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Alpine Kulturlandschaft im Umbruch

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GerhardFurrer, Zürich

2jim aktuellen Kulturlandschaftswandel in Graubünden, aus der Sicht eines Geographen I. DIE KULTURLANDSCHAFT - EIN KOMPLEXES GEFÜGE Die Kulturlandschaft mit ihren sichtbaren Formen ( Relief- und Siedlungselemente, agrarische Nutzflächen beispielsweise ) und den ( nicht direkt sichtbaren ) Beziehungen der Landschaftselemente untereinander ist das Resultat einer generationenlangen Entwicklung: Menschen haben die heutige Kulturlandschaft geschaffen, indem sie ihre Wirtschaft, ihre Kultur unter Aus- nützung der natürlichen Voraussetzungen und innerhalb der ihnen von der Natur gesetzten Grenzen gestalteten. Diese Ausgestaltung war und ist im wesentlichen ausgerichtet nach den Bedürfnissen der Bewohner und den Anforderungen des Marktes. Die Kulturlandschaft ist daher ein komplexer und meist schwierig zu erfassender Organismus, ein aus zahlreichen natürlichen Landschaftselementen und anthropogenen Faktoren aufgebautes Gefüge. Dieses ist als ein dynamisches System aufzufassen: Seine natürlichen Elemente ( wie etwa Relief Klima, Vegetation, Böden ) können sich im Laufe der Zeit ändern oder durch menschliche Eingriffe verändert werden. Für den dynamischen Charakter sind ausserdem ändernde anthropogene Faktoren ( z.B. Anbautechniken, Markt, Lebensgewohnheiten ) verantwortlich.

Drei Beispiele sollen die bisherigen Ausführungen belegen:

i ) Der Gebirgswald als Landschaftsamschnitt Unter klimatisch und orographisch extremen Bedingungen hat sich eine ausgeprägte Lebensform des Waldes - der Gebirgswald - entwickelt. « Es gibt kein Einzelgeschehen ( in ihm ), welches nicht irgendwie durch das Gesamtgeschehen beeinflusst wäre, und kein Gesamtgeschehen bleibt vom Einzelgeschehen völlig unberührt » ( Leibundgut, nach Winkler, 1968 ). Deutlicher kann der Gefügecharakter der Landschaft - in unserem Falle dient der Wald als Beispiel eines Land-schaftsausschnittes - wohl kaum charakterisiert werden.

2 ) Beeinflussung der Landschaftsstruktur durch Sitten und Bräuche In einem engen, abgeschlossenen Tal ( z.B. St.Antönien; Flutsch, 1972 ), indem Realteilung ( Erbsitte ) gepflegt wird, zeichnete sich bis in die jüngste Vergangenheit der « Heiratskreis » durch ausgeprägte Engräumigkeit aus: Heiraten verbanden vorzugsweise Partner, die im Wirtschaftsraum ein- und derselben Gemeinde eigenes Kul- turland besassen. Was war nun die Folge dieses Verhaltensmusters bei der Partnerwahl? Das in die Ehe eingebrachte Gut an Land, Wohn- und Ökonomiegebäuden beider Ehegatten sowie die notwendigen Nutzungsrechte auf Allmenden, Alpen und im Wald erlaubten der neuen Familie die Gründung eines existenzfähigen Hofes.Ändert hingegen ein Faktor, wird etwa der « Heiratskreis aufgebrochen » und stammt damit der eine Ehepartner aus einem anderen Dorf oder gar einer andern Talschaft, so stösst die Möglichkeit einer neuen Hofgründung auf erhebliche Schwierigkeiten. Realteilung bedeutet im Zusammenwirken mit einem « engbegrenzten Heiratskreis » folglich: Nicht zerfallende Höfe mit genutzten Wiesen und Äckern und Weiterbestand der dörflichen Gemeinschaft. Es findet keine Güterzersplitterung statt, weil weder Grundstücke noch dazugehörige Gebäude geteilt werden, dagegen ändert die Zugehörigkeit der Parzellen zu den einzelnen Betrieben ( Besitzrotation bei gleichbleibender Parzellierungeine Güterzusammenlegung wird nicht notwendig.

