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Auf den Eisfeldern der Diablerets im Sommer 1825

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im Sommer 1825.

Auf der Eisfeldern der Diablerets im Sommer 1825.

Von G. Studer ( Section Bern ).

Es war im Jahr 1825 — zu einer Zeit, wo man noch sehr unvollkommene Gebirgskarten der Schweiz besaß, wo der Alpenreisende Mühe hatte, außerhalb der betretenen Touristenwege für höhere Gipfelbesteigungen und Gletscherübergänge andere kundige Führer zu finden, als etwa Gemsjäger, Strahler und Schafhirten, deren Ortskenntniß sich gewöhnlich auf einen engen Kreis beschränkte; wo bedächtige Väter und sorgliche Mütter den Kopf schüttelten, wenn ein junger, für die Schönheiten der Natur begeisterter Mann sich anschickte, eine Bergreise zu unternehmen, deren Ziel über den Rahmen hinausging, in dem sich die damalige Touristenwelt bewegte — als ich zu einer Vacanzreise nach den Bergen auszog.

Zum Begleiter hatte ich meinen Jugendgefährten und Berufsgenossen, den leider vor einigen Jahren von uns geschiedenen treuen Alpenclubcollegen Ludwig Dietzi, und als Ziel unserer Reise hatten wir das uns fremde Gebiet der Freiburger und Walliser Alpen gewählt.

Ich zählte—zwanzig Jahre, mein Freund fast zwei Jahre mehr. Den Tornister am Rücken, den Bergstock in der Hand, verließen wir in der Frühe eines schönen Julitages Bern und wanderten frohen Muthes, die Landschaft Schwarzenburg durchziehend, nach dem Schwarzen See ( Lac Domène ), an dessen schilfigem Ufer das einfache, weißgemauerte Häuschen der Badwirthschaft stand, welche zu jener Zeit kaum von andern Gästen, als von den Landleuten und Aelplern der Umgegend besucht wurde, während jetzt ein geräumiges Kurhaus fremden und einheimischen Besuchern allen Comfort gewährt.

In diesem traulich - einsamen Gelände fühlt man sich schon im Vorhofe der Alpenwelt, die sich durch die tannenbekränzten, hochhinansteigenden Bergweiden und die sie krönenden, malerisch geformten Felsgipfel charakterisirt, welche das größtentheils vom See eingenommene Thalbecken umschließen. Diese Gipfel bilden jene Reihe gezackter Felsgestalten, welche von Bern und seinen Umgebungen aus am südwestlichen Horizont deutlich sichtbar sind, und deren Bekanntschaft zu machen zunächst in unsrer Absicht lag. Wir drangen daher gleichen Tags noch weiter vor und stiegen durch den sog. Breggenschlund hinan bis zur Alp Grosses Combes, die sich ganz vor der Welt verborgen am unmittelbaren Fuß jener Felsgipfel befindet und wo wir bei dem deutsch sprechenden Sennen gastliche Aufnahme fanden.

Als Curiosum zeigte uns ein junger Hirte in der Nähe des Stafels auf dem karrenartig verwitterten

Kalkfelsboden eine Stelle, die, wenn die Phantasie noch ein gutes Stück Nachhülfe leistete, dem Abdruck eines menschlichen Fußes glich. Hier, meinte unser Begleiter, hat einst ein heiliger Vater von Altenryff auf das Bitten der Hirten das giftige Schlangengezücht, das die Umgegend unsicher machte, beschworen und in die Tiefe des Sees gebannt, wo dasselbe so lange ruhen soll, als jene Fußspur erkennbar sein wird.

Am folgenden Morgen erkletterten wir den Gipfel der nahen Schwalmere »,, die im welschen Patois Vanil de la Montagnetta genannt wird. Es ist dies der Oulminationspunkt der oben erwähnten Gipfelreihe, welche das Massiv krönt, das zwischen dem Thalbecken des Schwarzen Sees und dem Jaunthal ( Vallée de Bellegarde ) aufgerichtet steht, und dessen westliche Auszweigungen bis nach Charmey reichen. Auf der Karte der Freiburger Alpen, welche dem XII. Bande des Jahrbuchs des S.A.C. beigegeben ist, trägt die Schwalmeren den Namen Schopfenspitze, mit der Höhenzahl von 2116 m.

Nach dem Genüsse der reizenden, an malerischen Bergformen reichen und weit hinaus in das ebene Land sich erstreckenden Aussicht stiegen wir am begrasten südlichen Gehänge des Berges in das Jaunthal hinunter. Jenseits ging es, Angesichts kühn aufstrebender Felsgestalten, auf theils sehr pittoreskem Pfade, durch das anmuthige Thälchen des Rio du Mont, der hier in munteren Sprüngen seiner Bergheimat enteilt, wieder aufwärts nach der von hohen Berggipfeln umgebenen grünen Hochfläche sur le Grand Mont und noch höher bis zu den oberen Hütten der Alp Brenleire. Diese liegen an der östlichen Flanke der Dent de Brenleire, deren hochragende, eine großartige Rundschau versprechende Spitze mächtig zu ihrem Besuche reizt. Galt doch damals die Dent de Brenleire allgemein für den höchsten Gipfel der Freiburger Alpen, bis sie nach den neueren Messungen dem Vanil noir um 26 m weichen mußte. Freundlich nahmen uns die Sennen auf, aber der Raum in der Hütte war klein und das Lager hart. Die Nahrung, die sie uns geben konnten, beschränkte sich auf Milch, gebratenen Zieger und schwarzbraunes Gerstenbrod, das, in Form kleiner Kuchen gebacken, seiner Härte wegen mit der Axt in kleine Stücke zerschlagen werden mußte.

Ein wundervoller Morgen brach an und früh begaben wir uns auf den Weg, indem wir nach der Anweisung eines Hirten die schmale Schneide verfolgten, die immer steiler werdend, an manchen Stellen kaum Fuß breit, sich nach dem Gipfel hinaufzieht. Der Anstieg war mühsam und ist Schwindlichten nicht zu empfehlen. Wir aber schauten furchtlos zur Rechten und zur Linken in die sich öffnenden Abgründe, und mein Freund konnte dem Gelüste nicht widerstehen, selbst an bösen Stellen eine seltene Blume zu pflücken, oder einen vorüberflatternden Schmetterling einzufangen.

