein zum Bahnhof und zurück zum Hotel. In einer grössern Gartenwirtschaft betrachten wir uns geruhsam den Verkehr und bummeln dann zum Bahnhof zurück. Dort ist das Treiben stärker und unangenehmer. Im Zug taucht alles wieder in uns auf, nicht Zermatt, nicht die Bergfahrt mit den vielen Leuten, sondern der grossartige Ausblick auf Gottes erhabene und leuchtende Gebirgswelt, auf das Gewitter, das uns alles verbirgt, auf die Gletscher und die dahinter ewig unverändert und unberührt emporragenden Bergriesen.

4. Am Portjengrat Von der Almageller Alp aus sieht man im Osten zwischen der Weissmies und dem Sonnighorn den langgestreckten Höhenzug des Portjengrats, der gegen die Alp nicht allzu steil abzusinken scheint, auf den Zwischbergengletscher nach Italien aber schroff abstürzt. « Seine Besteigung muss nicht sehr schwierig sein », denkt sich der müssige Beschauer, der bei einem Glas Wein vordem Hotel sitzt und abschätzend hinüberschaut. « Man muss schon die Aufstiegsstellen kennen », erklärt vorsichtig die Wirtin, lässt sich aber nicht weiter auf nähere Erklärungen ein - die Wäsche wartet unter dem Drahtseil. Ich überlege mir im stillen, ob ich den Grat wohl bewältigen könne. Heute kommt dies nicht in Frage, es ist ja schon Nachmittag.

Anderntags erfreute uns der Ausflug auf den Gornergrat. Bei unserer Rückkunft erfuhren wir betroffen, ein schweres Bergunglück hätte sich am Portjengrat ereignet.

Ein Arzt aus Wabern bei Bern wollte mit Frau und zwei halbwüchsigen Söhnen den Grat besteigen. Er hätte früher schon zweimal als geübter Bergsteiger allein versucht, den Grat zu gewinnen. Es sei ihm aber beidemal misslungen. Nun wollte er es ein drittes Mal versuchen. Was ihn bewog, ohne Führer diesmal Frau und Buben mitzunehmen, ist schwer zu sagen. Vielleicht verleitete den doch schon altern Vater die Begeisterung und der Wagemut der Jungen zu einem Unternehmen, das das Glück der Familie zerstören sollte.

Abends zuvor wurde bis weit in die Nacht hinein im Hotel Almagelleralp das geplante Ereignis fröhlich gefeiert, und erst nach Mitternacht legte man sich zur kurzen, vielleicht auch schlaflosen Ruhe. Denn vor 4 Uhr sollte aufgebrochen werden. Es zeigten sich leichte Nebelbildungen, die sich aber bald auflösten. Der Anstieg liess sich gut an, die beiden Alten waren geübt, die Jungen frischen Mutes und voll Jugendkraft. Man gelangte an die Stelle, die früher schon zweimal dem Vater getrotzt und ihn zur Umkehr gezwungen hatte: die Porte, eine etwa drei Meter hohe, leicht überhängende Wand, deren Griffe man jedoch genau kennen musste. Allzu schwierig wäre die Sache für geübte Bergsteiger nicht gewesen, wenn nicht ein 250 Meter tiefer, senkrechter Absturz bis hinab zum Gletscher das Gemüt beunruhigt hätte. Wahrscheinlich glaubte der Arzt, die Örtlichkeiten und Griffe vorher genügend beobachtet und sich eingeprägt zu haben und mit der Seilgemeinschaft seiner Angehörigen die schwierige Stelle mit der nötigen Sicherung schon bewältigen zu können. Ob er mit der nötigen Sorgfalt den Seilverband nochmals prüfte? Er kletterte als erster voran, während die Söhne sicherten. Er erreichte schon mit den Händen den obern Rand des Wändchens, glitt aus und riss seine Frau, die den Anstieg eben vornehmen wollte, mit in den Abgrund. Erst stürzten die Körper etwa 80 Meter ab, schlugen auf und blieben in 250 Meter Tiefe, knapp oberhalb des Gletschers, liegen. Die beiden Söhne, die geglaubt hatten, die Eltern am Seil halten zu können, wären rettungslos mitgerissen worden, wenn nicht merkwürdigerweise das Seil nahe am Leib des einen Sohnes gerissen wäre. Dadurch wurde ihr Leben gerettet. Zufälligerweise traf auf seiner Rück- kehr ein Bergführer ein, der sich der ganz verstörten Knaben annahm und sie hinuntergeleiten konnte.

Am Abend dieses Tages machte sich eine Rettungsmannschaft von sieben Bergführern und vier Trägern auf, die Leichen zu bergen. Sie übernachteten im Hotel Almagelleralp und wollten in der Frühe aufbrechen. Aber dicker Nebel machte bis halb 11 Uhr den Abmarsch unmöglich.

Unten im Tal hatte sich wie ein Brand die Nachricht verbreitet. Auf dem grossen Almageller Dorfplatz hatten sich Einheimische und Fremde versammelt und besprachen eifrig und erschrocken das Ereignis. Immer wieder schaute man den steilen Alpweg hinauf, beobachtete mit dem Fernglas jeden Heimkehrer. Doch liess sich nichts blicken.

Gegen 10 Uhr fuhr vom Tal herauf ein schwarzes Auto an. Heraus stieg der schwarzgekleidete Führer. Im hintern Teil des Wagens war ein schwarzes Tuch ausgebreitet. Neugierig drängten wir uns hinzu. Der Führer hob willig das Tuch: drunter lagen ernst und friedlich nebeneinander die beiden Särge. Durch ihr Eintreffen verbreitete sich das Gerücht, die Rettungsmannschaft würde mit den Verunglückten um 10 Uhr eintreffen. Immer schauten wir hinauf. Es wurde 11, 12, 1 Uhr. Wohl wanderten einzelne Leute auf dem Weg herab. Mit erschütternd bleichen Gesichtern trafen Freund und Schwager des Arztes mit den Dorf behörden und dem Hotelier Vorbereitungen, fuhren dann in ihren Autos nach Saas-Fee zu den Söhnen und erschienen nachmittags wieder in Almagell. Auf dem Dorfplatz sammelten sich immer mehr Leute an und schauten aufgeregt zur Almagelleralp hinauf. « Es war unverantwortlich, ohne Bergführer und mit jungen Leuten ein solches Wagnis auf sich zu nehmen » meinte ein alter Herr. Ein Bergführer erwiderte: « Und dabei gilt der Portjengrat als einer der schwierigsten Kletterberge. » So warteten wir bis 4 Uhr.

