Altes und Neues vom Kaiserstock | Club Alpino Svizzero CAS
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Altes und Neues vom Kaiserstock

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Von Hermann Bossard. Nordgrat.

Als Schuljunge sass ich oft stundenlang über Vaters C. Büchern, und statt Aufgaben zu machen, brannten mir Augen und Wangen von den verwegenen Taten der damaligen Bergsteiger. Auch einmal einen richtigen Gipfel zu erklettern, war mein heissester Wunsch. Wohl nahmen mich meine Eltern schon mit sechs Jahren auf Rigi und Pilatus mit, aber mein Ehrgeiz ging bereits höher hinaus. Im Jahre 1900 sollte derselbe befriedigt werden. Mein Bruder in Zug, damals noch ein junger Arzt, hatte mir zum Geburtstage eine schöne Bergreise versprochen, und eines schönen Tages wanderten wir zu dritt das Riemenstaldertal hinauf. Ich sehe heute noch das fröhliche Anneli ein Kreuz schlagen, als es hörte, unser Begleiter sei ein Herr Teufel, und auch seine Mutter pflegte nach Jahren noch zu sagen: « Ach ja, der Herr Teufel! Gott hab ihn selig. » Eine Hütte auf der Liedernenalp gab es damals noch nicht, und der Aufstieg durch das nächtliche Broholz dünkte mich abenteuerlich genug. Der schlanke, weisse Kalkturm des Schmalstöckli, umwogt von einem silbernen Nebelschleier, versetzte mich in eine ungeheure Begeisterung, und diese wuchs ins Grenzenlose, als ich im strahlenden Morgenglanze die ganze Kaiserstockkette auftauchen sah. Die vielen Hügel und Tälchen umgingen wir in grossem Bogen gegen den Faulen zu, und hochaufatmand berührte ich mit. meinen Händen die ersten Kletterfelsen am Kaisertor. Wohl machte der darauffolgende Gang über den sicheren Grat mein Herz ordentlich klopfen, aber es ist unmöglich, Augen und Sinne weiter zu öffnen, um all das Schöne und Grosse aufzunehmen, wie ich es damals tat. Ich habe seither viele grosse und stolze Gipfel bestiegen, aber diese erste Bergfahrt blieb in meinem Innern fest und deutlich eingegraben.

Einige Jahre darauf, am 19. Dezember 1905, als meine Bergerfahrungen schon erheblich gereift waren, machte ich mich zu einer Winterbesteigung des Kaiserstockes auf. Mein damaliger Begleiter, K. Rüttimann von Zug, hatte wie ich den Wunsch, den Berg einmal im Winterkleide anzusehen. Nur mit Schneereifen à 1a Wipfli ausgerüstet, wühlten wir uns von morgens 3 Uhr an durch metertiefen Schnee mühsam gegen die Scharte empor, und erst um 2 Uhr nachmittags durften wir uns am sturmgefegten kleinen Steinmann bei wolkenlosem Himmel zur kurzen, kalten Rast niederlassen.

Wie macht man sich doch heute die Sache leicht mit den treuen Ski! Wohl bleibt der Stutz zur Hütte hinauf immer noch ein gutes Stück Arbeit, und der Spurende kann so recht zeigen, was ein harter Kopf und ein Paar gute Beine zu leisten vermögen.

Südost- oder Schneckengrat.

An einem Clubabend lasen wir irgendwo, dass ein Berg mit nur einer Anstiegsroute eine alpine Unmöglichkeit sei. Wir suchten hin und her und fanden keinen Gegenbeweis. Die Sache spukte lange in meinem Kopfe herum und siehe da! wie steht es mit meinem Kaiserstock? Ich erkundigte mich überall, und niemand wollte etwas anderes kennen als den gewöhnlichen Weg über den Nordgrat.

Schon acht Tage darauf, es war der 18. Mai 1924, waren J. Abegg, Hermann und ich am Aufschwung des Südostgrates. Warum wir damals den viel schwierigeren Einstieg, etwa 20 Meter östlich vom Grat, gewählt hatten, statt gerade empor zu klettern, ist mir heute noch ein Rätsel. Wir gingen über allen Grat, zuletzt über eine feine, geborstene Riesenplatte und über den faulen Kamm zum Vorgipfel, um enttäuscht in eine tiefe, scheinbar unerreichbare Scharte hinunter zu blicken. Zurück und viel Seil nehmen, war unsere Losung. Am obersten Gipfelklotz des Vorgipfels war eben eine Schnecke im Begriff den höchsten Punkt zu erreichen, darum nannten wir unseren Weg den Schneckengrat.