Glücklich erreichten wir die Spitze, und unvergeßlich bleibt mir der Eindruck, den das überraschend schöne Bild auf mich gemacht hat, das in der reinsten Klarheit und im frischen Glanz der Morgenbeleuchtung um uns aufgerollt war. In glücklicher Harmonie vereinigt dasselbe in sich den lieblichen Blick auf die 4 bewohnten grünen Alpenthäler, die in stillem Frieden zu den Füßen des Schauenden geöffnet sind, und auf die weite, fruchtbare, von zahmen Hügeln durchzogene Ebene, aus deren Schoß zwischen dunkeln Wäldern, grünen Matten und wallenden Kornfeldern blaue Seen, schimmernde Flüsse und hellglänzende Ortschaften dem Auge entgegenblinken — mit der hehren Erscheinung der Alpenwelt, die sich mannigfach gestaltet und viel-gegliedert aufstuft bis zum leuchtenden Kranz der mit ewigem Schnee bedeckten Hochalpen, deren Gipfel vom Titlis und Glärnisch hinweg bis zu des Montblancs Majestät in einer langen Reihe zierlicher Gebilde den Horizont schmücken. Nach den neuesten Messungen hat die Dent de Brenleire eine Höhe von 2360 m über Meer. Durch ihre gegen das offene, nur in weiter Ferne vom Jura begrenzte Land mehr vorgeschobene Lage gewinnt die Aussicht von diesem Gipfel einen Reiz, der sie derjenigen vom Vanil noir weder an Schönheit, noch an Ausdehnung nachstehen läßt.

Wieder am Fuße des Berges auf der Seite der Morteysalpen angekommen, schritten wir über die anmuthige Hochfläche von Mocausa und durch das Thälchen Verdchamp hinunter nach Château-d'Oex. Einer der schönsten Tage, die ich in den Bergen erlebt hatte, lag hinter unsVon Château-d'Oex wanderten wir in das einsame Thal von Etivaz hinein und der Abend sah uns schon wieder auf einer neuen Bergspitze. Wir standen auf dem höchsten Punkte des Grates, der das Etivazthal von dem kleinen, westlich gelegenen Zweigthale scheidet, in dessen hinterstem Grunde die Triften der Alp Tomaley sich ausbreiten. Gegen dieses Thal fallen die Wände jenes Grates steil und felsig ab. Auf dem erreichten Punkte genossen wir eine Rundschau, die allerdings von beschränkterer Ausdehnung war, als die der Dent de Brenleire, die uns aber durch ihre Neuheit und malerischen Partien um so mehr fesselte, als wir dort Zeugen eines herrlichen Schauspiels waren, das sich vor uns abspielte. In ernstem Schweigen sahen wir dem Sinken der Sonne zu. Dämmerung herrschte schon in den tiefen Thalgründen, aber in wunderbarer Pracht glühte der Himmel um und um. Die feierliche Stille war nur durch das Lispeln des Abendwindes unterbrochen. Noch strahlte der oberste Theil der Sonnenscheibe in heller Klarheit über dem scharfen Rande der dunkelblauen Wand des Jura, da wurde es im Süden hinter dem firnbekleideten Kamme der Diablerets heller und heller. Lichtstreifen warfen einen Silberschein auf die im reinsten Weiß prangenden Schneefelder und langsam stieg die blanke Scheibe des Vollmondes empor, um das wolkenlose Firmament zu schmücken. Die seltsamen Contraste, welche durch die verschiedenartige Beleuchtung von Westen und Süden her im ganzen weiten Rund erzeugt wurden, der * Anblick — dort des scheidenden Tagesgestirns, hier des aufsteigenden Mondes; daneben die riesige Bergwelt, die in phantastischen Gestalten uns umgab und aus nächtlicher Tiefe sich erhob, um ihre Zinnen in die Strahlen des neu aufgehenden Lichtes zu tauchen — kurz, die ganze Erscheinung war von so bezaubernder Schönheit, daß wir uns mächtig davon ergriffen fühlten.

In der nächstliegenden Alphütte, die uns ein Nachtquartier bot, vernahmen wir von den beiden Hirten, die dieselbe bewohnten, daß die von uns erstiegene Spitze Tornetta oder auch Mont Arpille genannt werde. Auf Blatt XVII der Dufourkarte wird der erstere Name einer benachbarten Bergspitze gegeben, die aber dem Gebirgskamm entsteigt, der das Ormondthal nordwärts begrenzt, und für die in Frage stehende Spitze erscheint der Name Aux Arpilles mit der Höhenangabe von 2149 m.