« Sie kommen! » rief jemand. Und wirklich, bei der Wegbiegung neben dem Wasserfall gewahrten wir die Gruppe der Bergleute, die rasch abwärtsstrebte. Ihr Vorrücken wurde genau und aufgeregt verfolgt. « Jetzt müssen sie bei der untern Biegung hervorkommen » meinten wir. Aber sie kamen nicht hervor. Unerwartet rasch erschien die ganze Gruppe plötzlich am Eingang des Almageller Alpwegs im östlichen Dorfteil. Die Männer hatten den Weg über den steilen Hang hinunter abgekürzt. Nun nahten sie dem Dorfplatz, und alle Gespräche verstummten. Welch erschütternder Anblick! Die Männer zogen auf einem Holzschlitten die beiden Leichen, gemeinsam in einem groben Tuch eingepackt und mit einem neuen Nylonseil verschnürt. Welch tiefe und zarte Empfindung bewiesen die rauhen Männer: Sie hatten ein Bergblumensträusschen oben draufgesteckt. Sie zogen schwer an der Last, weit nach vorn gebeugt, und sahen alle recht abgekämpft aus. Voraus zog am Seil unser Theo, den wir kaum erkannten, so prägte sich die grosse körperliche und seelische Anstrengung ein. Sieben Männer zogen vorn, vier mit dem Obmann halfen hinten nach. Vor dem Gemeindehaus hielt der Zug. Da lagen nun die beiden Toten verpackt auf dem Holzschlitten - ein bemühend armseliges Bündel Menschlichkeit! Sie wurden die Aussentreppe hinaufgehoben und oben im Gemeindesaal eingesargt. Die Särge waren schon vorher hinaufgebracht worden. Niemand, ausser Freund und Schwager und den Bergleuten, durfte hinein. Es war wohl kein Anblick für blosse Neugierde. Dann wurden die Särge verladen, und der erste Teil eines schweren Familien-schicksals war abgeschlossen. Zurück blieben vier Söhne im Alter zwischen 14 und 22 Jahren.

Die Bergführer und Träger versammelten sich abends zur Erfrischung im Wirtschaftsraum des « Portjengrats », wohin sie vom Freund des Verunglückten geladen waren. Die Unterhaltung war sehr gedämpft. Alle Bergführer trugen blaue, gestreifte Wolljacken und rote, gestrickte Zipfelkappen. Der Obmann unterschied sich durch besondere Streifung. Ihre Gestalten waren meist zäh und hager, nicht alle sahen besonders kräftig aus. Lederne, verwitterte, braungegerbte Gesichter.

verrieten ihren harten Beruf. Die Leute blieben nicht sehr lange, das Ruhebedürfnis gewann auch über diese Burschen Macht.

Über die Bergung selbst erfuhren wir anderntags folgendes: Nachdem gegen 11 Uhr der dicke Nebel sich gelockert hatte, marschierten die Männer zum Portjengrat. Sie kannten die Porte und entdeckten auch bald die Leichen in der Tiefe, die nahe am Rande ob dem Zwischbergengletscher lagen. Sie suchten eine günstige Stelle, von der aus sie Theo abseilen konnten. Mit Karabiner wurde ein Flaschenzug errichtet und eine Leiche in einem Sack emporgezogen. Die Last musste erst hinausgeschwungen werden, damit sie sich nicht am Felsen verfing, festgehalten oder abgerissen wurde. Beim Verpacken der andern Leiche wäre beinahe ein Arm in Theos Händen geblieben; sonst waren die Toten, ausser am Kopfe, wenig verstellt. Der Abstieg mit den Leichensäcken war natürlich sehr mühsam und für die Bergleute nicht ungefährlich. Es brauchte dazu schon wetterharte und geübte Männer.

Später äusserte sich Theo, der Portjengrat sei sein bevorzugtes und liebstes Führerziel. Er kenne ihn wie seine Hosentasche. Wie oft er den Grat schon bestiegen hätte, wollten wir wissen. « Wohl schon über fünfzigmal. » Er sah dabei nicht aus, dass er sich durch das Unglück abschrecken liesse. Er kannte und - bejahte das zweite Gesicht der Berge. Und tatsächlich führte er eine Woche später schon wieder eine Gruppe auf den Portjengrat. « Seine Maurerhände spüren immer die richtigen Griffe », meinte ein Freund Theos.

Für Bergunglücke war dies ohnehin ein Schicksalssommer.

5. Von Schafen und Ziegen und einer Kuh, von Frauen und Kindern « Heute nachmittag werden die Schafe der Gegend in Zer Meiggern zur Schur und Zeichnung zusammengetrieben », hiess es im Dorf. Natürlich wanderten wir auch hinaus. Es war ja nur eine Viertelstunde Wegs und das Schauspiel für uns Städter ungewohnt. Von allen Seiten wurden die Tiere mit ihrem schmutzigweissen « Persianer » zugetrieben. Ihre Besitzer wollten sie im Dörfchen in kleinen, teils dachlosen Stadeln sammeln. Kopflos und aufgeregt rannten die einzelnen Schafe bald dahin, bald dorthin, überrannten oft beinahe uns müssige Zuschauer, bildeten in der Aufregung auf dem Strässchen ganze Wirbel und wollten den Weg zu ihrem Stadel trotz des Treibers hinter ihnen nicht finden. Mancher Hirte hob deshalb kurz mit starken Armen ein grosses, schweres Tier empor und trug es gewaltsam durchs enge Loch in seinen Stadel. Die Schafe waren nicht dumm oder blöd. Ihre Augen waren sehr lebendig und oft wild und leidenschaftlich. Aber das Treiben war ihnen ungewohnt, so wie einem Bäuerlein das Stadtgetriebe. Sie waren ja stets ruhig und behütet in geschlossener Schar auf ihren Weidhängen und kamen selten ausser ihrem Hirten mit Menschen zusammen. Sie hatten auch wenig Gelegenheit, auszubrechen - Hirt und Hund liessen keine weite Abschweifung zu. Sollten sie nun bei solcher Gelegenheit ein wenig selbständig handeln, zeigte ihr Wesen eine grosse Scheu und Ratlosigkeit, ja Kopflosigkeit fremden Menschen und Umständen gegenüber. Kurzsichtig nennen wir dies « dumm » In ihrer Hilflosigkeit liefen sie laut blökend vor und zurück. Lämmchen verloren ihre Mutter und suchten verzweifelt nach ihr. Kraftvolle Böcke erzwangen sich gewaltsam Platz, dass ihnen oft die Flucht gelang. Schläge halfen wenig, und die Leute, die sie zurücktreiben wollten, fürchteten sich vor ihrem Ungestüm.

Endlich waren die meisten in ihrem Unterschlupf, wo Bäuerin oder Magd auf sie gewartet und sie völlig eingetrieben hatte. Sie wurden aber nicht geschoren. Sie sollten in grosser Schar auf die steilen Alphänge getrieben werden. Sie wurden deshalb bezeichnet: entweder strich man ihnen mit brauner oder schwarzer Farbe eine Nummer oder zwei Buchstaben in die Wolle. Die meisten 1 Bäuerinnen aber nähten die Bezeichnung auf Stoffstücken den Tieren auf den dicken Wollpelz.

