Aus den Wäggitaler Bergen | Club Alpino Svizzero CAS
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Aus den Wäggitaler Bergen

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Von Jacob Hess.

Mit Kletterschuh und Regenschirm.

Gleich einer Räuberherberge lockte die Wirtschaft « zum Aubrig » im Schluchtenwinkel. Aus ihrem Gastraum jauchzte der Frohsinn; denn eine Rotte von Pickelhelden, verwegene Kerle, rastete dort, mit den jassenden Bergbauern Zwiesprach pflegend.

Ein Beifallsdonner begrüsste mich, als ich, den Regenschirm unter dem Arme, unter die wilde Bande trat. « Er ist fromm geworden! » höhnte der eine. « Das Zipperlein plagt ihn! » grinste der andre. Umsonst beteuerte ich die Güte, das Zweckmässige meines Regendaches. Erst als wir ins Berg-nachtdunkel traten und das liebe Nass vom Himmel troff, da glomm in den Spötteraugen der Neid, und meine Ehre war gerettet...

Wieder sahen wir vor uns die Säge im Hintergrund des Innertales. Der Sommerweg zu den Rädertenalpen trennt sich dort vom Schweinalpjoch-pfad. Aber erwischen muss man das Steiglein, denn weiter oben erst wird es deutlich. Auch wir verfehlten es bei der Nacht und krabbelten durch des Hundsloches Wildnis, bis wir endlich die Wegspur kreuzten. Auch dann noch tappten wir in Löcher, rannten gegen Blöcke und verfingen uns oftmals in den zähen Tannenwurzeln.

Auf versumpfter Waldlücke, wo die Schwantlihütte wie ein verlorner Posten steht, holten wir Atem, die Kratz- und Quetschwunden an Fingern und Knien zärtlich betastend.

Der Seltenbach murmelte dumpf herüber. Wieder tauchten wir ein in den Forst. Nach Überschreiten des Wasserrisses wanderten wir südhin bergan, bis eine Sumpfmulde uns wieder aufnahm und den Rinderweidhütten entgegen führte.

Anderntags gellte früh schon mein Weckruf. Ein grauer Wolkenturban umschlang den Felsenscheitel des Muttristockes. Die Gefährten starrten schwermütig und leer wie unglücklich Verliebte ins Nebeltreiben. Ich aber schwang meinen Regenschirm, wie weiland die Urner ihr grauses Stierhorn. « Unter diesem Zeichen werden wir siegen », schrie ich den Betrübten zu.

Wir umzogen auch diesmal des Muttriberges langweilig sich dehnenden Südwestfuss; statt aber ins Westkar einzuschwenken, querten wir zum Torberg hinüber. Seinen Westhang durchfurcht eine jähe Grasrinne. Nach eintönigem Gang über Schutt und Weide erfrischte es uns, dort hinaufzuturnen. Am Torberggipfelrücken freilich endeten unsere Affenkünste, und sorglos schlenderten wir gratüber zum Muttrikopf, dem altvertrauten. Frostiges Grau umfing uns dort. Für einen Husch nur enthüllte sich der Räderten-klotz, mit Neuschnee gepudert. Auf dem Muttri zu frieren, behagte uns nicht.

Auch lockte es uns, binabzuklimmen über des Berges Nordostabsturz. Lotrecht scheint zwar das Wändchen abzubrechen. Den Ungeübten schwindelt schon, lehnt er sich sachte nur über den Abgrund. Der Erfahrene und Kühne indessen lächelt und späht nach dem Angriffspunkt. Auch hier gibt es einen. Vom Schärtchen dort, das den Nordwestgrat ein wenig kerbt, schiesst eine Felsenrinne ins Leere. Neuschnee verkleisterte zwar dieses Loch; doch stiegen wir, angeseilt, keck hinunter. Aber plötzlich hing der Felsen über; ein richtiger Steinbauch schnitt uns ab vom untern Teil des schönen Risses. Da schlich ich osthin hinaus in die Wand. « Schrecklich viel Luft und wenige Griffe! » seufzte ich heimlich; laut jedoch schrie ich: « Hier geht es prächtig! Aber sichert mich gut! » Mein Schirm jedoch fuhr mir zwischen die Beine. « Verdammt! » Da flog er in schönem Bogen und spiesste sich fest im weichen Schnee eines tieferliegenden Plattenbandes.