Am 19. Juni 1924 sassen wir wieder beim Znüni am Einstieg. Diesmal gingen wir nach dem ersten Aufschwung über ein Band nach rechts und dort, wo eine kleine Höhlung oben sichtbar wurde, hinauf direkt auf den Vorgipfel. Beim Ordnen der Reserveseile musste ich zu meiner Überraschung etwa 20 Meter östlich ein kleines Band entdecken, und siehe da, ohne irgend welche Seilmanöver leitete dasselbe, allerdings durch zwei senkrechte Stufen unterbrochen, leicht in die Lücke hinunter. Von hier aus hat man verschiedene Wege offen. Die der Scharte breit aufgesetzte Gipfelwand wird aber am besten zuerst gerade hinauf, dann aber nach links über den Südwestgrat über solide Felsen bezwungen.

Seither habe ich diesen Weg öfters hinauf und hinab gemacht, auch allein, und ich muss immer ein Lachen unterdrücken, wenn ich in der Hütte von Unbekannten die Frage höre: Haben Sie den Schneckengrat auch schon gemacht? Der Name scheint sich einzubürgern.

Südwestgrat.

Am 18. September 1931, an einem wunderbaren Herbsttage, nehmen wir einen neuen Anlauf. Diesmal kann ich Freund Alois Staub als bewährten Begleiter gewinnen. Samstag nachmittags steigen wir durch die schön ge- färbten Laubwälder hinan und dringen schon bei Nacht über den steilen Hang gegen die Liedernenhütte vor. Diese ist ziemlich angefüllt, aber der gefällige und tüchtige Hüttenwart hat bald für uns gesorgt. Morgens 8 Uhr stehen wir auf der sonnigen Kanzel beim Einstieg.

Wieder probieren wir den direktesten Weg über die Kante; aber das äusserst brüchige Gestein weist uns zurück. Es besteht auch nicht die leiseste Möglichkeit, einen Sicherungshaken zu placieren. Wir arbeiten wohl eine Stunde lang, kommen aber nur sechs Meter empor. Schade, denn nur noch vier Meter, und wir hätten gewonnen und die ideale Linie gefunden. Wohl oder übel müssen wir also die Steilkante umgehen. Links wissen wir von früheren Versuchen her, dass es hoffnungslos ist, denn ganze Bänke grifflosen und splitterigen Kalkes hängen über. Es bleibt also nur noch das schmale, brüchige Band nach rechts. Leichter als wir geglaubt, wenn auch reichlich exponiert, kommen wir ein wenig absteigend zu einer Nische und finden zirka drei Meter höher einen natürlichen, wenig von der Wand abstehenden Sicherungszacken. Eine Seilschlinge wird umgehängt, und an winzigen Griffchen turnen wir auf die Ecke hinaus. Ein Versuch, direkt nach oben zu kommen, wird abgewiesen, und so queren wir fünf Meter weiter. Vorsichtig die Trittchen ausputzend, kommen wir zu einem kleinen, brüchigen, überhängenden Stemmkamin und erleichtern uns die Arbeit dort mit einem Schulterstand. Nun sind wir auf einem prächtigen Plätzchen und sehen auch, dass wir gewonnene Sache haben.

Die Felsen werden besser, und bald stehen wir wieder auf der Gratkante, knapp drei Meter vom äussersten Rand. Schon weiter unten gab es eine Möglichkeit, gegen die Lücke vor dem Schneckenspitz auszuweichen. Auf bekanntem Boden gelangen wir in fünf Minuten auf den Gipfel. Es ist 10 1/2 Uhr. Wir haben vom Einstieg also 2 1/2 Stunden gebraucht, wobei mindestens 1 1/2 Stunden durch Suchen verloren gingen. Von der Herbstsonne ordentlich durchgebraten, lassen wir es uns nun wohl sein und erfreuen uns des herrlichen Rundblickes und unseres bescheidenen Erfolges.

Durch den oberen Westwandkamin.