Der frühe Morgen sah uns wieder auf dem Marsche. Es sollte nach den obern Ormonds gehen. Den sonnigen Hängen unserer Tornetta entlang schreitend kamen wir zum Col des Arpilles. Dieser Col ist eine Einsattelung des oben erwähnten hohen Gebirgskammes. Auf der Ostseite des Cols erhebt sich in architektonisch schön aufgerichtetem Bau das zu einer thurmartigen Spitze auslaufende, vielfach verwitterte Felsgebilde der Tête de Moine — auf der Westseite schwingt sich der Kamm merklich höher zu einem Doppelgipfel auf, der den Namen les Arpilles oder la Pare de Marnex trägt und dessen höhere westliche Spitze in neuerer Zeit die Bezeichnung Pic Romand erhalten hat. Es charakterisirt sich dieser Gebirgszug dadurch, daß seine nördlichen Abstürze steil und felsig gegen die " ihren Fuß umsäumenden Alpweiden abfallen, während das südliche Gehänge in etwas sanfterer Abdachung gegen das Ormondthal sich abstuft und bis auf die Kammhöhen begrast erscheint. Mein Reisegefährte und ich waren im Klettern an Felsen und jähen Grashängen geübt; eine schöne Zahl von Berggipfeln hatte sich schon vor uns beugen müssen, der Schwindel war uns fremd, aber noch nie hatten wir die Grenze des ewigen Schnees überschritten, noch nie einen Hochgipfel über 8000 Fuß besucht. Dieses Mal galt es, die Schwingen höher zu lüften. Einen Schneeberg^ wollten wir erklimmen; droben auf den strahlenden Firnen uns ergehen und von hoher Zinne die Welt überschauen! Als Zielpunkt winkte so einladend der blendend weiße Gipfel der Diablerets. Hatte uns doch derselbe schon auf der Spitze der Brenleire und noch riesenhafter und prächtiger auf der Tornetta entgegengeleuchtet. Und jetzt, nach Ueberschreitung des Col des Arpilles, stand der schöne Berg, der allerdings sein bezauberndes Antlitz dem Norden zukehrt, vom Glanz der Sonne verklärt, in seiner vollen Größe und Glorie uns unmittelbar gegenüber. Nicht nur sahen wir den schön gewölbten, lang gestreckten, strahlend weißen Kamm in das Blau des wolkenlosen Himmels hinaufragen, sondern es hatten sich nun auch die den Kamm umziehenden Hochfirne und Gletscher vor unsern Augen enthüllt, die bis weit hinunter den kahlen Leib des Berges bekleiden; ja, wir überblickten das ganze mächtige Fußgestell, auf welchem der Oberbau ruht. In mehr als tausend Fuß hohen Felswänden erhebt sich dasselbe aus dem hintersten Grunde der lieblichen Thalfläche der Plaine des Isles, die mit Häusern besäet und von der jungen Grande Eau durchschlängelt zu unsern Füßen lag. Der grüne Boden der Plaine des Isles bildet den obersten Theil des Ormondthales, und jene Felsenwände, welche dasselbe abschließen und über die die Gletscherbäche blitzenden Silberfäden gleich herunterschäumen, gestalten sich zu einem riesigen Circus, der den Namen Creux de Champ trägt. Dieser Circus wird zu beiden Seiten von gewaltigen Felsenpfeilern flankirt, an deren Fuß sich noch waldgeschmückte Alpberge anlehnen. Der östliche Pfeiler culminirt in der Pointe de Sex rouge. Hinter derselben ist noch die Spitze des Oldenhorns sichtbar, welches hier Becca d' Audon genannt wird. Der westliche steigt unter dem Namen Rochers de Culand* ) empor und verbindet sich zuletzt mit dem Kamm, welcher vom höchsten Gipfel der Diablerets stufenweise in westlicher Richtung abfallt.

Dieses herrliche Bild war so recht geeignet, unsre Sehnsucht nach einem Gang über Eis und Schnee zu steigern und den Entschluß dazu zur Reife zu bringen. Freilich, fragten wir uns, ist es auch möglich, jene Riesenmauern zu erklimmen, die jeden Zugang zum Gipfel des Berges zu verwehren scheinen? Eine beruhigende Antwort schöpften wir aus der schon oft gemachten Erfahrung, daß solche dem Auge als unersteigbar vorkommende Felsenwände gar oft geheime Runsen, Gänge und Gesimse bergen, die, wenn man ihnen nahe kommt, über ihre Zugänglichkeit keinen Zweifel mehr lassen.

Getrosten Muthes schritten wir daher auf gutem Alpwege niederwärts. Da begegneten wir einigen Männern, die über den Berg wollten. Als sie vernahmen, daß wir Berner seien, bewillkommten sie uns recht treuherzig. Damals hatte Bern noch einen guten Klang unter der altern waadtländischen Bergbevölkerung. Man hörte Stimmen, die sich gerne des Wohlseins erinnerten, das man unter Berns Schutz genossen hatte, und die sich lobend über das damalige Regiment aussprachen. Unter jenen Männern befand sich ein alter Gemsjäger Namens David Galla. Derselbe belehrte uns über die Namen der umliegenden Gebirge und als er hörte, daß wir uns die Besteigung der Diablerets vorgenommen hatten, gab er uns guten Muth und wies auf die wenigen gangbaren Stellen hin, über die sich die Hochgewildjäger in das höher gelegene Jagdrevier hinaufwagen. Da er selbst verhindert war, uns zu begleiten, so nannnte er uns als gebirgskundige Männer, an die wir uns mit Vertrauen wenden könnten, den Syndic Jean Pierre Enserme bei der ersten Mühle auf der Plaine des Isles, David Gotran, Besitzer der zweiten Mühle, und François Ruchet, forestier auf dem Culandberge. Unser Vorhaben fing an Leib zu bekommen. Erfreut über die erhaltenen Aufschlüsse nahmen wir dankend Abschied von den freundlichen Leuten, und weiter ging es über zahme Voralpen vollends in 's Thal hinunter.

So kamen wir nach Vers l' Eglise, dem kleinen, am linken Ufer der Grande Eau gelegenen Kirchdorfe der Gemeinde Ormonts-dessus. Hier befand sich eine sehr bescheidene, damals von Fremden höchst selten besuchte Wirthschaft, in die wir eintraten. Es brauchte lange Zeit, bis unser sehr einfaches Mittagsmahl bereitet war, und sobald wir dasselbe genossen hatten, wanderten wir dem wasserreichen Thalbache entlang sanft ansteigend der Plaine des Isles zu, die wir nach einem halbstündigem Marsch erreichten. Nun durchschritten wir die schöne grüne Ebene, und da man uns gesagt, daß der Syndic Enserme nicht zu treffen sei, suchten wir die Wohnung des Müllers Gotran auf. Dieser war nicht zu Hause. Es hieß, er sei auf dem Felde mit der Heuernte beschäftigt. Seine gleichzeitig-ankommende Frau ließ ihm unsre Ankunft melden und es dauerte nicht lange, so trat er bei uns ein,, und wir konnten ihm unsre Wünsche persönlich vorbringen. Es gab mancherlei Bedenken zu erörtern,, bevor er endlich einwilligte, uns als Führer zu begleiten. Weder er noch die andern Ormonder Jäger hatten je den Gipfel der Diablerets bestiegen. Höher als die Jagd auf Hochgewild es nöthig machte, waren sie nicht vorgedrungen, und ich werde mich kaum irren, wenn ich ann'ehme, das höchste Ziel, das sie erreicht, seien die Rochers de Culand und vielleicht die Becca d' Audon gewesen. Gotran befand sich schon in vorgerücktem Alter. Er mochte ein Sechziger sein und gestand uns, daß er seit zwanzig Jahren nicht mehr auf die Gemsjagd gezogen sei. Die alte Jagdlust, die in ihm erwachte, war es, welche alle Bedenken überwand und ihn endlich zu seiner Zusage bewog.