Anderntags wurde die etwa zweitausend Stück zählende Schar auf ihre Weideplätze getrieben. Wenige Tage später sahen wir sie bei unserer Wanderung zur Britanniahütte links drüben friedlich grasen. Sie waren wieder beruhigt, stiegen steil und weit den Kessjen hinauf und bedeckten den Hang von unten bis oben. Man sah jedoch wenig Bewegung, fast hätte man sie für eine Geröllhalde halten können. Der Hirt mit dem Hund sass weiter unten auf einer Steinplatte und schaute auf die Visp hinab, die zu ihm heraufrauschte.

Eine ganz anders geartete Gesellschaft waren die Almageller Ziegen, schöne, recht zutrauliche Tiere, die uns bettelnd beschnupperten. Sie trugen kräftige, grosse Hörner, fast wie Steinböcke. Kopf und vorderes Bruststück waren schwarz oder braun, bei manchen Tieren auch der Schwanz und die Hinterbacken. Der übrige Teil des Körpers war weiss.

Die Tiere sammelten sich jeden Morgen zwischen 7 und 8 Uhr auf dem Dorfplatz. Die einen hüpften fröhlich an, die andern trippelten gemächlich und würdig einher. Mit Meckern begrüssten sie einander und die Zuschauer. Man sah niemanden, der sie trieb. Aus allen Gässlein und Gaden nahten sie. Sie hatten sehr kluge, manchmal etwas abweisende und doch unendlich neugierige Augen. Nicht jede liess sich kraulen, manche wich der Hand aus. Unwiderstehlich aber war ein Häufchen Salz, und der Geber wurde nicht so bald wieder aus den Augen gelassen.

Jetzt rückten die Hirtenbuben an und trieben die Tiere besser zusammen. Gemächlich ging einer voraus über die Brücke, und willig trippelte die ganze Schar ihm nach. Bald schwenkten sie vom Strässchen nach links ab und stiegen leicht und rasch hinan. Oft beobachteten wir sie vom Hotel aus mit wachsendem Erstaunen, wie sie beschwerdelos die sehr steilen Felshänge zur Plattje und gegen das Mittagshorn emporkletterten, die schmalen Grasbänder abweideten, weiterkletterten zwischen einer Felsporte durch, um eine Nase herum, immer höher hinauf. Und dies in unglaublich kurzer Zeit, als brauchten sie keinen Blasebalg, kühn und sicher wie Gemsen. Die Hirtenbuben blieben meist weit zurück.

Abends gegen 5, halb 6 Uhr kam die ganze Schar fröhlich zurück und verteilte sich ganz selbständig auf dem Dorfplatz. Etwa blieb eine Einzelgängerin zurück, betrachtete und beschnupperte alles, bis ein Knabe sie mit einem Stecken nach Hause trieb.

Gegen 9 Uhr vormittags zeigte sich immer ein besonders friedliches und recht malerisches Grüppchen. Eine Bäuerin mit Kopftuch und Tragkorb auf dem Rücken führte eine Kuh gemächlich am Strick über die Brücke. Das Tier war die Gelassenheit selber und folgte Schritt um Schritt ihrer Leiterin mit regelmässigem Kopfnicken. Hinter ihr drein, in gemessenem Abstand, trippelte ebenso würdig und gelassen eine Geiss, ein schönes, älteres Tier, das durch einen frühern Unfall verhindert war, die Klettereien der Genossinnen mitzumachen. Deshalb brachte die Bäuerin die beiden getreuen und verträglichen Freunde auf einen Weideplatz in der Nähe.

Wenn ich bei dieser Gelegenheit noch einige Worte über die einheimischen Frauen und Kinder sage, tue ich es ohne jede Hinterhältigkeit, sondern im Gegenteil mit besonderer Zuneigung. Die Nebenstellung mit Schafen und Ziegen hat nur für dumme, überhebliche und schlechte Beobachter etwas Beleidigendes.

Mehrmals fiel mir auf, wie hübsch die Gesichter der Frauen trotz oft unvorteilhafter Bekleidung sind. Die Almageller Gesichtszüge sind von besonderer Art, meist schmal, ernst, mit dunkler Haut und dunkeln, grossen, etwas traurig wirkenden Augen und fast schwarzem Haar. Diese fremdartige, etwa an Zigeunerinnen erinnernde Schönheit birgt sich meist auch noch hinter alten, abgearbeiteten und müden Gesichtern, wie man sie recht häufig gewahrt. So ist 's auch mit ihren Händen: rauh und abgearbeitet, aber schmal und schön. Nur die Gestalt der wirtschaftlich Bessergestellten ist auf- recht und gerade; bei den meisten Frauen aber zeigt sich die Last der Arbeit. Sie sind übrigens unglaublich zähe. So wurde uns erzählt, dass eine Achtundsiebzigjährige eine Bettmatratze den steilen Weg zur Almagelleralp hinaufgetragen habe.

Die Kinder sind sehr scheu und zurückhaltend, und man muss gut hinhören, wenn man ihre Worte verstehen will. Auch sie zeigen eine fremdartige Lieblichkeit. Sie haben nie die lärmende Art der Stadtkinder. Ihre Unterhaltungen und Spiele etwa auf der Matte bei ihren Tieren zeigen etwas Versonnenes und Ruhiges, wie ihre Tierfreunde sind. Bei kleinen Gaben leuchten ihre dunkeln Augen, wenn sich ihr Händchen scheu entgegenstreckt.

6. Naturschutz Die Natur ist überall rein und schön, auch wo sie wild und ungebärdig, wo sie zerstörend auftritt. Mit Recht spricht die Dichtkunst von reinen, klaren Quellen, die munter aus dem Berg hervorbrechen, zu Tale stürzen und springen und den Durstigen erquicken. Man bewundert die herzerquickende Blumenpracht der Alpweide, des Berghangs, man bestaunt die Gewalt und den Formenreichtum der Berge, die immer wieder zu neuen Wagnissen locken. Man wandert begeistert über die weiten Eis- und Schneegletscher mit ihren tiefen, gefahrvollen Spalten und Täuschungen.