Glatter und griffloser wurde die Wand. Immer schmäleren Leisten und engeren Rissen vertraute ich mein Schwergewicht an. So ging es nicht! Ich musste zur Rinne zurückEin böser Quergang! Doch glücklich kam ich ins Kellerloch unter dem Überhang. Eine Weile verstrich, bis des Nächsten Beine an der luftigen Ecke erschienen. Vom sichern Loch aus belustigte mich das Strampeln der Halt verlangenden Füsse. Weiter unten flachte die Rinne aus. Ich steuerte über leichtere Stufen und Schneebänder meinem Schirm entgegen.

Angelangt auf der steilen Firnhalde, welche das Rädertenkar umsäumte, setzte ich mich und rutschte im Hui der dunsterfüllten Mulde zu. Plötzlich stiess mich etwas ins Genick. Ein Schneehaufen war 's, eine kleine Lawine, ausgelöst durch meine Fahrt. Da warf ich mich seitwärts, fuchtelnd mit Händen und Füssen. Mich gelüstete nicht, in dem kalten Brei zu verschwinden.

Nebel und Urweltschweigen herrschten im Hochkar. Allein — denn die andern blieben aus — stapfte ich zur Felsenscharte zwischen Muttri- und Rädertenstock. Ich fragte mich, ob sich die Rädertenwestwand geraden Weges bezwingen liesse. Auf schneefreiem Absatz über der Lücke verwahrte ich Rucksack, Bergschuhe und Schirm. In den leichten Kletterfinken griff ich den untern Plattengürtel an. Dolomitenartig ist er geschichtet. Senkrechte, auch überhängende Stufen unterbrechen schwach steigende Plattenbänder. Schlechtgriffige Felsenrisse benutzend, durchstieg ich zwei solcher Mauergürtel; den dritten jedoch überrann Schmelzwasser. Rasch waren meine Kletterschuhe durchnässt, und ich rutschte auf den heimtückischen Platten. Eine innere Stimme raunte: « Zurück! » Bald stand ich wieder unten bei meiner Habe. Die Gefährten waren — wie die Schneespur verriet — inzwischen osthin abgezogen. Sie versuchten wohl, dem ruppigen Berg eine leichtere Seite abzugewinnen.

Ich ruhte und überlegte ein bisschen. Da nahte mir, von der Muttri-wand kommend, eine spinnenbeinige Gestalt. Ein Bekannter war 's, der vor kurzem als Erster die Rädertennordwestwand erstiegen hatte. « Komme mit uns! » lachte er mir zu, auf die frisch beschneiten Felsen weisend, « wir wollen zum zweitenmal dort hinauf! Schnee hin oder her, wir zwingen 's durch I » — Angesteckt von so viel Zuversicht, begleitete ich die lange Seele. Den Pappschnee der Mulde verlassend, packten wir einen schwarzen Absatz an. Glatt und senkrecht ging 's empor; der gewandtere Gefährte voran. Dann glitten wir auf verschneitem Bande hinüber zum Fuss eines Überhanges.

Als Dritter war inzwischen ein Freund meines Kletterkünstlers nachgerückt. Wir bestaunten miteinander das Verkehrshindernis. Droben lockte eine tiefe Nische. Keuchend, von unten kräftig geschoben, kroch unser Langbein zur Höhle hinauf. Mir wurde die Ehre, als Zweiter zu folgen. Misstrauisch beschaute ich mir das Wandstück, von dem das schmutzige Schneewasser rann.

« Vorwärts! » höhnte es von vorn und von hinten.

Das verdross mich. Mein Wagemut nahm überhand. Unter allgemeinem Gelächter flog zuerst mein Regendach hinauf. Dann stemmte und fluchte auch ich mich höher. In der Höhle verklemmte sich jedoch mein Rucksack, und ich gab meine letzte Puste dran, um heil aufs obere Band zu gelangen. An winzigen Griffchen klomm nachher der Dritte an freier Wand zu uns empor.

Doch weiter, weiter! Allzu sicher stand es sich nicht auf dem lockeren Schutt. Waren wir bisher nordhin geklettert, so schwenkten wir südwärts, sobald wir noch einen niedern Absatz bezwungen hatten. Bald standen wir vor der letzten Mauer. Senkrecht starrte sie uns ins Gesicht. Bedächtig ertasteten wir ihre Schwächen, verkrallten uns in die schmälsten Ritzen und scheuerten unsere Ellbogen und Knie an den rauhen Stellen der Wand. Endlich aber umarmten wir brünstig die Zähne und Zacken des kurzen Westgrates und turnten dann siegesfreudig hinüber zur Spitze.