3 ) Brachland und Vergandung Mit Vergandung ( Gand = Geröllhalde ) bezeichnen wir die Verwilderung von ungenutzten Äckern und Wiesen. Gresch ( 1972 ) konnte zeigen, dass in intensiv bewirtschafteten Wiesen die Kräuter gegenüber den Gräsern dominieren. Entfällt die Nutzung, so nehmen die Gräser überhand. Diese Zunahme setzt den Zusammenhalt der obersten Bodenhorizonte herab, in der Folge treten Rutschungen auf. Eine weitere Auswirkung besteht darin, dass auf dürren Grashalmen der Schnee keinen festen Halt findet; Schneerutsche und Lawinen treten häufiger auf als zur Zeit intensiver Bewirtschaftung. Nur ein veränderter Faktor - die landwirtschaftliche Nutzung wurde aufgegeben — vermochte im Landschaftsorganismus eine « Kettenreaktion » auszulösen.

Ändern oder beeinflussen wir ( auch bei gutgemeinten « Sanierungsmassnahmen » ) ein Landschaftselement, so müssen wir - als Folgerung aus den aufgeführten Beispielen zu schliessen - auf das LandschaÜsganze Rücksicht nehmen. Im komplexen Gefüge der Kulturlandschaft, wo sich einzelne Elemente gegenseitig beeinflussen, darf das Einzelelement nicht für sich allein, also isoliert, betrachtet werden: Massgebend ist seine Stellung im Gesamtgefüge.

Wegen des dynamischen Charakters der Kulturlandschaft ist es schwierig, den Wandel in der Landschaft umfassend darzustellen und zu analysieren. Schwarzenbach ( 1973 ) schreibt dazu: « Besonders schwer fällt es dem Menschen, komplizierte dynamische Systeme zu überblicken, die sich ganz langsam wandeln. Schleichende Veränderungen, die sich unter unseren Augen abspielen, werden in der Regel erst wahrgenommen, wenn die Folgen mit Händen zu greifen sind. Wie bei der photographischen Entwicklung eines belichteten Filmes vorerst aus vereinzelten Schwärzungen ein unzusammen-hängendes Mosaik dunkler und heller Flecken entsteht, bis schliesslich schlagartig das Bild zum Vorschein kommt, werden allmählich fortschreitende Entwicklungen erst in späten Stadien erfasst.

Die mangelnde Fähigkeit des Menschen, langsam ändernde Systeme in ihrer Entwicklung überblicken zu können, verrät sich in der üblichen Reaktion, bei auftretenden Störungen die Symptome zu bekämpfen, anstatt das Übel an der Wurzel zu packen. Dabei sollten uns die allgemeinen Schwierigkeiten in der Sachploitik unserer Zeit schon längst klar gemacht haben, dass punktuelle Eingriffe in komplizierte dynamische Systeme vielfältige Folgewirkungen auf verschiedenen Ebenen und unerwartete Rückkoppelungsejfekte auslösen. » Die sichtbaren Landschaftsveränderungen im zentralalpinen Raum Europas haben im grossen und ganzen in den Nachkriegsjahren eingesetzt, wobei ihr deutlich wahrnehmbarer Niederschlag sich erst seit Mitte der fünfziger Jahre abzeichnet. Der gegenwärtige alpine Kulturlandschaftswan- del unterlag in den vergangenen 20 Jahren einer Beschleunigung, die in keinem vorangegangenen Zeitraum derartige Ausmasse angenommen hat. So sind wir heute Zeugen tiefgreifender, oft sprunghafter Veränderungen im alpinen Raum. Dieser Umwandlungsprozess entglitt teilweise der menschlichen Kontrolle, was sich schon bald nach dem Krieg abzuzeichnen begann. Dem Volkskundler Richard Weiss ist die Krisensitua-tion nicht entgangen, wenn er 1957 schrieb: « Man kommt nicht um die Feststellung herum, dass die Alpen auch in der Zeit der Hochkonjunktur ein eigentliches Krisengebiet sind, dass sich der Bergbauer in einer wirtschaftlichen und einer seelischen Krise befindet, dass man das Proletariat und die Slums heute nicht in den Städten, sondern in den Bergtälern suchen muss » ( Zitat nach A. Hauser, 1973 ).

2. BEVOLKERUNGSGEOGRAPHISCHE ASPEKTE 2.1. Entvölkerung der Zwerggemeinden und Bevölke-rungsballung in wenigen Wachstumszentren igjo-igyo Zu-/Abnahme > 30% ( I95qft Zunahmegemeinden ( 23 ) O Abnahmegemeinden ( 35 ) nwohnef Karte 1 Starke Veränderung der Einwohnerzahlen in der Zeit 1950-1970 in 58 von 220 Gemeinden vergrössern die regionalen wirtschaftsgeographischen Unterschiede ( Grundlage: eidgenössische Volkszählungen ).