Aber überall entdeckt man in dieser unberührten, in Wahrheit reinen Natur Spuren, die uns missfallen, ja ärgern, Spuren der Menschen, die diese naturhafte Unberührtheit nicht empfinden, die unbekümmert wegwerfen, was sie nicht mehr benötigen: Papierfetzen, Blechbüchsen und noch unschönere Dinge. Man ärgert sich, schleudert zornig die Blechbüchse in den Abgrund, nimmt sich die Mühe, die Papierfetzen zu kremieren und wandert missmutig über die Alp. Man begegnet einer Schar junger Wanderer, die recht eifrig Blumen sammeln: ganze Sträusse Männertreu, Astern, ja sogar Edelweiss. Ungehalten spricht man sich aus, bekommt zur Antwort: « Geht's euch etwas an? » oder: « Ihr seht, sie wachsen ja massenhaft! » Man zieht weiter und kommt an ein Zeltlager mitten über den Alpweg. Es wird gekocht, gewaschen, aufgehängt - Unordnung hinten, Unordnung vorn. Dazwischen sonnen sich unbekümmert nackte braune Körper, schreien und lärmen und befriedigen am Bergbach ihr Bedürfnis, streiten sich Männlein und Weiblein, und es erstaunt uns, dass sie sich nicht die Pfannen an den Schädel werfen. Was Wunder, dass wir steil hinauf klettern, um diesem Treiben zu entrinnen!

Aus solchen Erfahrungen mag der Wunsch entstanden sein, die schöne Erde, die prächtige Alpenwelt vor solchen Verunglimpfungen zu schützen und ihren Schmuck und ihre Reinheit uns zu erhalten. Dabei hat man bis heute den Schutz eines äusserst wichtigen Teils unserer Alpennatur missachtet und vernachlässigt. Man baut zwar immer neue Strassen und Autobahnen, die eher Renn-bahnen genannt werden müssten. Man überzieht immer mehr die unberührte Natur mit einem Netz von Verkehrswegen, baut Autostrassen bis hinauf in die obersten Bergtäler und nimmt von dort aus dem müssigen Wanderer die Mühe und Freude des Bergsteigens durch steilaufstrebende Bergbahnen und schwebende Luftseilbahnen auf die höchsten Gipfel und schändet dadurch sehr oft in ihren Auswirkungen die Natur. Ach, überall muss der Naturschutz unterliegen!

Und wie gesagt, ein Teil dieses Naturschutzes wurde bis heute unbeachtet gelassen, der viel lebensnotwendiger für uns ist als all diese Strassen- und Bahnbauten. Darauf mit Nachdruck hinzuweisen ist nötiger als je. Man verwundert sich über die zunehmende Verschmutzung unserer Seen, des Genfer-, des Boden-, des Zürichsees, deren Wasser doch für grosse Städte lebensnotwendig sind. Man druckt viel in Zeitungen und beschuldigt die Fabrikabwasser, die Industrie, die ja sicher einen grossen Schuldteil an der Gewässerverschmutzung auf sich zu laden haben, aber keineswegs den ausschliesslichen. « Wehret den Anfängen! » heisst ein Spruch. Wir haben schon in unserm Aufsatz über das Samnaun hingewiesen, wie die Einwohner ihren Schergenbach verschmutzen. Vor- und nachher konnten wir beobachten, dass dies nicht ein Einzelfall, sondern ein allgemeiner Gebrauch der meisten Bergdörfer ist man wirft den Unrat in den wildtreibenden Bach, der ja alles fortschwemmt So beobachteten wir täglich in Almagell, wie grosse Körbe und Kisten voll Unrat, wie wir ihn in der Stadt in unsere Kotkübel stopfen, vom Strassendamm und der Brücke aus in die wildschäumende Vispa geschüttet wurden. Die Reste setzten sich in Kegelform am Ufer fest, und ihre Düfte stiegen dem Bergwanderer lieblich in die Nase. Auch Bauabfälle vom Hotelumbau wurden in den Bach geworfen, der trotz seiner Wasserwucht nicht imstande war, allen Schutt fortzu-schwemmen. Auch konnte ich nicht entdecken, wohin die Ergüsse der Abtritte geleitet wurden und vermutete sehr, dass sie auf geheimen Wegen in der Vispa landeten.

Dieselben Beobachtungen machten wir in Saas Fee. Am Eingang ins Dorf, von Almagell herkommend, betritt man eine Brücke über eine kleine Schlucht. Man schaut erst staunend auf der einen Seite über das Mäuerchen hinunter auf die in der schmalen Tiefspalte brausende Feevisp, auf die starren Felswände und den schmalen Pfad, der hinunterführt - ein recht eindrücklicher und staunenswerter Anblick. Man will nun auch obseits der Brücke diese Bachschlucht betrachten, um ein ganzes Bild dieses Naturwunders zu erhalten. Aber unser Staunen schwindet und fühlt sich beschmutzt durch einen üblen, stinkenden Unratabwurf, der den ganzen Steilhang der Schlucht bergseits bis hinunter zum Bach bedeckt: Schutt- und Kotkübelablagerungsstelle der Feebewohner. Es ist ja einfacher, die kleine Schlucht dafür zu benutzen, als irgendwo eine Grube zu graben! Und Naturschönheiten gibt 's in grossartigem Überfluss in dieser Feenmulde! Schlussfolgernd wird jetzt diese Schlucht verbaut zu einer elektrischen Anlage, so dass wenigstens der Schutthang mit dem kleinen Naturwunder verschwinden wird.

Ähnliche Beobachtungen machten wir auch in den anderen Vispertaler Orten, wo auch der wilde Bach allen Haus- und Bauschmutz abführen muss, und wir vermuten wohl mit Recht, dass es in den meisten Dörfern des Wallis und Bündens so gehalten wird. So steht es also um die Reinheit unserer kleinern und grössern Bergbäche, die somit ausser dem « klaren », « gesunden » Bergquellwasser noch etliches anderes Zeug mitführen, die zu Hunderten von allen Seiten der Rhone, dem Rhein und Inn zufliessen, gesammelt samt Schmutz zum Genfer- und Bodensee streben und ihren zweifelhaften Segen in diese grossen Becken ergiessen. Wundert es uns, dass der Fischreichtum unserer Bergbäche immer mehr abnimmt? Sind wir erstaunt, wenn auch auf diese Art unsere Seen verschmutzt werden und ihr Wasser nur noch durch umständliche Behandlung für uns nutzbar gemacht werden kann?

