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Anthropologisches aus dem Tavetsch

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Mit 2 Bildern ( 10, 11 ).

Von A. Menzi-Merz und F. Heinis ( Basel ).

Wenn wir C. Leute auf unsern Bergtouren die Alpentäler durchstreifen, Grate und Gipfel erklimmen oder Hochpässe überschreiten, so werden wir auf dem Wege zu unserm Ziele — sofern wir noch für die idealen Interessen des S.A.C. Verständnis haben — unser Augenmerk auch den alpinen Siedelungen zuwenden, mit den naturwüchsigen Gebirgsbewohnern in Berührung kommen, die Leute in den Bergdörfern, auf den Wiesen, in den Wäldern und in den Alpen an ihrer Arbeit sehen. Wir werden mit wachen Sinnen in die besondern, von unsern städtischen Verhältnissen so grundverschiedenen Lebensbedingungen der Alpenbewohner Einblick zu gewinnen versuchen, mit dem nötigen Einfühlungsvermögen uns mit der auf den ersten Blick so fremdartigen Gedankenwelt unserer Landsleute im Hochgebirge auseinandersetzen — und wäre es nur bei einer kurzen Rast, im Gespräch mit einem Bergheuer, einem Sennen auf der Alp, einem Hirtenknaben am steilen Grashang.

Auf der andern Seite ist es sehr zu begrüssen, wenn uns S.A.C.Mitglie-dern von der naturwissenschaftlich-geographischen Seite her die Möglichkeit geboten wird, auch anhand der Literatur eine uns vielleicht noch unbekannte Gegend, eine bestimmte Talschaft nach einer besondern Richtung hin näher kennen zu lernen. So ist unlängst ein wertvolles Werk von Dr. Karl Hägler ( S.A.C. Rätia ) in Chur erschienen, das sich in eingehender Weise mit dem Tavetsch, dem alpinen Hochtal Graubündens, und seinen Bewohnern in anthropologischer Hinsicht befasstr ).

Wir besitzen nur sehr wenige derartige Monographien über in sich abgeschlossene, natürlich begrenzte geographische Gebiete unserer Alptäler, da die zeitraubende und schwierige Materialbeschaffung und die Kostspieligkeit der Durchführung die Abfassung solcher Werke erschwert. Und doch ist ein zutreffendes Bild der rassenmässigen Zusammensetzung des Schweizervolkes erst dann zu schaffen möglich, wenn einmal alle lokalen Rassenformen, alle gut charakterisierten Typen durch eingehende Untersuchungen in anthropologischer Hinsicht durchgeführt sind. Solche Arbeiten haben übrigens nicht nur theoretisch-wissenschaftlichen Wert, sondern auch eine sehr grosse praktische Bedeutung für Rassenhygiene, Sozialanthropologie und Familienforschung.

x ) Karl Hägler: Anthropologische Studie über die Bewohner des Tavetsch ( Graubünden ). Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene, H. 1/2 von Bd. 16. Zürich 1941; 233 S., 188 Tab., 1 Karte, 14 Fig., 9 Textbilder und 12 Tafeln. Diese wissenschaftliche Publikation ist die sehr starke Erweiterung der 1932 mit dem vollen Preis der Schläfli-Stiftung der Schweiz. Naturforsch. Gesellschaft ausgezeichneten Arbeit des Verfassers, hervorgegangen aus dem Anthropologischen Institut der Universität Zürich ( Direktor Prof. Dr. O. Schlagmhaufen ).

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ANTHROPOLOGISCHES AUS DEM TAVETSCH.

dass er das harte Los eines Bergbauern nur dann gegen das weniger beschwerliche Dasein eines Unterlandbewohners eintauscht, wenn seine Heimat ihm kein Auskommen mehr bietet. Bei voller Ausnützung des kurzen Bergsommers vermag der Boden wohl ungefähr so viele Menschen zu ernähren, als die Wohnbevölkerung gegenwärtig etwa zählt.

Der Natur des Gebietes entsprechend, spielt die Viehzucht wie in andern hochalpinen Tälern eine grosse Rolle. Dabei wird der Kleinviehzucht mit Recht grosses Interesse geschenkt. Ziegen, Schafe und Schweine sind sehr viel im Freien; selbst im Winter werden die Tiere über den Mittag aus den Ställen gelassen. Dem Tavetscher fliesst Bargeld fast nur aus dem Vieh-verkauf zu. Die Butter- und Käsebereitung steht ganz im Dienste der Selbstversorgung. Auf der als Ackerland benützten kleinen Bodenfläche werden grösstenteils Roggen und Gerste gepflanzt. Zur vollen Reife kommen aber die Ähren auf dem Felde nicht. Daher wird das Getreide nach dem Schneiden an den für die Gegend charakteristischen Kornhisten zum Ausreifen in der warmen Föhnluft aufgehängt. Gut ein Viertel des Ackerlandes wird für den Anbau der Kartoffel verwendet. Das Aushacken der reifen Knollen geschieht kniend mittels einer kurzen Hacke ( ähnlich wie in vielen Walliser Tälern, eine Erscheinung, die auf eine teilweise Einwanderung aus dem Wallis schliessen liesse ). Auch dem Flachs- und Hanfbau wird immer noch grosse Aufmerksamkeit zugewendet.