Dort sass nun der ganze « Räderten-Bund » beieinander; denn auch meine früheren Genossen hatten von Norden her auf neuem Wege überraschend die luftige Höhe bezwungen. Als weithin sichtbares Siegeszeichen wurde mein Regenschirm aufgespannt. Unter seinem Schutze sprudelten Witz und Laune. Der Himmel selber feierte mit. Strahlenblitze zuckten blendend durch die dräuenden Wetterwolken.

Ein Stündchen später trennten wir uns. Die beiden Nordwestwändler bandelten kühn mit den spröden Zacken des Nordgrates an. Die andern zeigten mir inzwischen ihren neuen Nordflankenweg. Wir « schwebten » ein Stück weit über den Nordgrat, bogen hernach in die Flanke zurück und tasteten uns an vereisten Grasschöpfen geradewegs einen Steilhang hinab. Doch plötzlich hingen wir überm Abgrund. Da bot uns eine Seitenrippe den erwünschten Durchschlupf nach Norden. Auf dem Grunde einer verschneiten Rinne landeten wir nach kurzer Mühe.

Hier trafen wir unvermutet wieder mit den Nordgratstürmern zusammen. Niederzischende Trümmer verrieten uns zuerst ihre holde Nähe. Sie rasselten, ihren Kammweg aufgebend, durch ein Schuttkamin zu uns herab. Als Bremsstock gebrauchte ich nun kühnlich den Nothelfer wider Sankt Peters Zorn. Durch die enge Schneekehle sauste ich nieder bis zum Fusse der Räderten-wand.

Wir lagerten uns zur letzten Rast auf dem früher erwähnten Rasenkopfe ( Punkt 2169 m ). Es kamen, es wogten, es schwanden die Nebel. Bannern gleich flatterten sie überm Kamm, wie Rauch zerfliessend, wenn die Sonne durch Wolkenlücken heruntersengte. Die Kalkburgen vor uns wurden lebendig; bald drohten sie, Nachtgespenstern ähnlich, bald leuchteten sie wie Götterburgen. Uns allen lachte darob das Herz. Handelnd hatten wir ja die Scheu vor der wilden Urwelt überwunden.

Zindlen — Rossälplispitz — Brünoelistock.

Wenn ich an diese drei Berge denke, durchbraust es mich wie ein Hoch-gesang; zugleich aber hör'ich Menschlein lärmen, die im Ränzel unsichtbar den Alltag hinauf in sonnige Höhen schleppen. Bekannt ist ja längst das schöne Gebiet. Wer die Wäggitalerberge nennt, der meint ausser Aubrig und Bockmattlistock ganz gewiss die Zindlenspitz-Brünneligruppe.

Viel Wasser ist durchs Tal gerauscht, seit ich zum erstenmal den drei Gipfeln mit der Ehrfurcht des Neulings gegenübertrat. Silvester war 's. Beim Bade hinten liessen wir frosterschauernd die Beine vom Mäuerchen herunter baumeln. Fast schneefrei strebten die Berghänge auf; der Talgrund jedoch erschien weiss glasiert.

Müde vom Landstrassentripptrapp dösten wir trotz der Kälte ein Viertelstündchen. Dann hielten wir, den Talboden querend, zu den Häuschen von Pfusti und Ziggen hinüber. Behaglich lehnen sie am Berghang, zur Seite des breiten Bachschuttfächers.

Eine Spur, bei der obersten Wohnstatt beginnend, strich durch Wiesen zu einem Waldriemen. Hinterm Gatter beim Gehölz verlor sie sich aber. So stapften wir auf Kuhtritten rechts hinauf, bis vor uns im Dunkeln der Wildbach rauschte. Nun stolperten wir der Nase nach nordhin über offene Weiden zum grossen Viehstall auf der untern Aaberlialp, 1081 m. Aufatmend hielten wir an und blickten weit hinaus ins freundliche Tal, dessen Forste sich schwarz von den Silberschleiern im Nebel hauchenden Sumpfgrund abhoben.

Nach kaltem Nachtlager auf stachliger Streue erwachten wir früh schon, wie gerädert. Endlos lange dauerte es, bis die Glieder wieder geschmeidig wurden und der Tee im Pfännchen dampfte. Darauf stiegen wir bolzgerade höher an schneegetigerten Hängen. Des Mondes Flimmerglanz verblasste. Am Osthimmel wuchsen Dämmergebilde — gelbgrüne Streifen — höher und höher. Zart erglühten des Fluhbrigs Wände, wie von Rosenblättern übersät. Dann schwebte die feurige Sonnenkugel einsam über die weissen Joche, und das Gold des reiferen Lichtes verdrängte die Wangenröte der schüchtern erwachenden Frühe.