7. Zur Britanniahütte Eine der lohnendsten und schönsten Tageswanderungen von Almagell führt zur Britanniahütte. Früh zogen wir und recht frohgelaunt aus. Alles im Hotel schlief noch, und auch im Tal lagen Dämmerschatten und Stille. Nur die wilde Saaser Vispa brauste und lärmte. Eine Vogelstimme links vom Waldhang her liess sich verträumt und fast fragend hören. Rechts aber vom Steilhang des Kessjen tönte der scharfe Warnpfiff eines Murmeltiers, das uns schon entdeckt haben musste. Auch die Bewohner des Zeltlagers im Wäldchen vor Zer Meiggern schliefen noch. Nur eine Zeltplache wurde gehoben, ein Halbgesicht erschien verschlafen und verschwand wieder. Der Himmel war nächtlich grünblau, nur oben am Mittelgrat zeigte sich eine schwache gelblichrote Färbung. Die Sonne erscheint ja erst spät im Saaser Tal, sie muss erst die Hänge auf der Ostseite erklettern. Damit hatten wir gerechnet, dass wir nicht allzufrüh unter ihrer Hitze zu leiden hätten. Vor dem Kirchlein in Zer Meiggern stand ein Kreuz und « hielt zu ernstem Sinnen ». Dann traten wir auf eine Matte. Ein Hirte liess dort schon einige Kühe weiden. Der Weg stieg nun steil rechts an. Man musste gut darauf achten, dass man seinen Anfang nicht verpasste: die Wegtafel war nicht gut sichtbar und stand nicht sehr günstig, trotzdem dies der Pfad für die Maultiere ist, die die Britanniahütte verproviantieren. Der Aufstieg auf dem Zickzackweg im Morgenschatten und in der Frühkühle war angenehm. Wir gewannen rasch an Höhe und sahen bald tief unter und hinter uns Zer Meiggern und etwas weiter zurück Almagell. Die Dörfer schienen immer noch zu schlafen. Ein leichter Dunst lag über ihnen. Der Weg war gut; links und rechts an den oft schroffen Wänden entdeckten wir mancherlei schöne und auch seltene Bergblumen. Schon sahen wir hinüber auf die Furggalp, zum Stellihorn und Almagellhorn, und dort hinten ragte das weisse Haupt der Weissmies, schon rosa gefärbt, in den klaren, helleren Himmel. Links drüben entdeckten wir die grosse Schar der ruhig weidenden Schafe am ganzen Kessjenhang. Sie bewegten sich kaum, als ob sie schliefen. Der Moro war im Nebel, der sich allerdings zusehends lichtete. Etwa flogen schreiend Bergdohlen über uns hin und verschwanden in der Richtung zur Britannia. Endlich bogen wir so weit um die Felsnasen herum, dass wir den Blick auf Almagell und diesen Talabschnitt verloren, während der Moro jetzt klar sichtbar war. Der Weg verlor etwas an Steile, führte zwischen Blöcken, Schneeresten und den Wassern eines Baches sogar über einige Grasflecken. Auf einem fast flachen und weichen Fleck machten wir Rast und verzehrten unsern Znüni, tranken einen Schluck Kognak. Jetzt beschien uns die Sonne schon ordentlich warm. Der letzte Abschnitt führte wieder steil zwischen Geröll hinauf, bis wir auf den Saas-Feer-Weg von der Plattjen her gelangten. Schon begegneten wir hier einigen « Konkurrenten », jüngere Leute, die eiliger waren als wir zwei bemooste Häupter. Sie wurden unsere Wegführer über eine Art Höhenweg, teilweise über Schnee, dann steiler auf einem Geröllkamm bis zu einem Gewässer, worüber eine Bretternotbrücke gelegt war. Und nun ging 's, für uns etwas mühsam, den Kessjengletscher hinan, bis wir endlich die Hütte gewahrten und auch die Dohlen, die drüber hinwegflogen und auf einer Erhöhung nebenan sich niedersetzten.

Wir betraten erst die geräumige Hütte, die eher einer Bergwirtschaft glich. Schon mehrere Gruppen waren anwesend, meist junge Leute, die von hier aus ihre Hochtouren ausführten. Doch war Platz genug - der Hauptstrom der Bergwanderer war noch nicht eingetroffen. Wir setzten uns an einen langen, leeren Tisch, stellten Stöcke und Rucksäcke in eine Ecke, und schon erschien der flinke und immer zuvorkommend freundliche Hüttenwart. Ich glaube, er hiess Zurbriggen, ein Almageller. Wir kannten ihn, weil er schon mehrmals im « Portjengrat » unten aufgetaucht war. Nach kräftigem Handschlag bestellten wir für uns eine Suppe. In kurzer Zeit wurden eine grosse Schüssel und zwei Teller aufgestellt. Der Inhalt hätte für sechs Esser wie wir gereicht. Wir packten unsern Mundvorrat aus. Unsere Esslust war - wie immer auf Bergwanderungen - nicht sehr gross. Wir waren doch nach dem fünfstündigen Aufstieg ermüdet und ruhten uns erst aus.

Jetzt setzten sich zwei junge, etwas armselig aussehende Leute zu uns und schauten uns erst zu, redeten dann von ihren Plänen. Es waren Tiroler Burschen. Wir liessen uns in ein Gespräch ein, sie erzählten von ihrer Heimat und schnitten brav auf mit den schon ausgeführten Besteigungen, bei welchen nur noch einer der Viertausender fehlte. Wir hörten ihnen « gläubig », innerlich belustigt zu und boten ihnen unsern Rucksackproviant an. Strahlend wurde er in Empfang genommen und verschwand in unglaublich kurzer Zeit in den hungrigen Mägen. Jetzt tauten Herz und Zunge noch mehr auf. Wir hatten wirklich unsern Spass an ihnen.

Nun kauften wir ein Dutzend der prächtigen Ansichtskarten, erfuhren aber dann, dass wir sie selbst zu Tale tragen sollten, weil sie so viel früher ihre Empfänger erreichen würden. Wir schauten uns die Küche an: die beiden Hüttenwarte schwitzten vom Kochen und Hin- und Herlaufen.

Wir waren jetzt ausgeruht und wollten die Aussicht geniessen. Der Südwand der Hütte entlang befand sich eine lange Bank. Was wir von hier aus sahen, war erstaunlich grossartig und überwältigend. Die Hütte liegt ja in über 3000 m Höhe auf dem Ausläufer des Allalingrates, so dass man nach Nord und Süd einen freien, weiten Ausblick hatte. Eine gewaltige Gletschermulde steigt nach hinten an und wird von drei Viertausendern abgeschlossen. Die standen als mächtige Herrscher im Sonnenglanz vor uns, jeder in anderer Gestalt und mit anderm Antlitz, rechts das Allalinhorn mit steilen Abstürzen auf den Gletscher, in der Mitte, weiter zurück, breiter sich ausladend das Rimpfischhorn und links das bis zur Höhe vergletscherte Strahlhorn mit dem Fluchthorn. Dieses erhabene und wuchtige Stück unserer Hochalpen bannte lange unsere Schau und prägte sich uns tief ein. Dabei erwärmte uns die Höhensonne recht angenehm. Dann drehten wir etwas ab, überschauten das Saastal, das von hier aus mehr wie eine lange Bergspalte wirkte, in dessen Tiefe das Auge nicht hinabsteigen kann, sahen drüben den langgestreckten, gefährlichen Portjengrat und im Nordosten die Weissmies.