Figur i Entvölkerungsgemeinden ig^o-igjo: In 79 Gemeinden sank in diesem Zeitraum die Einwohnerzahl um 10 bis 29%, in 35 Gemeinden sogar um einen Betrag von über 30%. Das Total der in den beiden Entvölkerungsge-meindeklassen lebenden Menschen ist jeweilen oben links festgehalten ( obere Reihe 1950 ).

Die Dreiecksdarstellung gibt für jede dieser Gemeinden den prozentualen Anteil der erwerbstätigen Wohnbevölkerung in den drei Produktionssektoren wieder ( oben 1950, unten 1970 ). Dieser Wert erscheint für jede Gemeinde in Form eines Punktes im Dreieck-koordinatensystem, die Dreieckssignatur mit zentralem Punkt hält das arithmetische Mittel fest ( Länge einer dreiecksseite: 100% ).

Die prozentualen Anteile der Altersklassen wurden für jede Gemeinde einzeln und getrennt nach Geschlechtern ermittelt. Die Mittel gleicher Altersklassen ergaben die dargestellten durchschnittlichen Pyramiden des Altersaufbaus der Bevölkerung. Die männliche Bevölkerung ist auf der linken ( Blickrichtung ) Pyramidenseite dargestellt; Altersklassen: 0-14 Jahre ( Pyra-midenbasis ), 15-19, 20-39, 4°~59> 60-64 und ältere. Gesamte schraffierte Fläche = 100%.

In nur 20 Jahren hat die Einwohnerzahl von 58 der 220 Bündner Gemeinden eine Veränderung von über 30% erfahren. Von der Entvölkerung sind in erster Linie die Gemeinden mit weniger als 200 Einwohnern betroffen. In den 35 Gemeinden mit starkem Bevölkerungsrückgang ( über 30% ), in denen 1970 gesamthaft noch i3/4% der Bündner Bevölkerung lebte, erreichte im Jahre 1970 der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Einwohner einen hohen Wert ( über 50% vom Total aller Erwerbstätigen ). Diese Tatsache erhält einen alarmierenden Stellenwert, wenn der Altersaufbau der Einwohner mitberücksichtigt wird: Der Anteil der über 40jährigen ( « Überalterung » ) war 1970 grosser als jener der jüngeren Generation. Es ist daher zu befürchten, dass Zwerggemeinden, deren Bewohner mehrheitlich von der Landwirtschaft leben, in naher Zukunft einen weiteren Bevölkerungsverlust erleiden werden: Vom « Leben » der Gemeinde her beurteilt, stellt dies die Existenz der Dörfer in Frage. Die daraus entstehenden Konsequenzen im Bergbauerntum und in der Landschaft sowie für den Tourismus sind wohl kaum abzusehen.

Die Wachstumsgemeinden weisen einen unbedeutenden Anteil von Erwerbstätigen im primären Erwerbssektor ( Landwirtschaft ) auf, dagegen dominieren der sekundäre ( Gewerbe und Industrie ) und der tertiäre Sektor ( Dienstleistungen, Fremdenverkehr ). Der altersmässige Bevölkerungsauf-bau dieser Gemeinden ist als gesund zu taxieren ( Pyramide mit breiter Basis ).

Betrachtet man die Veränderung der Bevölkerungszahlen, den altersmässigen Bevölkerungs-aufbau und die Erwerbsstruktur aller Bündner Gemeinden gesamthaft, so haben sich seit 1950 die regionalen wirtschaftsgeographischen Unterschiede verschärft — ein Prozess, der vorläufig andauern dürfte.

2-2. Frauenmangel?

Der Anteil der weiblichen Personen an der Gesamtbevölkerung ging von 1950 bis 1970 in Graubünden zurück ( 1950: 105 weibliche: 100 männliche, 1970: 97 weibliche: 100 männliche Personen ).