Gern wären wir noch heute bis zu einer Alphütte vorgedrungen, um den frühen Morgen zum Anstieg zu benutzen; doch Gotran mußte noch sein Tagewerk vollenden und bat uns, die Kühle der Nacht in seiner Wohnung abzuwarten.

Im Schöße des reizenden Berggeländes, Angesicht » des großartigen Alpenbildes, das nun dicht vor uns in seinen gewaltigen Umrissen die grüne Thalebene im Süden abschloß, eingewiegt in eine hoffnungsfrohe Stimmung durch das heimelige Rauschen des jungen Thalbaches, der, kaum den Gletschern entronnen, so wasserreich ist, daß er Mühlen und Sägen treibtverging uns die Zeit, wir wußten nicht wie.Vor dem Hause an schattiger Stelle gelagert versuchte ich, das schöne Massiv der Diablerets zu skizziren. Wir befanden uns aber demselben schon zu nahe, als daß es sich in seiner vollendeten Formenschönheit vor uns entfaltet hätte. Die untern Theile erscheinen überwältigend groß, während die sie krönenden, aber etwas zurückstehenden oberen und höchsten Theile ihre Eleganz und ihren kühnen Aufschwung theilweise eingebüßt haben. Immerhin hat man ein Bild vor sich, das man mit Entzücken betrachtet und das einen unvergeßlichen Zauber ausübt.

Nur zu rasch rückte der Abend heran. Der letzte goldene Strahl der sinkenden Sonne verklärte die Wände des Creux de Champs und ein röthlicher Schimmer überflog die Gletscher und Firne des Berges. Klar und wolkenlos war der Himmel Nur das Erscheinen einzelner röthlicher Dunststreifen, die den westlichen Horizont trübten, erweckte bei uns einige Besorgniß.

Die Leute kehrten von ihren Feldarbeiten zurück. Auch Gotran kam mit seiner Familie nach Hause. Das Abendessen wurde bereitet. Wir wurden gastfreundlich zur Theilnahme eingeladen. Milch, Kaffee, Butter, Käse, frischgebackenes Brod, vortrefflicher Honig von einheimischen Bienen besetzten in reicher Fülle die Tafel und heitere Gespräche würzten das Mahl.

D*ie Nacht brach heran. Mancherlei hatten die Weiber noch zurecht zu legen für den folgenden Tag, der ein Sonntag war, und zwar der 1. August. Auch sie wollten in aller Frühe abreisen, denn auf der Alphöhe von Chaletvieux sollte morgen ein Hirtenfest mit Spiel und Tanz stattfinden. Da war Proviant mitzunehmen und mußten die Festkleider herbeigeschafft und in Ordnung gebracht werden. Die Frau Müllerin und die übrigen Hausgenossen versuchten ihre Eede-künste, um auch uns zu verlocken, mit ihnen nach Chaletvieux zu kommen — doch vergebens! So wohl gemeint die Einladung war und so sehr sie uns drängten, die gefährliche Wanderung aufzugeben, wir hielten fest an unserm Plan, wünschten ihnen aber von Herzen viele Freude.

Endlich hatte sich, außer uns dreien, Alles zur Kühe begeben. Gotran beschäftigte sich mit seinem lange nicht gebrauchten Jagdstutzer, den er sich von der Wand heruntergeholt, um ihn vom Staube zu reinigen und in gehörigen Stand zu setzen. Pulver und Blei wurde herbeigeschafft, das Gewehr schuß-fertig gemacht und Um das Schloß herum, nach Jägerart, mit einem Schnupftuche verbunden. Beim matten Schein der Lampe sahen wir diesen Manipulationen zu und harrten geduldig der Stunde, die Gotran zum Aufbruch für die geeignete hielt. Er belehrte uns nämlich, daß es unnütz wäre, vor der Morgendämmerung zu den Felsen zu kommen, da deren Erklimmung nur bei Tage zulässig sei.

Um Mitternacht brachen wir auf und verließen -das gastliche Haus, in dem wir so trauliche Stunden verlebt hatten.

Nach den Angaben unseres Führers gab es nur zwei Wege, um von der Ormonder Seite aus die Diablerets zu ersteigen. Der eine, weitere aber sicherere, zieht sich, wie er uns bemerkte, durch die östlich von der Plaine des Isles liegende Schlucht des Dard hinauf bis zum Gletscher, der sich zwischen der Becca d' Audon und den Diablerets ausbreitet ( Glacier de Zanfleuronder andere führt, kürzer aber schwieriger, über die Felsen von Culand empor. In jugendlichem Eifer entschieden wir uns natürlich für den letztern Weg. Uebt doch gerade die Aussicht auf etwas Außergewöhnliches auf den Muthigen den größten Reiz aus.

Ueber feuchte Wiesen schritten wir auf schmalen Fußpfaden, bei zerstreuten Wohnhäusern vorüber, noch eine kurze Strecke auf ebenem Boden fort gegen des Thales Hintergrund und bogen sodann rechts ab, um den Anstieg nach dem Culandberge ( Montagne de Culand ) zu beginnen.

Gotran schritt voran. Seine Waidtasche enthielt den nöthigsten Bedarf an Lebensmitteln; das gewichtige Stutzerrohr hing an seiner Schulter, den Hut hatte er tief in die Stirne gedrückt. Er war nicht groß gewachsen, aber seine gedrungene Gestalt verrieth einen kräftigen Gliederbau und sein rüstiger Schritt bekundete den noch ungebeugten berggewohnten Hochländer.