Dem Anbau von Gemüse wird jedoch — leider — keine grosse Beachtung geschenkt, angeblich aus Zeitmangel. Es ist dies angesichts der grossen Bedeutung der Gemüse als Salz- und Vitaminspender zu bedauern, zumal es auch an Obst fehlt, das in dieser Höhenlage nicht mehr gedeiht.

Mit wenigen Ausnahmen sind die Wohnhäuser aus Holz gebaut. Wird ein Haus von mehr als einer Familie bewohnt, so ist jeweilen der jeder Familie zukommende Teil dieses Hauses auch ihr Eigentum. An Räumen sind stets vorhanden: Wohnstube, Schlafkammern, Küche und Speicher. Charakteristisch für die Wohnstube ist der grosse, aus Lavezstein aufgebaute Tavetscher Ofen mit dem Trockengestell und der gemütlichen Ofenbank.

Wenn auch die Tavetscher Bevölkerung einen gesunden, zähen Menschenschlag darstellt, so vermissen wir doch das gesunde, kräftige Aussehen der Bewohner dieser Bergwelt. Am meisten fällt das dem Fremden auf, wenn er vergebens nach den rotwangigen Kindern sucht. Die niedern Wohn- und Schlafräume ( höchstens 1,80 bis 2 Meter !), die starke Besetzung derselben, die vernachlässigte Lüftung, dies alles kann nur zum kleinern Teil dafür verantwortlich gemacht werden. Im Sommer sind ja auch die Kinder viel an der freien, gesunden Bergluft. Es liegt wohl eher an der Nahrung. Zwar ist die Kost nahrhaft, aber es fehlen fast ganz Gemüse und Obst. Glücklicherweise spielt der Schnaps im Tavetsch nicht die Rolle, die ihm leider in vielen Gebirgsgegenden zukommt.

Was die Kleidung anbelangt, so tragen die Frauen immer noch die selbst angefertigte Tavetscher Tracht. Die jungen Mädchen dagegen befreunden sich leider schon mehr mit der Frauenmode des Unterlandes. Die Männerkleider hingegen werden, soweit es sich nicht um eingeführte Ware ANTHROPOLOGISCHES AUS DEM TAVETSCH.

handelt, aus eigen gepflanztem Flachs und Hanf, also aus selbst gearbeiteten Stoffen, durch Näherinnen hergestellt, da es im ganzen Tal keinen Schneider gibt!

Die Gebissuntersuchung hat im allgemeinen, namentlich beim weiblichen Geschlecht, nicht gerade erfreuliche Tatsachen zutage gefördert. Um so mehr vermochten Zahnreihen zu überraschen, die sogar bei vorgerücktem Alter noch vollständig intakt waren oder nur unbedeutende Schäden aufwiesen. Durch Überwachung der Zähne der Schüler und durch Aufklärung sucht man heute eine Besserung herbeizuführen.

Über die Hälfte der Bewohner des Tavetsch gehört den Geschlechtern Monn, Berther, Cavegn, Venzin, Schmid und Hendry an. Rund ein Viertel aller Tavetscher trägt den Familiennamen Monn oder Berther.

Nach diesen allgemein geographischen Erläuterungen verbreitet sich Dr. Hägler über die besondern anthropologischen Untersuchungen, die sich auf 718 Personen im Alter von 7-88 Jahren erstrecken, nämlich auf 378 männlichen und 340 weiblichen Geschlechts; davon 172 Schüler — 94 Knaben und 78 Mädchen. Vorschulpflichtige Kinder wurden nicht untersucht. Derartige Forschungen sind selbstverständlich nur dank der Mithilfe der kirchlichen und politischen Behörden möglich und erfordern von Seiten des Forschers eine weitgehende, viel Ausdauer und Einfühlung erfordernde Kleinarbeit. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich für die Tavetscher Bevölkerung wie folgt zusammenfassen:

Die 718 untersuchten Personen verteilen sich:

zur I. Altersklasse, der Zeit der Körperhöhenzunahme, vom 7.24. resp. 7.19. Jahre, gehören 150 männliche und 111 weibliche Personen; zur II. Altersklasse, der Zeit der Körperstetigkeit, vom 25.49. resp. 20.44. Jahre: 139 Männer und 151 Frauen; zur III. Altersklasse, der Zeit der Körperabnahme, vom 50.69. resp. 45.64. Jahre: 65 Männer und 62 Frauen; zur IV. Altersklasse, dem Greisenalter, vom 70. resp. 65. Jahre an: 24 Männer und 16 Frauen.