Wegmann ( Dissertation unveröffentlicht ) stellte im Hinblick auf die weiblichen Personen im « gebärfähigen » Alter folgende Tabelle zusammen:

20-jgjährige weibliche PersonenAnteil an der weiblichen Gemeindebevölke-rung, gemeindeweise berechnet ) AnzahlDominanter Anteil der 2O-39Jährigen, Gemeinden Erwerbssektor Durchschnitt jeder der Wohn- Gemeindeklasse ( in% ) bevölkerung 95°'97° I 26,2 7,8 70 II 25,5 22,5 57 III 28,4 25,6 In den 93 landwirtschaftlich orientierten Gemeinden Graubündens nahm in der betrachteten Zeitspanne der Anteil der weiblichen Personen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren am stärksten ab.

Hausers ( 1973 ) Hypothese, « in der Berglandwirtschaft wird es zu einem Frauenmangel kommen, weil immer weniger Mädchen bereit sind, einen Bergbauern zu heiraten » ( S.54 ), würde -wenn sie zutreffen sollte - sich auf die Kulturlandschaft katastrophal auswirken. Untersuchungen zu diesem Problem in verschiedenen Talschaften ergeben zumindest, dass die Heiratssorgen der Jungbauern nicht von der Hand zu weisen sind.

3. HAUPTSÄCHLICHE ZÜGE DES WANDELS IM A GR A R LAN DSC H AFT LI CHEN BEREICH Während die Extensivierung beim Futterbau regional unterschiedlich beurteilt wird, ging der Ackerbau stark zurück.

Mit dem Rückgang der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ging vielerorts eine Zunahme der Betriebsgrösse einher. Am innern Heinzenberg oder in Nufenen etwa entstanden als Folge von Sanierungsmassnahmen, im Zusammenhang mit der Mechanisierung und dem Übergang von de-zentralisierter zur zentralisierten Betriebsweise, grosse Ökonomiegebäude und neue Wege. Aus-senställe und abgelegene Scheunen dagegen wurden funktionslos, weil dank der Sanierung der traditionelle Mehrstufenbetrieb in seiner Organisation vereinfacht werden konnte. Das führt sehr oft zur Extensivierung oder zum Nutzungsver-zicht vor allem von Bergwiesen. Der Mechanisierung und Betriebsvergrösserung im alpinen Raum sind sowohl von der Natur aus als auch von der Seite der menschlichen Arbeitskraft her Grenzen gesetzt, so dass wir - abgesehen vom Nachfolge- ( und Altledigen-)problem der Be-triebsinhaber - auch aus dieser Blickrichtung damit rechnen, in den achtziger Jahren ernsthaft mit dem Brachland- und Wüstlegungsproblem konfrontiert zu werden.

4. DER GEBIRGSWALD IM 20. JAHRHUNDERT Abgesehen von der wirtschaftlichen, von der Schutz- und Erholungsfunktion kommt dem Wald in den Alpen auch wegen seiner Stellung im Landschaftshaushalt hohe Bedeutung zu. Er ist dank der vom Gesetzgeber zu seinen Gunsten erlassenen Schutzbestimmungen als relativ stabiler Landschaftsteil zu bewerten. Sieht man von Aufforstungen und Verbauungen, Erschliessung und Holznutzung sowie von anhaltendem Druck auf die obere Waldgrenze ab, so ändert sein formaler Aspekt kaum. Ragaz ( 1968 ) äussert sich zur Waldgeschichte in Graubünden im Blick auf die vergangenen 70Jahre wie folgt:

Öffentlicher wie privater Wald zeigen eine Flä-chenvermehrung, « die auf eine Wiederbestok-kung abgelegener landwirtschaftlicher Böden zurückzuführen ist » ( S. 10 ). Bezüglich der Veränderungen ist die ausreichende und rechtzeitige Verjüngung der Waldbestände von entscheidender Bedeutung. « Allzuoft wurde nach ausgeführtem Holzschlag auf eine natürliche Verjüngung abgestellt, die zufolge des fehlen- den Samens, der Verunkrautung des Bodens, der Schneelagen... nicht zum Erfolg führte. Gross sind deshalb die Flächen verlichteter Wälder, auf deren Boden reichlich Licht und Sonne fallen, ohne dass aber Spuren einer erfolgversprechenden Verjüngung zu erkennen sind » ( S. 12 ).