Es war eine schöne, stille Nacht. Die Sterne glänzten. Der Mond leuchtete in seiner milden Klarheit. Kein Laut ließ sich hören, als das ferne Kauschen der Fallbäche und das wohlklingende Glockengeläute der weidenden Heerden. Riesengroß thürmten sich die dunkeln Felsengebilde vor uns auf und freundliche Lichtstrahlen fielen auf die Felder von Eis und Schnee, Ndie da droben die Flanken des Berges und dessen Zinnen bedecken. Schweigend, aber in gehobener freudiger Stimmung folgten wir unserm Führer.

„ Doch mit des Geschickes Mächten Ist kein ew'ger Bund zu flechten, Und das Unglück schreitet schnell. "

Plötzlich wurden wie von Geistern hergetriebene Nebelmassen sichtbar, die in seltsamen Gestalten sich-schleichend über jene Hochfirne lagerten, zu denen wir soeben noch begeistert und ihre Klarheit bewundernd hinaufgeblickt hatten. Ein unheimlicher Wind erhob sich. Jene Nebelgebilde wuchsen zu mächtiger Größe an. Ein unruhiges Wogen und Wallen entstand in ihnen. Mitunter riß die Masse und die Nebel zertheilten sich bis fast zum Verschwinden, um sofort sich auf 's Neue zu sammeln und mit Heeresmacht wieder zurückzukehren und ihr Spiel von Neuem und stets drohender zu treiben. Das Mondlicht verdunkelte sich und stärker erhob sich das Rauschen des Windes. Unstät wie das Spiel der Nebel wogten unsre Gedanken zwischen Hoffen und Bangen.

Unterdessen sind wir, bald durch finstern Wald schleichend, bald schlüpfrige Grashalden bezwingend, bei der Wohnung des Försters François Ruchet angekommen. Gotran hätte gern diesen Mann noch mitgenommen. Mit lauter Stimme rief er seinen Namen zum Fensterchen hinein. Bald ertönte Antwort von Innen, aber sobald Ruchet Gotran's Anliegen vernommen, lehnte er seine Begleitung entschieden ab, unter dem Vorgeben, er habe heute Geschäfte zu besorgen. Wohl mochte er eine Vorahnung dessen haben, was uns bevorstand.

So setzten wir unsern Marsch fort und erreichten bald die begraste Höhe des Culandberges. Hier befanden wir uns an der Grenze des Baumwuchses. Vereinzelte Tannen, die letzten, standen noch um uns her und schüttelten gespensterartig ihre Zweige. Wir vermochten sie kaum zu erkennen, denn es war fast vollständige Dunkelheit eingetreten. Es mochte zwei Uhr sein. Ein kühler Regenschauer machte unsre Lage noch ungemttth-licher und wir erklärten uns schnell einverstanden, als Gotran vorschlug, in einer der nahe liegenden, zur Zeit verlassenen Alphütten den Tag abzuwarten.

Es gelang, eine Thüre zu öffnen. Bald prasselte ein lustiges Feuer auf dem Herde, dessen wohlthuende Wärme uns erquickte. Halb wachend, halb träumend saßen wir um den Herd und suchten die trüben Gedanken zu verscheuchen. So verging die Zeit, bis die scharfen Morgenwinde uns aufmerksam machten, daß wir an unsern Aufbruch zu denken haben. Aber draußen sah es bedenklich aus. Hohe Wolkenberge hatten sich rings am Horizonte aufgeballt. Ihr dunkles Roth deutete auf die Ankunft der Sonne — doch, sie kam nicht. Von Westen her blies der Wind. Alle Zeichen ließen auf ungünstige Witterung schließen. Nur über unsern Häuptern erschien der Himmel klar und, meine schwache Hoffnung auf dieses Stück blauen Himmels setzend, stimmte ich bei der Berathung, was zu thun sei, entschieden zum Vorrücken. Es war eine Thorheit, die Reise fortzusetzen, und mein lieber Reisegefährte ließ sich schwer dazu bereden. Ich aber fühlte einen heißen Drang, einmal das Hochgebirge in seiner ganzen Wildheit kennen zu lernen, und als endlich der Vormarsch beschlossen wurde, da ward es mir leichter um 's Herz und ein stiller Jubel erfaßte dasselbe.

Um vier Uhr setzten wir uns in Bewegung. " Etwas niedersteigend kamen wir an den Rand eines zu unserer Rechten sich öffnenden Thalkessels, der mit Trttmmer-gestein bedeckt war und an dessen wenigen bloßgelegten, begrasten Stellen einige Schafe weideten. Auch zur Linken zeigte sich ein tiefer Abfall und die schmale,, aber leicht zu begehende Gratstrecke zwischen diesen beiden Vertiefungen verbindet den niedern Vorwall des Culandberges mit jenen gefürchteten Felswänden, die wir zu erklimmen hatten und die den Namen Rochers de Culand tragen. Diese standen jetzt in unmittelbarer Nähe vor uns. Als ein riesiges Bollwerk starrten sie uns düster und drohend an, ihr Haupt im Nebel verborgen. Aber je näher wir an sie gelangten, je schärfer unsere spähenden Blicke an ihnen hafteten, je mehr konnten wir uns überzeugen, daß wir hier keine unzugängliche compacte Masse vor uns hatten, daß vielmehr dieses Felsenbollwerk von Klüften und Spalten vielfach durchfurcht sei, durch welche Schnee und Regen ihren Abfluß finden, und daß auch die augenscheinliche große Verwitterung des Gesteins das Begehen dieser anscheinend unnahbaren Felsen erleichtern müsse.

Am untern Rande der Felsen angekommen, versuchten wir den Angriff durch eine jener Verklüftungen. Es ging sehr steil empor. Die Hänge dieser Kluft waren zum Theil mit lockerem Steingeröll bedeckt, bis hoch hinauf aber mit langem Gras bewachsen. Das Gras war durch Regen und Nebel naß geworden und daher außerordentlich schlüpfrig. Wir schnallten deshalb unsere Steigeisen an und so konnten wir sicheren Schrittes unserem Führer folgen. Von einem Wege ließ sich keine Spur sehen. Es war unheimlich, in dieser einsamen, von finsteren Nebeln umhängten Felsenwildniß, in der man nur das Rauschen von Bächen und den Schall herunterstürzender Steine vernahm, an jähen glatten Grashängen und nassem Gestein herumzuklettern und einem Ungewissen Ziele zuzusteuern.