Wir freuten uns, als Ahornbäume und Wettertannen im Weidland auftauchten. Diese Kraftgestalten belebten sichtlich die eintönig braunen Vor-alpenmatten. Vorbei an den obern Aaberlihütten, am untern Höhenwaldsaum uns haltend, stoffelten wir zum prächtigen Vorsprung, wo die Sennten der Hohfläschalp sich sonnen.

Hier oben hüllte die Landschaft noch ein Harnisch aus glasigem Winterschnee ein. Neugierig bogen wir herum um den letzten Ausläufer des Schein-berg-Südgrates.

Da stand vor uns alles, was uns daheim in verlockenden Traumbildern vorgeschwebt hatte: Zindlen, Rossälplispitz, Brünnelistock — ein Winterbild, wuchtig und fest geschlossen, durchglüht vom Lichte des strahlenden Morgens.

Mir bangte, als ich die Felsenmauern so gleichsam auf mich einstürmen sah. Der Blick, an eine Tiefenwelt voller Bäume, Sträucher und Blumen gewöhnt, umfasste nun plötzlich eine scheinbar gesetzlos getürmte Masse von Stein. Doch bald beruhigte sich das Gefühl. Aus dem Ganzen lösten sich einzelne Teile, und diese Teile zeigten abweichende Formen. So starrte, gleich einer Burgruine, der Brünnelistock aus der schneeigen Matt, mit scharfgezackten Gräten den Himmel berührend. Südlich von ihm erhob sich der Rossälplispitz, einer steil gestellten Riesenplatte ähnlich. Als gewaltiger Rundturm mit schreckhafter Westwand stand ihm der Zindlenspitz zur Seite. Dank dem Schnee auf den Bändern lieess sich prächtig das Rückwärts-biegen der Felsenschichten im Kalkgerüst dieses Recken erkennen. So verschieden gestaltet uns indessen die einzelnen Gipfel entgegentraten, erkannten wir doch in ihnen nur Glieder eines gemeinsamen Faltenbaues.

Ergriffen standen wir lange Zeit. Der Sommergast vermag sich nie die hehre Grösse auszumalen, womit der Winter diese Landschaft schmückt. Drei Hauptfarben herrschen: das Blau des Himmels, das warme Gold besonnter Schneeflächen und das Schattengrau der mächtigen Felsenwände...

Den Rossälplispitz gingen wir schüchtern an. Zwischen ihm und dem Zindlen dehnt sich ein Sattel, ausgefüllt von den Rossälplimähdern. Ein Plattenwall trennt ihn von der Matt. Ihm streben wir zu; denn ein Schafsteig schlängelt sich zwischen seinen Schrofen hinauf. Doch ach, den Durchschlupf umzog eine schillernde Eishaut. Zum Kuckuck, irgendwo mussten wir durch! Die Schneerinne nächst der Rossälpliwand versprach uns einen leichtern Weg.

Gefehlt! Mit jedem weitern Schritte wurde sie steiler, schmäler und glatter. Sogar die Steigeisen nutzten hier nichts. Wütend schlug ich Stufe um Stufe. Spiegelblanke Kalkplatten verwehrten, links oder rechts hin auszuschlüpfen. Mein Begleiter kehrte missmutig um. Mit dem Ehering in der Westentasche fühlte er plötzlich Familienpflichten.

Langsam aber stetig rückte ich höher. Schrumm! Da ward es oben lebendig. Pardauz! Da sausten faustgrosse Steine, gelöst von der Wärme, durchs Loch herunter. Jetzt ward mir alles Wurst. Mich setzend, sauste ich wie eine Bombe hinaus aus der ekligen Steinschlagrinne... Grinsend empfing mich mein Genosse. Er hatte ja wieder mal recht gehabt. O die Jugend, die unvorsichtige JugendWir versöhnten uns unten auf der Alp, im Sonnenglast ruhend, badend in reiner, wärmezitternder Höhenluft. Glockentöne wanderten aus dunstiger Tiefe zu uns empor. Ihren Wohllaut trinkend, vergass ich der Bergfahrt Misslingen. Auch um verunglückte Pläne spinnt die Lebensfreude ihre grünen Ranken...