Auffällig ist neben der geringen Körperhöhe an sich das relativ rasche Altern der Tavetscher. Fünfzigjährige Bergbauernfrauen unseres Alpentales sind buchstäblich genommen schon recht ältlich und gar alt schon solche von 55-60 Jahren. Später, und meist langsamer als bei den Frauen, treten die Alterserscheinungen beim Manne auf. Das Altern ist aber nicht die alleinige Ursache der Verminderung der Körperhöhe. Eine mehr oder weniger grosse Rolle spielt auch die Art der Arbeit. Den Bergbauern fällt eine ungleich schwerere Arbeit zu als den Bauern des Unterlandes. So stellt in den Alpentälern z.B. die Heuernte sehr grosse Anforderungen an die Körperkraft nicht bloss der Männer, sondern auch der Frauen. Landwirtschaftliche Maschinen kommen im Tavetsch nicht in Frage. Das Mähen geschieht von Hand mit der Sense, und das Heu muss in grossen, schweren Bündeln von den oft steilen Hängen auf Schultern und Rücken abgetragen werden. Der Einfluss der Arbeit macht sich daher vor allem auf die Wirbelsäule in ANTHROPOLOGISCHES AUS DEM TAVETSCH.

ungünstiger Weise geltend, besonders wenn die Person in die Phase des physiologischen Alterns vorgerückt ist.

Männer und Frauen der II. Altersklasse sind durchschnittlich stark mittelgross ( Männer 167,6 und Frauen 156,2 cm ). Bei den folgenden Altersklassen reduziert sich die Körperhöhe je um 2-3 cm.

Die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung leitet Karl Hägler ab aus zwei äusserst instruktiven Haupttabellen, in denen er sechs Körpermerkmale ( allgemeiner Wuchs, Kopfform, Gesichtsform, Nase, Augen, Haarfarbe ) der II. Altersklasse der 25-49jährigen Tavetscher und der 20-44jäh-rigen Tavetscherinnen zusammenstellt. Dadurch werden nicht nur einzelne Massverhältnisse bewertet, sondern ganze Merkmalkomplexe erfasst, woraus sich hinsichtlich der Abstammung der Tavetscher folgende Ergebnisse ziehen lassen:

Vier Rassentypen sind an der rassenmässigen Zusammensetzung der Tavetscher Bevölkerung beteiligt, nämlich: die dinarische„ die alpine, die mediterrane und die nordische Rasse. Diese vier Typen vermischen sich jedoch in den einzelnen Merkmalen.

Der dinarische Rassentyp, so benannt nach den Dinarischen Alpen, dem Ursprungszentrum dieser Rasse, ist im Tavetsch vorherrschend. Sozusagen jeder 11. oder 12. Tavetscher von 25-49 Jahren vereinigt die sechs Hauptmerkmale dieser Rasse auf sich: hoher, schlanker Wuchs, Kurzköpfig-keit, Langgesichtigkeit mit schmaler Nase, braune Augen, braunes bis schwarzes Haar, mit einer mittlern Körperhöhe von 172,3 cm; lässt man aber Augen- und Haarfarbe ausser Betracht, so wären sogar 40,6 % der Männer und 25,9 % der Frauen Dinarier.

Die alpine Rasse, der sogenannte Disentis- oder rätische Typus, tritt mehr zurück. Kleine Körperhöhe, im Mittel 164 cm, runder Schädel und rundes Gesicht, breite Nase, braune Haare und braune Augen sind äussere Kennzeichen dieses alpinen Menschen.

Die mediterrane Rasse mit kleinem Wuchs, langem Gesicht, braunen Augen und braunem Haar scheint keinen so grossen Anteil am Aufbau der Tavetscher Bevölkerung zu haben wie die zwei vorgenannten Typen.

Dagegen tritt uns die nordische Rasse in vereinzelten Merkmalen oder Merkmalgruppen deutlich entgegen. Die rein nordischen Kennzeichen: blaue Augenfarbe und blondes Haar, finden sich allerdings bloss bei zwei Personen, sind also im Tavetsch eine seltene Erscheinung; dagegen sind blaue Augen sehr oft mit schwarzbraunem Haar kombiniert.

Aus diesen Rassenzugehörigkeiten ergeben sich auch die Charaktereigenschaften dieser Gebirgstalmenschen, diese Kombination von zäher Aus* dauer in der Arbeit und des fröhlichen Geniessens der Feierabendstunden, das Zurückhaltende und wieder die sprudelnde Leidenschaft, das bedächtige Überlegen und das frischfrohe Handeln.

Die Anthropologie ist ein weites, schönes Forschungsgebiet. In seiner Untersuchung über das Tavetsch hat Dr. Karl Hägler auf breiter Basis einen Weg beschritten, den man immer wieder gehen wird.

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