Nach zweistündiger harter Arbeit standen wir vor der Borne de Culand. So heißt eine Stelle, wo ein kahler Felsen etwa 12-15 Fuß hoch in lothrechter Wand sich erhebt und ein weiteres Vorrücken abzusperren scheint, zumal zu beiden Seiten desselben hohe Flühe in großer Schroffheit sich aufthürmen. Und doch soll diese Stelle der einzige Durchgang nach den höheren Regionen sein. Ohne Leiter könnte man allerdings den Felsen nicht besteigen, wenn nicht eine denselben vertical durchziehende offene Spalte dessen Erklimmung ermöglichte, indem sie für Hände und Füße kleine Anhaltspunkte gewährt, durch deren geschickte Benutzung man sich so weit hinaufschieben kann, daß man das oberste Gesimse zu ergreifen und mit einem kräftigen Ruck sich auf dasselbe emporzuschwingen vermag.

Gotran eroberte zuerst den Felsen und zeigte uns, wie man sich durch das Kamin hinaufarbeiten müsse. Er hatte diese Passage vor Jahren oft gemacht. Als er oben war, langten wir ihm Stutzer und Waidsack sowie unsre Tornister mit den Stöcken, und krochen, seinem Beispiele folgend, einer nach dem andern ebenfalls glücklich hinauf. Ich ahnte nicht, daß ich 25 Jahre später diese Stelle noch einmal passiren werde.

Nach Gotran's Meinung hatten wir jetzt den schwierigsten Theil der Besteigung hinter uns. Wirklich erweiterte sich der Blick auf die Umgebung. Waren wir bis dahin vom Fuße der Felswand hinweg die ganze Zeit über in einer schmalen steilen Kluft eingeengt geblieben, die uns keinen Ausblick gestattete, so trat jetzt vor uns eine öde Felsenwüste mit Schneefeldern und Gletschern in Sicht, und weniger steil bogen sich die Felsen aufwärts, die wir noch zu überschreiten hatten. Rascher konnten wir vorrücken und es that Noth, denn noch lag das Ziel fern von uns.

Wir mochten uns in einer Höhe von circa 2400 m befinden. Bis zur Kammhöhe der oberen Rochers de Culand blieben noch etwa 500 m zu bewältigen und dann mußte erst noch die Gipfelmasse des Berges erklommen werden.

Während wir weiter marschirten, hemmte Gotran plötzlich seinen Schritt und bedeutete uns, stille zu sein. Er hatte eine Gemse erspäht, löste sorgfältig den Verband von seinem Stutzer und legte sich in schußgerechte Position. Auch wir duckten uns nieder auf das Gestein und unsre Augen folgten seiner Hand- " Weisung. Da gewahrten wir in der That etwa hundert « Schritte von uns entfernt im Trümmergestein die dunkle Figur eines Thieres, das sich ganz regungslos verhielt. Ich nahm mein Fernrohr zur Hand und schaute hin, und siehe! es entpuppte sich die vermeintliche Gemse als das allerdings einer solchen täuschend ähnliche Schattenbild eines seltsam geformten Felsblockes. Gotran mußte selbst Verdacht gewittert haben, denn sein Schuß war noch nicht erfolgt, als ich ihm meine Entdeckung mfytheilte. Die alten Augen hatten dem alten Jäger einen Streich gespielt. Etwas verlegen band er sein Schnupftuch wieder um das Schloß seines Stutzers, hieng diesen über die Achsel und der Marsch wurde fortgesetzt. Jähe Trümmerhalden quer überschreitend, wo das Gestein unter den Füßen wankte und zersplitternd herunterfiel; steile Schneehänge kreuzend, unter deren erweichter Oberfläche das harte Eis spürbar hervortrat, und wieder an Felsen emporsteigend gewannen wir die Grathöhe der vorderen Rochers de Culand. Ich erachte, daß es der Punkt 2471 der Excursionskarte gewesen sei, den wir erreicht hatten. Vor uns dehnte sich jetzt etwas seitwärts zur Linken eine schief ansteigende, vielleicht eine halbe Stunde breite, zwischen den Felsklippen mit Schneefeldern und Gletschern bedeckte, unebene Hochfläche aus, welche gegen die Felswände, die das Creux de Champ bilden, in ziemlich steiler Abdachung abfiel, südwärts aber sich bis zu der Kammhöhe hinaufzog, von der aus sich der Blick nach dem Wallis öffnet. Diese Kammhöhe, welcher Gotran den Namen „ die oberen Rochers de Culand " beilegte, lehnt sich östlich an den höchsten Gipfelkamm der Diablerets und schwingt sich zu einigen prägnanteren Anschwellungen auf, von denen die höhere, hart am Gipfelmassiv der Diablerets emporragende, auf der Excursionskarte den Namen Tête ronde oder la Houille und die Höhenzahl 3043 trägt.

In schwindelnder Tiefe lag zu unsern Füßen die Schlucht des Creux de Champs und uns gegenüber hatten sich jetzt die mächtigen Firnfelder erschlossen, die zwischen der Pointe de Sex rouge, dem Oldenhorn und dem Kamm der Diablerets lagern und denen der Zanfleurongletscher entwächst, der sich bis zur Höhe des Sanetschpasses ausdehnt.

Aber gerade als wir uns anschickten, jenes Hochplateau zu überschreiten, das uns noch den Anblick der Walliser Berge entzog — da wälzte sich eine riesige Nebelmasse in langsamer Strömung über den Kamm der Diablerets gegen uns heran und hüllte die ganze Umgebung in Finsterniß ein. Gleichzeitig erhob sich ein wilder Sturm und überfiel uns mit Regen und dichtem Schneegestöber. Was war da zu machen? Die Umstände geboten uns, von unserem Vorhaben abzustehen. Immerhin hätten wir noch eine verticale Höhe von mehr als 700 m zu bezwingen gehabt und zwar auf Pfaden, die keiner von uns kannte. Bei so drohenden Aussichten wäre es Thorheit und Tollkühnheit gewesen, uns an das Werk zu wagen. Der Entschluß zur Rückkehr, den wir nahmen, fiel uns freilich schwer, aber er rechtfertigte sich vollkommen.