Mehrere Bergführer warteten auf der langen Bank auf « Arbeit ». Einer redete uns sogar an und wollte uns für 20 Franken über den Feegletscher zur Langfluhhütte bringen. Wir wollten aber den Höhenweg zur Plattjen benützen und dankten für sein Angebot. Es war gut, dass wir abmarschierten: Auf dem ausgetretenen Pfad über den Kessjengletscher schlängelte sich uns eine lange Einer-kette von Wanderern jeden Alters entgegen, rasch und langsam, tüchtig und erschöpft, gesprächig und stumm, und die Hütte oben musste wie ein volles Glas bald überlaufen.

Der Höhenweg selbst war erst angenehm und wenig mühsam, rechts allerdings sah man sehr steile Abfälle bis ins Saastal hinab, die Schwindel erregen konnten. Zur Rechten begleitete uns auch, viel näher scheinend, der Portjengrat, und bald entdeckten wir in der Tiefe unten, noch in der Sonne liegend, Almagell. Der Pfad wurde jetzt viel mühsamer. Bald musste man grosse, kantige Blöcke übersteigen, auf Löcher und Spalten zwischen diesen Blöcken aufpassen; denn zu schnell hätte man den Fuss verstaucht. Dann musste man die Wegmarkierung suchen, wieder über einen harten Schneefleck balancieren, um einen Gewaltblock sich herumschlängeln. Ein älterer Herr hatte sich uns angeschlossen, zeigte sich sehr erfahren und hilfsbereit und entpuppte sich als ehemaliger Clubkamerad von Aarau, der schon die meisten Viertausender der Gegend erstiegen hatte.

Endlich erreichten wir die wohlbesetzte Plattjen, setzten uns geruhsam bei einem Glas Johannisberger für eine Stunde an die Sonne, frischten mit der Wirtin allerlei Erinnerungen auf und trollten dann den Zickzackweg nach Saas Fee hinunter. An den Weghängen sahen wir eine Menge Bergastern und Männertreu, was uns um so mehr verwunderte, als der Weg von sehr vielen fremden Gästen und blumenraubenden Bergwanderern begangen wurde. Bei Kalbermatten bogen wir in das schöne, bequeme Waldsträsschen nach Almagell ein. Wir mussten etwas ermüdet aussehen, denn die Abendspaziergänger, die von Almagell uns entgegenkamen, schauten uns etwas merkwürdig und aufmerksam an. Aber das Abendessen im Hotel schmeckte uns so gut wie die Bettruhe. Wir fühlten uns ja fast so tüchtig wie die siebzehnjährige Gymnasiastin aus Bern, die Tags darauf unter Theos Führung das Nadelhorn und die Lenzspitze bestieg - 68: 17 = 4.

8. Eine Beerdigung Während der fünf Sommer, die wir schon in Almagell verbracht hatten, war nie ein Todesfall eingetroffen. Dieser Sommer scheint ein ernsteres Gesicht zu zeigen. Nicht nur die häufigen Bergunglücke, auch zwei Sterbefälle werfen den heitern Tagen einen dunkeln Schleier über. Erst wird 13 Die Alpen - 1961 - Lei Alpes193 der Tod einer Dorfgrösse gemeldet, und in einigen Tagen soll seine Beerdigung stattfinden. Wir wollen diese Schlussfeier eines Lebens sinnend betrachten.

Sein Wohnhaus liegt im nördlichen Dorfteil am gleichlaufenden Strässchen zur Hauptstrasse. Und dort sammeln sich die Trauernden. Schon vor 10 Uhr treffen sie zu Fuss aus der nähern Umgebung, im Auto aus andern Dörfern der Talschaft ein. Auch ein Sonderwagen des Postautos bringt Leidtragende. Im und vor dem Trauerhaus stehen sie, stumm oder murmelnd ihre Gedanken austauschend, umher. Sie drehen sich um den Toten und seine Familie. Etwa tritt eine weinende Frau aus dem Haus, oder ein Angehöriger eilt wieder hinein, um etwas auszurichten. Schwarze Tücher sind am Ausgang angebracht.

Endlich ordnet sich der Zug. Voraus schreiten die Dorf behörden mit einer umflorten Fahne. Hinter ihnen kommen zwölf Chorherren in ihren weissen, mit Spitzen verzierten Sutanen und ein brauner Kapuziner, voraus der Priester, hinten die Chorknaben mit ihren kurzen Leibröcken. Der Sarg wird auf einen niedrigen, schwarz verhängten Karren gehoben und die Kränze daraufgelegt. Der Zug bewegt sich jetzt auf dem schmalen Strässchen zur Kirche. Hinter den Geistlichen gehen in Zweierreihen die nächsten Angehörigen. Man vernimmt ein unterdrücktes Wimmern. Einige bedecken mit einer Hand ihre Augen. Man sieht ihnen die Erschütterung an, sie blicken bedrückt von dem Rätsel des Todes zur Erde. Sie tragen eine Art Familien- oder Vereinsabzeichen. Hinter den Angehörigen bricht das Wimmern ab, statt dessen hört man wieder die murmelnde Unterhaltung. Alle sind schwarz oder dunkelbraun gekleidet. Dann nahen die angehörigen Frauen, auch schwarz gekleidet, mit einem schwarzen Kopftuch ohne Stickereien, das zu einer Art Trachtenhaube umgeschlagen ist. Darunter sehen die Gesichter noch bleicher und trauriger aus. Das Schluchzen ist hier lauter und bricht hinter den Angehörigen nicht ganz ab. Man vernimmt hier keine Unterhaltung: Frauen sind empfindsamer, haben ein feineres Gefühl für Takt. Bunte Stickereien schmücken hier die Kopftücher. Auch sie schreiten zu zweien der Kirche zu. Viele Zuschauer, meist Feriengäste, warten links und rechts des Strässchens und in den Seitenwegen bis weit ins Dorf hinein.

Auf dem Kirchplatz wird der Sarg auf ein Gestell gehoben. Die Geistlichen und Angehörigen stehen drum herum. Was sie tun, gewahren wir nicht. Der lange Trauerzug stockt. Das eintönige Murmeln des Ave Maria und der lateinischen Gebete aus dem Mund der Priester wird vernehmlicher. Der Weihpriester besprengt den Sarg.

Die Priester und Chorknaben treten jetzt würdevoll in die grosse Dorfkirche und setzen sich vorn links und rechts in ihre Stühle. Der Weihpriester stellt sich oben in die Mitte und sieht zu, wie der Sarg nach vorn getragen und unter ihm aufgestellt wird. Langsam und stumm tritt nun auch die Trauergemeinde ein, rechts vom Eingang die Männer, links die Frauen und einige Kinder. Alle knien in ihren Gestühlen.