Die oberen Waldzonen sind besonders gezeichnet, wo « ausgedehnte Bestände keine oder nur geringe Spuren einer Waldpflege erkennen lassen. Hier musste sich die Gebirgsforstwirtschaft oftmals auf eine Konservierung des Vorhandenen beschränken, und so ist noch heute unbekannt, wann eine neue Waldgeneration die daselbst stockenden Altbestände abzulösen vermag » ( S. 12/13 ). Die Verjüngung überalte-ter Bestände stellt besondere Probleme. Sie sind vor allem an schwer zugänglichen Standorten sowie nahe der Waldgrenze zahlreich. « Zusammenfassend darf festgestellt werden, dass der Wiederaufbau der Gebirgswälder sehr bedeutende Fortschritte gemacht hat. Der Schutzzweck derselben konnte verbessert und die Nutzleistung ganz wesentlich erhöht werden. Es sind dies beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Gebirgsforstwirtschaft » ( S. 13 ).

5. WANDLUNGEN DER SIEDLUNGSLAND-SCHAFT IN ZUSAMMENHANG MIT DEM FREMDENVERKEHR Die enorme Bautätigkeit liess in den vergangenen zwei Jahrzehnten oft wild zerstreute und ihrer Umgebung kaum angepasste Bauten aus dem Boden schiessen. Diese Entwicklung bildet den « casus belli » aller Freunde unserer alpinen Landschaft, denn unglückliche Auswüchse vermögen den Erholungswert einer Landschaft erheblich zu schmälern, belasten den Haushalt ihrer Umgebung und verändern im Sinne der Verstädterung altvertraute alpine Kulturlandschaften.

1937 1965 Karte 2 Die Entwicklung der Logiernächte aller Beherbergungsformen in den zehn wichtigsten Fremdenverkehrsorten ( 1937 und 1965 ) und prozentuale Anteile der Logiernächte in Hotels und Pensionen und in Ferienhäusern ( 1937 und 1965 ) ( nach Beer 1968 ) Man beachte die zunehmende Bedeutung der Ferienhäuser.

Die Bautätigkeit in den Fremdenverkehrszentren ist schwierig zu messen; ihr Wachstum kann aber indirekt auf folgende Art zum Ausdruck gebracht werden:

1 ) In der Karte 1 der Bevölkerungsverände-rung deutet die Zunahme der Einwohnerzahlen auf notwendig gewordenen Wohnraum und auf einen zunehmenden Verstädterungsprozess ( etwa im Engadin ) hin.

2 ) Die Karte 3 über die Entwicklung des Bettenbestandes in Hotels und Pensionen spiegelt -ausser der abnehmenden Bedeutung von Kurbä-dern - die Zunahme der Hotelbauten wider.

5000 Betten 1000 I u u d o 200 UJJ Z)îV Entwicklung des Bettenbestandes in den Hotels und Pensionen der zehn wichtigsten Fremdenorte ( 1929, 1945, ig6o und 1970 ) 1 Davos5 Klosters8 Lenzerheide 2 Arosa6 Flims9 Susi. E.

3 St. Moritz7 Schuls/Tarasp/ 10 Celerina 4 PontresinaVulpera ( Nach Beer 1968 und Fremdenverkehrsstatistik 1970 ) 3 ) Die Karte 2 endlich will die Zunahme der Ferienhäuser verdeutlichen. « Zweitwohnungen » treten auch als Eigentumswohnungen von Mehr-familienhäusern und umgebauten landwirtschaftlichen Gebäuden auf. So belief sich Ende 1970 der Bestand von Zweitwohnungen auf 26V2 % im Wallis und 24V5 % in Graubünden des gesamten Wohnungsbestandes ( « Tagesanzeiger », 11.12.1973 ). Besonders hoch ist dieser Anteil in einzelnen Fremdenverkehrszentren. Ausserdem treten solche in von der Entvölkerung bedrohten Dörfern auf:

« Zweitwohnungen ,retten'Dörfer.

Wir haben... im Bündner Calancatal Gemeinden gefunden, bei denen bis zu 75% aller Wohnungen Zweitwohnungen sind. Es handelt sich vielfach um « sterbende » Dörfer, in denen nur noch die Alten als ständige Bewohner ausharren. Die Jungen kommen übers Wochenende und in den Ferien. Ihr angestammtes Haus behalten sie aber, auch nach dem Tod der Eltern. Hie und da wird auch eines der alten Häuser verkauft, manchmal nur ein Stadel, der dann zu einem Ferienhäuschen ausgebaut wird und in der Statistik hernach als Zweitwohnung erscheint. Diese Art Zweitwohnung bewahrt manches Dörflein vor dem völligen Verfall und damit vordem Untergang » ( « Tagesanzeiger », 11.12. 1973 ).