Zunächst führte uns Gotran zu einer Stelle, wo überhängende Felsen uns einigen Schutz gegen die entfesselten Elemente boten. Dort sahen wir in einer Felsvertiefung einige Stücke verkohltes Holz, und Gotran bemerkte uns, daß hier die Hochgewildjäger gewöhnlich ihr Nachtquartier beziehen. Er zeigte uns auch das stark riechende „ Genipi " ( Edelraute ,'Arte-misia Mutellina ), das in dieser Höhe an den Flühen zu finden ist und von den Bergleuten eingesammelt wird.

Sobald Sturmwind, Regen und Schnee etwas nachließen, begann der Abstieg. An einer günstigen Stelle lagerten wir uns auf einigen Felsplatten und packten den Proviant aus. Hatten wir es doch übel nöthig, uns zu stärken und frische Kraft zu sammeln. Während die paar Bissen Käse und Brod, gewürzt mit einem Schluck Kirschwasser, ziemlich rasch im Munde verschwanden, begrüßte uns ein freundlicher, aber nur zu verdächtiger Sonnenblick, und ein günstiger Wind befreite einzelne Partien des weiten Umkreises von der sie verhüllenden Nebeldecke. Wie wenn der Vorhang, der ein seltenes Gemälde birgt, plötzlich von unsichtbarer Hand entzwei gerissen würde, so daß die verborgene Herrlichkeit sich auf einmal dem entzückten Auge offenbart, eben so schnell hatten sich die Nebel gelüftet und ließen uns ein großartiges, formen- und farbenreiches Landschaftsbild von fast überirdischem Aussehen schauen, da wo ein Augenblick zuvor noch graue Finsterniß herrschte. Im Westen, tief hinter den benachbarten Anhöhen der Montagne de la Croix und der Pointe de Chamossaire, links von den sonnbeleuchteten Gipfeln der Kette der Dents d' Oche und der Cornettes de Bise dominirt, rechts durch die scharfen Profile der Tours d' Ay und de Mayan abgeschnitten, in der Ferne vom Jura begrenzt, lachte uns wie ein Stück Paradies der blaue Genfersee mit seinen dorf belebten und rebenbekränzten Ufern entgegen. Weiter rechts konnte der Blick über die Kämme und Gipfel der alpenreichen Gebirgskette schweifen, die sich von den Rochers de Naye bis hinaus zum vielbesungenen Moléson ausdehnt. In näherem Gliede erhob sich der Gebirgskamm, der die Ormonds im Norden begrenzt. Ja, über diesen hinaus schauend, sahen wir die Spiegelfläche des Neuenburgersees den Fuß des Jura schmücken. Am nördlichen Horizont streckte der mächtige Kamm der Greyerzer Alpeu vom Mont Gray bis zur Dent de Brenleire seine wild und schroff abstürzenden Gipfel empor. In derselben Richtung, aber näher, erkannten wir unsre Tornetta, den Col des Arpilles, von der Pare de Marnex und der Tête de Moine flankirt, und an deren östlichem Fuß die grünen Alphöhen von Sazièma und Isenod. Dahinter thürmte sich die gewaltige Gummfluh auf. Vom Rothenkasten bis zum Stockhorn konnte man jeden Gipfel dieser langen Kette zählen und bis weit in 's Simmenthal hinein hatte sich der Schleier über dem Chaos von Alpengipfeln weggehoben. Aber dorthin leuchtete kein Sonnenstrahl. Ein finsterer Ernst ruhte auf den gefurchten Häuptern und in unheimlichem Schweigen starrten sie uns an. Tief zu unseren Füßen dagegen lag der grüne Teppich der Plaine des Isles. Wir schickten der gastlichen Mühle am Ufer der Grande Eau unseren Gruß und ein mitleidiger Bück glitt hinüber nach den Tiïften von Chaletvieux — denn auch dort hatte das Unwetter die Freuden des Festes getrübt.

Die Herrlichkeit war von kurzer Dauer für uns. Der Vorhang rollte sich wieder zu und das wie durch Zauber entstandene Bild verschwand im Dunkel der Nebeldecke, die uns neuerdings einhüllte.

Wir verließen unsere Lagerstätte, die uns doch noch einen hohen Genuß geboten hatte, und eilten der Tiefe zu. Aber mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Wenig hätte gefehlt, wir wären auf dem Rückmarsche noch von einem schweren Unglück betroffen worden.

Es sollte eine steile Schneehalde traversirt werden. Dieselbe zog sich von der Stelle aus, wo wir sie berührten, noch ein paar Hundert Fuß weit hinab gegen den oberen Rand jenes Felsencircus, der in fast lothrechten Wänden das Creux de Champ umschließt. Zwischen dem unteren Ende der Schneehalde und dem Absturz schien eine nur ganz schmale Strecke ebenen Terrains zu liegen, das mit größeren und kleineren Felsblöcken bedeckt war.