Und jetzt beginnt die lange, eintönige Litanei. Der Weihepriester spricht vor, und die Chorherren erwidern im Wechselgespräch, die Gemeinde fällt ein mit dem Ave Maria, erst die Männer, dann die Frauen. Es ist, als gebe die ganze Kirchenversammlung bewegt und doch gefasst dem Weh der menschlichen Sterblichkeit Ausdruck, dem Schmerz des Abschieds, aber auch der stillen Hoffnung.

Wir betrachten links vom Eingangsportal aus als Fremdlinge den ganzen ergreifenden und ermüdenden Vorgang und treten jetzt hinaus zum Friedhof und zur Grabstelle. Jener ist durch einen Weg in zwei Hälften geteilt. Sogleich fällt uns auf, dass die rechte Seite reichere Gräber zeigt, die nicht nur mit den einfachen Holzkreuzen, sondern nicht selten mit grösseren, sogar « prächtigeren » Grabsteinen ausgestattet sind. Wir lesen da die Namen Burgener, Anthamatten, Kalbermatten, Zurbriggen. Manchmal sieht man auch das Bild des Verstorbenen im Stein eingelassen, Namen, Geburts- und Todestag. Vorn schmücken Blumen, meist üppige, grosse Edelweiss, das Grab. Hie und da liegen noch verwelkte Kränze. Das Eigenartigste sind aber Kränze aus blassvioletten Glasperlen, die als bleibendes Gedenken fast um jedes Kreuz gehängt sind. Wir finden sie zuerst komisch, bis ich einmal nachts bei Mondschein den Friedhof betrete. Da liegt tatsächlich ein geisterhafter Schimmer über dem Friedhof, der aus diesen Glasperlenkränzen dringt und das Geisterhafte des Mondscheins auf den stillen Gräbern verstärkt. Im ganzen sind die Gräber hier reichhaltiger besetzt und besser gepflegt als die zu'r Linken, die wir auch etwas genauer betrachten. Fast alle sehen vernachlässigt aus: Unkraut, schief gestellte, unbenannte Kreuze, hinten eine ganze Reihe Kindergräber voll trostloser, liebearmer Vernachlässigung, ohne Schmuck und Namen, wie geschwind aufgeworfen und zugedeckt und rasch vom Unkraut überwuchert, kleine Hügel mit schäbigen Kreuzlein! Und dies sind nicht etwa alte, vergessene Gräber. Die Kinder sind erst vor einem Jahr von einer Kinderkrankheit hingerafft worden. Nur die Gräber beim Eingang sehen etwas besser aus, vielleicht auch bloss wegen der prächtigen Edelweiss. Aber auch hier ein schiefgestelltes Kreuz! Viele Gräber tragen nicht einmal den Namen des Toten.

Kopfschüttelnd überblicken wir den ganzen Gottesacker: Herrschen auch hier Kastengeist, Vorrechte der Bessern, Vernachlässigung der Armen? Verstehen die guten Leute den Spott, der aus den Gräbern steigt, nicht?

Wir treten wieder in die Kirche und sehen den letzten, ergreifenden Teil der Totenmesse. Der Priester spricht wenige Worte und besprengt mit einem kleinen Weihwasserfass den Sarg dreimal; das gleiche tun die Chorknaben. Und jetzt treten in langen Reihen erst die Männer, dann die Frauen und Kinder zum Sarg, ergreifen am Stiel das Fässchen und besprengen mit Weihwasser zum Abschied den Sarg des Toten. Dieser wird ans offene Grab getragen. Die Priester treten - lateinische Gebete murmelnd - rings hinzu, schluchzend die Angehörigen und bis weit zurück lautlos die Schar der Leidtragenden. Wir stehen ausserhalb des Friedhofs auf einer Bodenerhebung. Der Priester und die Angehörigen besprengen zum allerletztenmal den Sarg. An Seilen sinkt er langsam in die Tiefe. Das Murmeln und Schluchzen verstummt nicht. Eine Schaufel Erde fällt dumpf auf den Deckel. Der Priester und die Chorherren bekreuzen sich und treten würdevoll und gelassen vom Grab weg. Auch die Umherstehenden zerstreuen sich, die Angehörigen werfen einen letzten Blick ins Grab und verlassen wehmütig und stumm den Friedhof. Zuletzt bleiben nur noch die Totengräber, die eifrig das Grab zuschaufeln. Dann treten auch sie mit ihren Werkzeugen ab, und der Tote bleibt dort unten ganz für sich allein. In diesem Augenblick dringt ein Sonnenstrahl durchs Gewölk, ein gelber Schmetterling fliegt über den Friedhof- das frohlockende Leben! Oder ist 's die Seele des Toten?

9. Schlussabend Almagell besitzt einen grossen, ungefähr kreisförmigen Dorfplatz, Endstation der Post-, Liefer-und Personenautos, Ausgangspunkt der Lastwagen nach Mattmark. Gegen Süden ist er durch eine Reihe Garagen abgegrenzt, die aber nicht dafür, sondern als Material-, ja Heuschuppen benützt werden. Gegen die Vispa zu steht das Gemeindehaus und Verkaufsmagazin, und daneben befindet sich ein Parkierungsplatz für Autos. Gegenüber, wo das Postauto jeweils hält, steht immer eine Reihe Gästewagen. Daneben aber ist eine lange Bankreihe angebracht. Alle Strassen und Wege von Almagell, Saas Grund und Mattmark münden in diesen Dorfplatz ein. Auch die Bewohner, Maultiere und Ziegen kommen nach des Tages Müh und Arbeit hier zusammen: Die Maultiere, um ab-gesattelt, die Ziegen, um in ihre Stadel entlassen zu werden. Die Almageller aber setzen sich auf die Bankreihe, ziehen ihre Pfeifchen hervor, ruhen sich aus und verhandeln des Tages Arbeit, morgige Pflichten und erzählen von ihren Beobachtungen an ihren lieben Mitmenschen und berichten von der Dorfchronik. Sie sitzen da in ihren dunkeln Kleidern, entspannt, ruhig und gelassen, und man muss gut hinhören, wenn man ihre Worte verstehen will. Sie reden hier nicht laut und heftig, Arm-und Handbewegungen sind selten und lässig. Die Augen verraten kaum, dass sie genau beobachten, wer über den Platz herkommt. Und setzest du dich dazwischen, so rücken sie zwar sofort näher zusammen und geben auf Fragen freundlich Antwort. Aber von ihren eigenen Gesprächen verstehst du wenig. So sitzen sie, Männlein und Weiblein, meist ältere Leute. Die Weiber zeigen grössere Leidenschaftlichkeit im Gespräch.

Wird es kühler und dämmerig, geht eins ums andere ab, die Weiber, um das bescheidene Mahl zu richten, den Stall zu besorgen, die Männer, um in der Wirtschaft des « Portjengrats » eins zu ziehen.