Die grosse, gegen den Faulen gerichtete Westwand hat beim Gipfel eine Maximalhöhe von etwa 250 m und verkleinert sich gegen das Kaisertor hin bis auf 20 m. Etwa 50 m nördlich vom Gipfel zieht sich eine Art Kaminreihe hinunter, in der Mitte durch einige markante Höhlungen gekennzeichnet. Weitere 100 m nördlich ist eine fast schluchtartige Depression in der Wand, mit auffälligen, schrägen Plattenstellen. Beide sind erst etwas oberhalb des gewöhnlichen Weges zum Kaisertor gut sichtbar, und beide schienen mir gangbar. Die obere, höhere, weil fast auf den Gipfel ausmündend, dürfte für den Kletterer die interessantere sein.

Im Herbst 1932, nach erfolgreichen Ferien in den Dolomiten, sah ich mich nach Begleitern zu einem Westwandversuch um, leider lange erfolglos. Ein Zufall brachte mich mit meinem Kameraden vom Peutereygrat zusammen, und schon am 8. Oktober fuhren wir zusammen nach Sisikon. Der zweieinhalbstündige Anstieg wurde uns kurz, denn wir freuten uns, dass wir beide vor wenigen Wochen den Wunderturm der Brenta, die Guglia oder, wie sie heute heisst, den Campanile Basso, erklommen hatten, und im Austausch von Erinnerungen verlief die Zeit im Fluge.

Am Sonntagmorgen war es trübe, und heftige Windstösse trafen uns beim Anstieg über die ersten Grashänge. Es ist immer ein Kunststück, östlich vom Schmalstöckli vorbei über die zahllosen Längshöhenzüge den besten Weg zu finden. Einerseits um die grosse Schutthalde zu vermeiden, andererseits um guten Einblick in den Kamin zu bekommen, gingen wir bis auf den Grat Faulen-Kaiserstock und dann horizontal zum Einstieg. Über einige Schrofen kommt man in eine kleine Höhlung und ist dann schon im Kamine selbst. Hier legten wir unsere Kletterschuhe an und hingen die moderne Ausrüstung für den Felsgang um. Obschon uns volle 21 Jahre Altersunterschied trennten, brannten beide von uns, an die kommenden Hindernisse zu gelangen. Um 8 Uhr verschwand Werner Weckert, der junge Meisterkletterer, mit einigen eleganten Bewegungen über der nächsten Steilstufe. Mit etwas gemischten Gefühlen schaute ich C. Veteran ihm nach, war ich doch sonst gewohnt, zu führen. Etwa 15 m Seil gab ich aus, und es hiess nachkommen. Der darauf folgende Überhang wurde nach links an kleinen aber festen Griffchen umgangen. Verhältnismässig leicht gewannen wir so die erste Stufe, welche mit den von unten sichtbaren Graspölsterchen besetzt ist.

Von hier aus hatten wir drei Möglichkeiten ins Auge gefasst: einmal den Kamingrund, eigentlich eine Wand selbst, dann die linke Kante davon und schliesslich als letzten Ausweg die Höhlungen davon rechts. Etwas links oben im Kamingrunde sahen wir eine wahrscheinlich gangbare Fortsetzung unseres Weges, und bald hing Weckert an einigen warzenförmigen Gebilden und erzwang einige Meter. Ein heikler Spreizschritt nach links, dann Platten. Ein Haken mit eingehängtem Karabiner sichert die Querung zurück nach rechts zu einem feinen Plätzchen. Von hier führte eine schöne Rinnen-kletterei zum letzten Absatz. Nunmehr warm geworden, bat ich meinen Freund, mir wenigstens die Schlusswand zu überlassen, und nach einer leichten Drohung mit dem Kletterhammer hatte ich den Weg frei. Die letzten 20 Meter waren, wie alles Vorangegangene, prachtvoll. Bald frei kletternd, dann wieder stemmend, haben wir sie an teilweise luxuriösen Griffen bezwungen. Um 9 Uhr, also eine Stunde nach unserem Einstiege, versteckten wir unsere Ausrüstung und bummelten zum nahen Gipfel hinauf. Schwere Wolken drohten überall, als ob der Winter vor der Türe stände.

Sturm und Regen begleiteten uns beim Abstiege von der Hütte und auf der Heimfahrt. Am idyllischen Zugersee öffneten sich für einen Moment die Schneewolken, und der schlanke Gipfel grüsste, weiss verstäubt, freundlich herunter. Er schien nicht vergrämt, dass wir ihm eines der letzten Geheimnisse seiner Flanken entrissen hatten.

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