Der Fremdenverkehr hat sicher zahlreiche negative Auswirkungen gebracht, welche bei anderem Handeln vermeidbar gewesen wären. Vergessen wir aber nicht: Er ist heute doch die tragende Säule der Wirtschaft und damit des Lebens in zahlreichen Gebirgslandschaften.

6. VERÄNDERUNG IM ZUSAMMENHANG MIT DER INDUSTRIALISIERUNG 1965 100 1929 KANTON GR AUBUNOEN Beschäftigt« 519 12* 19Bs| 3TO 93 3« 1965 100 01929 Karte 4 Anzahl der dem Fabrikgesetz unterstellten Betriebe und ihrer Beschäftigten in Graubünden nach Bezirken ( nach Beer 1968 ).

Unbestreitbar hat der Kraftwerkbau, der mit seinen hydroelektrischen Anlagen praktisch die gesamte vertikale Gliederung der Alpen berührt, neue und für die alpine Bevölkerung wertvolle Veränderungen gebracht, wenn diese teilweise auch nur temporärer Natur sind ( Zeiten der Er- Stellung von Staudämmen und Kraftwerken ). In ihrem Gefolge sind insbesondere leistungsfähige Strassen und Wohnhäuser in zahlreichen Tälern erstellt worden.

Aber auch andere industrielle Bauten und ihre Infrastrukturanlagen ( z.B. Zubringerdienste ) haben zugenommen. Die starke Bevölkerungszunahme ( Karte i ) im Rheintal nördlich von Chur hängt mit der Industrialisierung zusammen. « In-dustrieansiedlung von Berggebieten » ist ein Problem, das ernsthaft studiert wird. Im Zusammenhang mit der Austrocknung des Arbeitsmarktes wird die Verlagerung einzelner Produktionsanla-gen in alpine Täler wirtschaftlich interessant. Die Folgen der Industrialisierung sind vielfältig, denken wir nur etwa an die Schaffung von Ausbil- Verteilung der Gemeinde n Prozentwerten » " Erwerbs- Figur 2 Lage der Gemeinde in den verschiedenen Höhenstufen und die Erwerbsstruktur ihrer Bevölkerung 1. Gemeindeklassen 1950-1970 ( von links nach rechtsZunahme der Einwohner über 30Zunahme der Einwohner 10-29% Mitte: Veränderung bis ± 9Abnahme der Einwohner um 10—29 bzw. über 30% 2. Von unten nach oben: Höhenlage der Gemeinden Entvölkerungsgemeinden weisen oft einen bedeutenden I. Erwerbssektor auf, während der II. Sektor ( Industrie, Gewerbe ) in der Mehrzahl der übrigen Gemeinden überwiegt, abgesehen von hochgelegenen Touristenzentren oder wichtigen zentralen Orten.

dungsgelegenheiten für die junge Generation ausserhalb der Landwirtschaft. Inwiefern aber die Industrialisierung als Mittel im Kampf gegen die Abwanderung dienen kann, sei hier nicht näher untersucht. Stark industrialisierte Täler, wie etwa das Rhonetal, haben das Aufkommen des « Arbeiterbauern » ermöglicht ( vgl. Landtwing, K., 1973, Ausserberg — Kulturlandschaftliche Veränderungen als Folge des Arbeiterbauerntums ).

7. BILANZ UND AUSBLICK Unsere alpine Kulturlandschaft ist ein über Jahrhunderte bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinein vornehmlich evolutionär gewachsener Organismus. Stürmisch verlaufene Phasen - etwa Rodungen zu Zeiten der Landnahme -sind im Laufe ihrer langen Geschichte natürlich nicht unterblieben. Doch im vergangenen Vierteljahrhundert wurden wir Zeugen eines tiefgreifenden Umbruchs, bei dem vielerorts- besonders im Zusammenhang mit dem aufblühenden Fremdenverkehr - das Landschaftsgefüge durch menschliche Eingriffe sprunghaft verändert wurde. Dabei blieb der Wald weitgehend verschont, weil der menschlichen Einwirkung von Gesetzes wegen wenig Spielraum offenbleibt. Weite landwirtschaftliche Nutzflächen - hauptsächlich in der Nadelwaldstufe - dagegen wurden überbaut oder durch Streubauweise « zersiedelt ».