Dort sitzen auch wir in unserer Beobachtungsecke. Etwa tritt eine selbstbewusste, kräftige Gestalt mit stolzem Blick und Gang ein, dann wieder ein wilder Geselle mit rollenden Augen, meist aber abgearbeitete, ab und zu vom Trinken gezeichnete Menschen mit magern, eingefallenen Gesichtern, auch ein Vater mit seinem dunkelhaarigen Buben, jüngere kräftige, schon beim Eintritt übermütige Männer mit ihren hübschen Weibern. Man erkennt die Einheimischen sogleich an ihren wettergebräunten, markanten Zügen, ihren meist dunkeln Augen und Haaren, ihren sehnigen Fäusten. Gerne setzen sie sich zusammen, und bald entwickelt sich eine leidenschaftliche Unterhaltung, die oft lärmend wird, wenn der Wein seine Wirkung tut. Viele haben ein zigeunerhaftes Aussehen, ihre Mundart klingt fremd und schwer verständlich. Bergführer der Umgegend tauchen auf, setzen sich zu den Dorfgenossen und bringen neue Unterhaltung. Es fällt auf, dass sie massiger trinken, sich ruhiger verhalten.

Almagell hat nur noch zwei « amtierende » Bergführer. Einer ist Theo, den wir erwarten. Mit ihm haben wir uns befreundet. Er ist eine grosse, sehr kräftige Gestalt, mit breiten Schultern und starken Fäusten. Er hat einst den Maurerberuf erlernt. Sein Gesicht ist gutmütig, ruhig, seine ganze Art besonnen und verschlossen. Man muss ihm die Würmer aus der Nase ziehen, und auch dies gelingt nur, wenn er nach genügender Beobachtung Vertrauen gefasst hat. Selten erfährt man etwas über Ereignisse und Leute seiner Bergführungen. Er gleicht wenig seinem exotisch aussehenden, dunkeln Bruder, der Sekundarlehrer ist und früher auch Bergführer war. Theo ist zwar ebenfalls von Sonne und Wetter gegerbt, ist aber blond, mit blauen Augen. Er macht einen sehr zuverlässigen, sichern, vertrauenerweckenden Eindruck. Seiner Führung überlässt man sich bedenkenlos.

Wir fühlten von Anfang an innere Übereinstimmung und Zuneigung. So luden wir ihn öfters an unsern Tisch zu einem Glas Wein. Er wollte aber nie blosser Nutzniesser sein, liess sich nicht lumpen. Wir verstanden uns bald recht gut und fühlten eine Wesensverwandtschaft.

An diesem Abend - unserm Schlussabend in Almagell - sollte Theo auch erscheinen. Voraus aber hatte er eine Besprechung. Um unsern Tisch setzten sich schon unsere nähern Bekannten. Die Unterhaltung war im Fluss, als Theo gutgelaunt auftauchte. Er setzte sich neben mich, war merkwürdig aufgeschlossen und gesprächig. « Bei eurer Mundart muss man verdammt aufpassen, wenn man sie verstehen will! Doch Sie verstehe ich schon recht gut », erklärte ich ihm. « Mir händ isi eigen Sprach, wo niemer verstoht », meinte er bestimmt, « mir aber verstönd eu alii. » « Eure Sprache klingt oft sehr spröd », spöttelte ich; « aber wenn man dahinüber hört, kann sie sehr temperamentvoll und lärmend auftreten! » Und tatsächlich, am Nebentisch war eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Gemeindepräsidenten und drei Mitbürgern über die Dorfpolitik entbrannt, dass man glauben konnte, es käme zu einer Schlägerei. Aber bald beruhigte sich der Gesprächston, floss aber immer noch lebhaft genug dahin. Theo lachte: « Ja, so sind wir! » Er schaute mich vergnügt und voll Zuneigung an. « Theo, da wir uns jetzt so gut verstehen, könnten wir Duzis machen! » Er war sofort einverstanden, und unsere Gläser klangen zusammen. Jetzt schloss sich sein Inneres auf. Er be- richtete von der Gemsjagd. Er lachte grimmig, als er die grosse Anzahl der Jäger nannte, die das Patent lösten: « Kaum einer kommt auf seine Rechnung. Man müsste mindestens einen Bock erlegen, um die Kosten des Patentes herauszuschlagen. Die Jagdleidenschaft haben sie alle, aber glücklicherweise nicht Fähigkeit und Verstand. Mein Bruder und ich kommen immer auf unsere Rechnung. Wir kennen Ort und Schliche der Tiere genau, wissen, wann sie zu treffen sind. Es braucht grosse Ausdauer und auch Fähigkeiten, die eben wir Bergführer besitzen müssen. Die aber haben sie nicht und gehen leer aus. » « Ihr seid Mörder, seid schuld, dass man so selten ein Tier sieht! » Theo lächelte gutmütig; aber in seinen Augen flimmerte ein kleines Feuer: Jägerleidenschaft! -Dann gab er seine Meinung über das Mattmarkwerk kund. Er war sehr pessimistisch. « Die Benutzung des dortigen Materials und seine Vermischung mit Zement ist nichts wert. Das hält nicht auf die Dauer, und es würde mich gar nicht wundern, wenn 's später eine Katastrophe geben würde. Ich war bei der Abstimmung dagegen. Doch die andern denken nur an das »; er machte eine bezeichnende Bewegung mit Daumen und Zeigefinger. Und wir denken heute an Frejus.

Nun berichtete er von dem Bergunglück am Portjengrat, nur mit gedämpfter Stimme, so dass ihn nicht alle am Tisch verstanden. « Ja, wenn man so einen Arm in den Händen hält! » Damit brach er ab. Sein Freund Vögtli erzählte jetzt launig eine Anekdote aus seiner frühern Bekanntschaft mit Theo: « Wir marschierten von der Britanniahütte weg über den Gletscher gegen das Allalinhorn. Theo führte. Plötzlich gewahrte er, dass eine führerlose Gruppe in einer Gletscherspalte vor unsern Augen verschwand. Wir trafen sofort alle Anstalten zu ihrer Rettung, und unter Theos kundiger Anleitung gelang uns dies in verhältnismässig kurzer Zeit. Als der Leiter der Gruppe, ein grosser, ziemlich fester Mann, gerettet oben in Sicherheit stand, schaute er sich um, meinte ohne ein Wort des Dankes nur: „ Jetzt hätte mer 's wieder !" Das heisst Kaltblütigkeit !! » Wir sassen bis 12 Uhr beisammen. Die ganze Tischgesellschaft verabschiedete sich recht angeheitert. Ein kräftiger Händedruck, ein warmer, glänzender Blick besiegelten unsere Freundschaft mit Theo.

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