Festen Schrittes ging Gotran voran und stampfte mit dem Fuß Tritte in das glatte, durch den Regen noch schlüpfriger gewordene Halbeis. Der Uebergang war kurz und es schien uns nicht der Mühe werth, unsre Steigeisen wieder anzuschnallen, deren wir uns beim Betreten der Felsen entledigt hatten. Als nun mein Gefährte nur zu rasch unserem Führer nachfolgen wollte, glitt er beim ersten Schritte aus und rutschte schneller und immer schneller die jähe Halde hinunter, ohne die Fahrt hemmen zu können. „ Mon Dieu, il est perdudas war der Schreckensruf Grotran's. Helfen konnten wir nicht. Tief erschüttert sahen wir dem Sturze zu. Es war zu befürchten, daß, sobald er das Gestein erreichte, ihm die größte Gefahr drohte, an den Felsen zu zerschmettern oder durch die Gewalt des Anpralls über sie hinweg in den Abgrund geschleudert zu werden. Mit ängstlicher Spannung sah ich diesem Augenblick entgegen. Gott sei Dank! traten unsre Befürchtungen nicht ein. Als er den festen Boden berührte, überschlug es ihn einige Male; dann blieb er plötzlich, mit seinem Tornister zwischen zwei Felsblöcken eingeklemmt liegen und dieser Umstand rettete ihn. Sobald er sich etwas aufrichten konnte, rief er uns zu, er sei unverletzt. Erleichterten Herzens überschritt ich nun ebenfalls mit Vorsicht das Schneefeld und stieg mit Gotran am jenseitigen jähen Trümmergehänge hinab bis zur Stelle, wo der Gerettete sich befand. Einige Quetschungen, die ihm erst später ernstlichere Schmerzen verursachten, waren die einzigen Folgen seiner unfreiwilligen Schneefahrt — der paar Kisse in den Kleidern nicht zu gedenken. Brille, Hut und Bergstock, welche Gegenstände nach allen Seiten hin geflogen waren, wurden wieder eingesammelt, und nach einer Kuhepause, deren mein Gefährte dringend bedurfte, um sich von seinem Schrecken und der gewaltsamen Erschütterung zu erholen, wurde der Abstieg frischen Muthes fortgesetzt.

Bei der Borne de Culand angekommen, warfen wir zuerst unsere Tornister und Bergstöcke über Bord und krochen sodann glücklich durch die Spalte hinunter. Am Fuße der Kochers de Culand ließen wir uns noch für einige Minuten auf das weiche Rasen-bett nieder, bevor wir unsern wackeren Führer verabschiedeten. Gotran bedauerte in warmen Worten unser Mißgeschick und gab uns mit kräftigem Handschlag die Versicherung, daß, wenn wir je in diese Gegend zurückkehren sollten und er noch rüstig genug sich fühlen würde, er mit Freuden uns noch einmal auf die Gletscherhöhen der Diablerets begleiten werde. Er nahm dann seinen Heimweg über die Alpen von Culand, wir aber, in der Absicht, heute noch das sechs Stunden entfernte Bex zu erreichen, schlugen einen Pfad ein, der uns durch steinichte, von Gebirgsbächen tief durchwühlte Gräben nach der Alp Arpille brachte. Den Col d' Arpille, auch das hohe Kreuz genannt ( nicht zu verwechseln mit dem benachbarten Col de la Croix ), bei dem auf der Excursionskarte mit 1980 bezeichneten Punkte überschreitend, gelangten wir in den hintersten Grund des Thales der Grionne und von da, über feuchte Grashänge sofort wieder emporsteigend, kamen wir zu dem ansehnlichen Bergdorfe der Alp Taveyannaz, das aus einer Gruppe von mehr als 50 Hütten besteht. Dasselbe liegt anmuthig auf einer von grünen Berghöhen umschlossenen, weiten reich begrasten Fläche. Ein lautes fröhliches Leben tönte uns entgegen, als wir dem Dorfe uns näherten. Auch Taveyannaz war heute die Stätte eines vielbesuchten Hirtenfestes, an welchem Alt und Jung theilnahm. Rauschende Musik vermischte sich mit Gesang und laut gellenden Jauchzern. Junge Aelpler sprangen mit ihren rothwangigen Mädchen auf der zum Tanzboden geschaffenen Wiese herum. Andere versuchten ihre Kräfte beim Kegelspiel, im Ringen oder im Wettlauf über die blumigen Triften.

Zeit und drohender Himmel erlaubten uns nicht,, dem Treiben des lustigen Völkleins lange zuzusehen. Während des ganzen Abstieges war zwar das Wetter leidlich gewesen. Ja, auf dem Col d' Arpille hatte es sogar Miene gemacht, sich aufzuhellen. Ein schwacher Sonnenschein beleuchtete das schöne Alpengelände. Aber um so schwerer und finsterer zogen sich jetzt die Wolken wieder zusammen und sanken immer tiefer herab, so daß wir die Strecke von Taveyannaz bis Bex in ununterbrochenem strömendem Regen zurücklegen mußten. Vollständig durchnäßt, müde und hungrig-trafen wir Abends sechs Uhr nach einem vierzehnstündigen Marsch in Bex ein.

Viele Jahre verflossen, bevor ich meinen Fuß wieder auf den Boden der Plaine des Isles setzte. Es geschah dies erst im Jahr 1850. Damals wurde mir die Befriedigung zu Theil, in Gesellschaft meines Freundes,, Herrn Professor Ulrich von Zürich, und begleitet von unserm Leibführer Madutz und dem jungen Gemsjäger Jean David Enserme, die Besteigung des höchsten Gipfels der Diablerets auf dem nämlichen Wege, den wir im Jahr 1825 eingeschlagen hatten, glücklich auszuführen. Eine Schilderung dieser Bergfahrt ist in dem Werke „ Berg- und Gletscherfahrten in den Hochalpen der Schweiz ", II. Sammlung, pag. 176, niedergelegt. Damals war der Vater Gotran gestorben, dessen Sohn aber bekleidete das Amt eines Syndics der Gemeinde.

Ich halte dafür, es sei diese Besteigung die erste gewesen, welche auf dem von uns gewählten Wege vollbracht worden ist. Nicht nur hat man von keiner solchen früher ausgeführten Kunde erhalten, sondern selbst unser tüchtige Führer Enserme wähnte, wir seien am Ziele unsrer Reise angelangt, als wir die Kammhöhe der oberen Rochers de Culand erstiegen hatten und daselbst die Pracht der Walliser Alpen bewunderten. Konnte er doch nur durch ernstliche Vorstellungen dazu bewogen werden, den nie begangenen Weg nach der höchsten Spitze der Diablerets mit uns fortzusetzen.

Seitdem ist man allerdings in der Kunst des Bergsteigens bedeutend fortgeschritten und dem muthigen Bergsteiger ist der Besuch der Diablerets von allen Seiten zugänglich geworden — braucht er doch nur aus der Zahl der von Herrn Professor Renevier in seinem Itinerarium für die Erforschung der Waadtländer Hochalpen angegebenen Wege denjenigen auszuwählen, der ihm beliebt, und in der gleichen Schrift findet er auch die Namen zuverlässiger Führer.

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