Der Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung und deren altersmässiger Aufbau lassen düstern Prognosen Raum: Das Vergandungspro-blem und der Zerfall von landwirtschaftlichen Siedlungselementen dürften uns in nächster Zukunft vermehrt beschäftigen. Ausserdem zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass der Mangel an künftigen Bäuerinnen der entscheidende Parameter in der Berglandwirtschaft wird.

Die kleineren, landwirtschaftlich orientierten Gemeinden in abgelegenen Talschaften sind wohl dem Untergang geweiht.

Der Entvölkerung von Zwerggemeinden steht ein Konzentrationsprozess in einigen Wachstumszentren städtischen Charakters gegenüber, was zur Verschärfung der regionalen wirtschaftsgeographischen und kulturellen Gegensätze führt.

In bescheidenem Rahmen ( gemessen am Fremdenverkehr ) nahm die Zahl der Arbeitsplätze und der Ausbildungsmöglichkeiten für die junge Generation im sekundären Produktionssek-tor zu. Wenn man mit Dönz ( 1972 ) die heutige Krise in der Berglandwirtschaft u.a. auf die « Mussbauern » zurückführt, die sich während der Krisenzeit der dreissiger Jahre und zur Zeit ihrer Berufswahl, als ausserhalb der Landwirtschaft kaum Arbeit zu finden war, « an eine landwirtschaftliche Existenz klammern ( mussten ), selbst wenn diese noch so klein war », so sind Industriebetriebe im Berggebiet nur zu begrüssen.

Als Hauptpfeiler der bündnerischen Volkswirtschaft hat sich der Fremdenverkehr in der Nachkriegszeit stark entwickelt; das zeigt sich beispielsweise in folgenden Zahlen:

Berufstätige in Graubünden ( nach Erwerbssektoren, inIIIIII ( Land-undIndustrie ( Dienstleistungen, Forstwirtschaft und Gewerbe Fremdenverkehr )'950 27 1970 14 3'38 [2 Die dominierende Stellung des Fremdenverkehrs und der dazugehörigen Dienstleistungen, insbesondere aber eine zu einseitige Ausrichtung auf diesen Erwerbszweck, birgt Gefahren in sich, welche die Kulturlandschaft als Ganzes empfindlich stören könnten. Bereits erheben sich mahnende Stimmen: « Der Rückzug von der Piste hat nach Ansicht von Fritz Schwarzenbach bereits eingesetzt. Er verdeutlicht, dass die milliarden-schwere Wirtschaftsmacht rund um die Abfahrtspisten einem Koloss auf tönernen Füssen gleicht und der kritischen Aufmerksamkeit bedarf » ( « NZZ », Nr. 126, 1.3.1974 ).

Bei künftigen Sanierungsmassnahmen in der Landwirtschaft, bei der Errichtung von Indu-strie- und Fremdenverkehrsanlagen ist vermehrte Rücksicht auf das gesamtlandschaftliche Gefüge dringend zu fordern: Diese menschlichen Eingriffe in den Landschaftsorganismus sollten gut durchdacht und « erschütterungsfrei » erfolgen. Vom kulturlandschaftlichen Standpunkt aus reden wir keinem « Ausbaustop » das Wort: Stillstand bedeutet auch in der kulturlandschaftlichen Entwicklung Rückschritt; es gilt aber den Götzen unserer Zeit - die Zuwachsrate nämlich - in den Griff zu bekommen.

Literatur:

( 1 ) Beer, A.: Strukturwandlungen im Fremdenverkehr des Kantons Graubünden von 1925 bis 1965. Diss. St. Gallen, 1968.

( 2 ) Dönz, A.: Die Veränderung in der Landwirtschaft am Beispiel des Vorderprättigaus.Diss. ETH Zürich, 1972.

( 3 ) Flutsch, E.: Die traditionelle Erbsitte in St.Antönien und deren Auswirkungen aufdie Kulturlandschaft.UTO 12/'972- ( 4 ) Gresch, P.: Vergandete Agrarareale im oberen Goms ( Wallis).Geographica Helvetica 4/1972.

( 5 ) Hauser, A.: Das Berggebiet in der Sicht des Agrarsoziologen. Ztschr. für Vermessung, Photogrammetrie, Kulturtechnik 3/1973.

( 6 ) Landtwing, K.: Ausserberg - Kulturlandschaftliche Veränderungen als Folge des Arbeiterbauerntums - UTO 5/'973-

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