Zum zweitenmal betreten wir nun die wunderschöne Hohf läschalp; aber Spätherbstnebel umschleichen die Felsenspitzen. Lautlos wandern wir über sterbende Matten; deren Braungrün nur noch verspätete Blüten schmücken. Hinter der Scheinbergecke tauchen wir ein ins Grau, ins Nebelheim. Schwer hält 's, im weglosen Rasen und Schutt der Hochwanne unser Ziel zu treffen; doch die Spürnase eines Ortskundigen bringt uns sicher zum Nordfuss des Brünnelistockes. Der Bogen des Kammligrates bricht hier jäh zum Ahornenälpli ab. Ein Kalkriff schiesst vor uns aus dem Nichts. Fast senkrecht, aber an guten Griffen, schwingen wir uns an ihm hinauf. Ein Schuttabsatz folgt, dann ein Rasenkamin, über welchen des Brünnelistockes Vorgipfel ( 2130 m ), eine kleine Felsenschulter, winkt. Nun hinab in ein seichtes Schärtchen. Von da aus wird es überaus luftig; denn der Hauptgrat schwingt sich kühn in vernebelte Höhen. Hangeln oder Reiten, das bleibt sich hier gleich; aber schwindeln darf es keinen, der dieses Grätchen bezwingen will.

Weiter oben werden die Felsen leichter, und endlich taucht als süsser Lohn die Hauptspitze aus dem feuchten Düster ( 2150 m ). Wir alle — ein vollgezähltes Dutzend — erfreuen uns des leichten Erfolges. Zu sehen ist zwar nichts als der Steinmann. Über uns ahnen wir freilich die Sonne; denn ein warmes Flimmern durchdringt das Grau. Der Ostwandabsturz bleibt uns also verborgen. Auch er ist schon mehr als einmal durchklettert worden, trotzdem sein Schlussstück achtzig Grad geneigt ist. Unheimlich bleibt jedoch dieser Weg mit seinen oft atembenehmend jähen, von brüchigem Fels durchsetzten Rasenplanken.

Da klimmen wir lieber den schönen Südwestgrat hinunter. Zierlich geschwungen setzt er ab zur Lücke vor dem Rossälplispitz. Gar sachte trippeln wir auf der schmalen, oft nur mehr fussbreiten Felsenkante; doch dem sichern Gänger droht hier keine Tücke. In der Scharte unten ruhen wir kurz, den schlanken Grat nochmals ausgiebig bewundernd. « Schneidige Kerle sind wir doch! » denkt jeder unwillkürlich dabei. So wohltuend ist 's, mit dem Grossen auf Erden sich selber ein bisschen zu bestaunen. Nässt der gute Bürger nicht gleich die Hosen, wenn etwas Gefahr an ihn herantritt, dann fühlt er sich sofort als Siegfried und Held.

Verschiedene Weiterwege stehen uns offen. In die Matt hinab windet sich ein Schafsteig; zum Sulzboden führen lange Grasschüsse, nicht sehr gefährlich, aber ermüdend. Wir selber trachten nicht hierhin, nicht dorthin! Uns lockt der rauhe Rossälplispitz. Recht herrisch und klotzig baut er sich auf. In seiner Nordflanke dringen wir höher, listig eine Gemsenspur benützend. Nun richtet steil sich der Gipfelkopf auf. Zu schaffen machen plattige Stellen mit winzigen, aber festen Griffen. Scharfe Brennesseln wuchern dazwischen, das öftere Hiersein von Weidetieren andeutend.

Ein rechter Rastort wäre gewiss das Gipfelmättchen des Rossälplispitzes ( 2076 m ), doch die Zeit reicht nicht zu längerem Verweilen.

Wir eilen an der Südflanke hinab, sobald wir droben Luft geschöpft haben. Da stoppt unser Zug. Eine schiefe Platte, tritt- und grifflos, sperrt den Weg. Rutschen wir langsam auf dem Hintern darüber! Prächtig geht das, und wir setzen unsere Hetzjagd wieder fort, auf breiter werdendem Rasenkamme den Rossälpliweiden entgegen rennend. Erst der Nordgrat des hübschen Zindlenspitzes, ein luftiger Grasfirst, bremst unsere Fahrt. Diesen Rasenschüssen misstrau'ich immer; denn sie lottern wie ein morscher Zaun. Dem Geübten freilich werden sie kaum zum Verderben. Wer sie aber nur hin und wieder betritt, unerfahren in der Kunst, die Füsse sicher einzusetzen, der schnauft erlöst, wenn er endlich wieder feste Felsen unter sich fühlt. Auf einem breiten Rasenband umwandern wir osthin den Gipfelturm. Sein steiles Wändchen von vorn anzupacken, verbietet das völlig mürbe Gestein. Von Süden her stürmen wir vollends die Spitze ( 2098 m ), nur zuletzt noch über einige Stufen turnend. Wohlig strecken wir uns aus auf den üppigen Rasenpolstern des Zindlen. Die Nebel rings lösen sich auf und zerflattern. Lichtfluten vergolden das herbstliche Land.

Die selige Gipfelstunde endet. Schräg fallen schon die Sonnenstrahlen. Da poltern wir über die Rasenhalden der harmlosen Südflanke lustig talwärts. Wer im Winter sich an den Zindlenspitz wagt, muss freilich das Schneeschuhlaufen beherrschen; auch darf er den Umweg über den « Himmel » oder den Lachenstock nicht scheuen. Vom Zindlensattel spähen wir ostwärts zur Tiefe; doch verlockt es uns nicht, zur Sulzalp abzusteigen. Auf diesem Weg hat schon mancher Neuling merkwürdige Abenteuer erlebt, wovon er daheim am Riertisch klüglich schweigt. Die jähen Graskehlen und brüchigen Felsen lassen eben nicht mit sich spassen.

Bald stossen wir auf die obere Hütte, ein richtiges Geissenparadies ( 1856 m ). Das dort beginnende Weglein führt erst einem Gehängeabsatz entlang. Später schlängelt es sich ins Bachloch und steuert dann, einen Schutthang querend, der untern Zindlenalp entgegen ( 1554 m ). Ein Vorsprung, sonnig und aussichtsreich, verleitet uns, noch ein Weilchen zu rasten. Vorsicht rät uns, den leeren Bauch zu stopfen, damit nicht beim kommenden Steilabstieg die Gedärme durcheinander geraten.

Soeben verrauchen die letzten Nebel an den verlassenen Felsenzinnen. Über uns droht der Zindlenspitz wie ein grauer Kobold aus Urvätertagen. Zwei bleiche Gesellen, Scheinberg und Hohfläsch, grüssen jenseits vom Aaberliloche. Toll überhüpft der Zindlenbach den wilden Absturz zum Aaberliboden. Solche Sprünge darf sich der Alpweg nicht leisten. Ängstlich weicht er den Wänden aus und windet sich in unzähligen Schlingen geduldig durch den Hochwald zur Tiefe. Auch so noch bleibt er rauh und steinicht. Der Wandrer dankt beglückt dem Himmel, wenn er den Martersteig verläset, ohne sich auf den glitschigen Platten seine geraden Glieder zu schänden. Der reizvolle Aaberliboden jedoch belohnt uns für alle bestandene Mühsal. Matten und freundliche Hütten schmücken den kleinen Kessel, über dem der Hochwald ernst und trotzig wacht. Im Hintergrund leuchten Ahorne und Buchen, sattgelb und rot, wie lodernde Flammen. Wie graue Festen ragen im Osten die gewaltigen Berghäupter auf, überwölbt von des Oktoberhimmels tiefblau strahlender Riesenglocke.

Hohfläsch — Scheinberg.

Fastnacht ist 's! Den Menschenkindern juckt 's im Beutel und in den Beinen. Uns auch berücken die Narrenschellen. Wie stiegen wir wohl sonst zu Berge, während noch von allen Flühen die Frühjahrslawinen zu Tale donnern?

Stundenlang sind wir im Nebel gewandert, im schweren, feuchtkalten Tiefennebel. Da öffnet sich über uns der Himmel, und wir treten aus stickigem Kerker ins Freie. Nach langem Zeitraum grüssen wir wieder die Himmels-leuchten — die funkelnden Sterne. Matt glänzt der Alpgehänge Schneekleid. Die Ahorne ragen gleich Gespenstern, und mondlichtumsilberte Berge starren wie Geisterburgen ins offene All. Im Wandern träumend, ersteigen wir die weiten Halden der Hohfläschalp. Unsere grossen Reifen hinterlassen Mammut-spuren im weichen Schnee. Schneckenhaft kommen wir heute vorwärts. Erst gegen 2 Uhr früh betreten wir die unterste der Hütten.

Am Morgen empfängt uns ein unübersehbares Nebelmeer. Wild brandend hier, dort glatt wie ein Tischtuch, doch überall von der Sonne umleuchtet, bedeckt es des Mittellandes Gründe.

Über ziemlich hart gefrorene Flächen trappen wir durch den lockeren Wald den Felsausläufern in der Scheinbergflanke zu.

Doch seht! Was regt sich dort oben am Grat, hoch auf dem rasenbewachsenen Zacken? Ei, Gemsen sind es, drei... fünf Stück. Das Leittier hat uns wohl längst bemerkt, denn aufmerksam windet es herunter. Immerhin scheint es unsere Pickel als ungefährlich einzuschätzen. Kein Warnpfiff schrillt, und quietschvergnügt verharrt das Rudel auf seinem Vorsprung.

Ein gutes Stück unter der « Schmelzifurkel » ( 1908 m ) schwenken wir hinüber zum Hohfläsch, einem plumpen, wenig gegliederten Kegel. Steilhalden bringen uns an seinen Fuss. Eine ebenfalls jähe Schneekehle führt uns darauf ins offene Gehänge der Südwestflanke. Schwach überschneite Rasenplanken wechseln nun ab mit Karrenzügen. Ganz heimisch fühlen wir uns da nicht. Es ist kein Gehn und auch kein Klettern. O nein, wir kriechen von Stufe zu Stufe, als plagte uns das böse Gewissen.

Die Südwestseite biegt fast unvermerkt in den gleichartig steilen Südhang um. Eilig erklimmen wir zuletzt die nordwärts abbrechende Hohfläschwest-kante und machen es uns auf dem schneefreien Rasen unter der Gipfelwächte gemütlich ( 2080 m ).

Vorsommerwärme umschmeichelt uns. Ein Falter gaukelt im Morgen-lüftchen, ein allzufrüher Frühlingsherold. Über den schimmernden Schneiden der Gräte scheinen die Schäfchenwolken zu zögern. Uns auch bannt die weisse Pracht; aber ein Ahnen naher Gefahr vertreibt uns von dem Göttersitze. Wahrhaftig! Beim Abstieg erst zeigt der Berg seine Tücke. Schon hat die Wärme an den Platten und Planken die dünne Schneekruste erweicht. Höllisch aufpassen heisst es da! Jeden Augenblick löst sich der Schneebelag und stäubt hinunter in den Abgrund... Wir schwitzen, aber nicht vor Vergnügen, als die letzte Platte hinter uns liegt. Hier mag der Böse inskünftig Schlittschuh fahren!

Freigelassenen Böcklein ähnlich springen wir nun am Bergfuss hinab, vorbei an alten Lawinenrutschbahnen, die rinnsteinartig den Schnee durchfurchen. Am Scheinberg drüben rudern wir nach Kräften durch den tiefen Schneesumpf; aber schon gegen Mittag sind wir zurück auf der lieben Hohfläschalp. Da unten beginnen wir den zweiten, den leichteren Teil unseres Narrenfestes. Dort, wo die Sonne am heissesten hinbrennt, recken wir uns auf trockenen Brettern. Schnee und Luft und Gedanken flimmern. Der Wille hat sich ausgetobt, der Drang nach Erkenntnis ist befriedigt, und nur das Schöne um uns vermag noch das Gemüt, die Seele zu fesseln. Wie reinlich scheidet der Nebelmeerspiegel die Schatten vom Lichte, das Land der Sorge von den seligen Gotteshöhen! Ganz eigen berührt es mich. Dort unten frösteln jetzt Millionen im feuchten Nebel. Unzählige sehnen sich nach der Sonne. Tausende wissen es auch, wie nah und leicht erreichbar die Lichtflut flimmert, und so vielen erlaubten es Kräfte und Mittel, empor zur flutenden Wärme zu wandern... Dennoch bleiben sie unten im Schatten, kränkelnd und frierend, klagend und murrend. Warum? Sie sind zu faul; sie wollen, die Wärme möge zu ihnen kommen. Wer aber keck der Sonne nachläuft, wird Wagehals und Narrenhäusler gescholten...

Unruhig wogt es unten im Grunde. Mir ist, als schau'ich von einer Klippe dem Branden der Meereswellen zu. Gleich weissem Gischt umschlingt der Nebel die Berge. Schwaden ziehen draussen wie Wogenkämme, während in den Tälern die Dünste sich glätten, als wären sie Spiegel ruhiger Fjorde...

Gegen Abend erst lockert ein Westwind die Decke. Langsam nur steigt sie. Wie durch ein Fenster schimmert des Tales Lenzgrün herauf, glänzt des Flüssleins schlängelnder Silberfaden. Die gehobenen Nebelschichten schweben staffeiförmig übereinander. Nach Sonnenuntergang röten sie sich, wie Eisenbänder im Schmiedefeuer, und goldig erglänzt dazwischen der Abendhimmel. Geisterhaft wächst der graue Erdschatten im Osten über die Kämme herauf; aber lange noch glüht im Westen der Purpur, blutigen Widerschein auf die Schneehänge zaubernd...

Frühe kriechen wir ins Heu und erwachen erst, als der Fastnachtmontag mit bleichem Schimmer uns beleuchtet. Zwölfstündige Ruhe, das tut 's! Zufällig befühle ich meine Taschen. Jammer, mein kostbarer Hausschlüssel fehlt! Da wende ich das Heu, als wär'es Sommer und ich ein schwitzender Bauernknecht. Mir lacht das Glück! Ich fasse den Flüchtling, und fröhlich stürmen wir hinaus.

Doch, was ist das? Der Westwind pfeift, und Schneeschauer wirbeln uns ins Gesicht. Um unsre Nasen, nicht mehr im Tale, brodelt nun das Wolkenmeer. Einerlei! Mag's guxen und hudeln, bis auf den Scheinberg bringen wir 's doch!

In unsern noch kenntlichen Vortagspuren dringen wir bergwärts durchs nasse Gewölk. Gestern genossen wir Wärme und Farben; heut'aber gilt es Wagnis und Kampf! Wie ein Leichentuch, ohne eigenes Leuchten, dehnt sich um uns der weisse Hang.

Bald biegen wir ab im rechten Winkel. Nordhinauf über Schneehalden stapfend, steuern wir, Schiffern im Nebel gleich, dem breiten Scheinbergsüdgrat zu. Grosse Wächten überhängen seinen zerhackten Ostabbruch.

Eine wahre Strasse haben die Gemsen in den weichen Schnee getreten; sie verschwindet jedoch weiter oben in den schneefreien Karrenschüssen. Diese Schroffen packen wir an wie Feinde. Dann flacht sich der Südgrat ein Stück weit aus; aber plötzlich stehn wir an einem Eiswändchen, fast senkrecht, von etwa fünf Meter Höhe.

Da schmettert die Axt, da springt das Eis, und kleine Schüsseln senken sich ein in der Steilstufe glatt polierte Fläche.

Weiter! Wir nehmen den nächsten Hang und rennen fast gegen den Gipfelsteinmann. Hurra, schon sind wir ja auf der Südspitze.

Ein rascher Erfolg! Doch unser wartet noch der nördliche Gipfel des Berges. Eine Reihe tief überschneiter Gratzähne blickt uns recht abweisend an. An ihrem Westhang tappen wir hin. Wie der Arzt in verfaulten Zahnlöchern stochert, so prüfen wir sorgsam die tückisch verwehten Scharten.

Endlich stehn wir am Rand einer Kluft. Jenseits taucht die Scheinberg-nordspitze ( 2046 m ), ein bleicher Zacken, aus dem Grau. Im wütendsten Schneegestöber spähn wir hinab in das greulich verschneite Loch. Dann schütteln wir den Schneestaub von den Füssen und stampfen zähneknirschend zum Steinmann zurück.

Der Sturm nimmt zu. Es dunkelt um uns. Schwer hält 's, das Nächste zu unterscheiden.

Jetzt wehre dich, Menschlein! Verweht sind die Spuren, verschneit die Karren und schlüpfrig der Steilhang. Schneefahnen flattern durch die sausenden Nebel...

Schon um 11 sitzen wir wieder drunten in der trauten Hütte. Nach überwundenen Gefahren pulst das Blut so heiss wie sonst nie. Der Kampf erst stellt des Mannes Beine fest auf sein kleines Stücklein Erde.

Vom Schimbrig zum Tierberg.

Wenn die Wäggitalgründe vernebelt träumen, dann schimmert bleich im Mondenlicht der Plattenschild der Scheinbergnordwestwand, und neben ihm stechen die Geisterzacken des Bockmattli ins Himmelsrund.

Diese Bergwelt nimmt mich immer wieder gefangen. Ein gewaltiger Bauplan leuchtet noch durch die Trümmer ihrer Klippen und Wände; denn sie sind Reste der sagenhaften Riesenstirne der Rädertendecke. Der Scheinberg enthält die Kuppel des alten Gewölbes; die Bockmattliklippen ragen als Stücke der senkrecht aufgerichteten Stirnwand, während im Tierberg und Bärensoolspitz die Schichten zurückzulaufen beginnen.

Kein Erdgeist hat mit boshaftem Hammer plötzlich das Riesengewölbe zerschmettert. Frost und Wärme sprengten allmählich Korn um Korn und Block für Block daraus; indessen der Wasser unermüdlicher Kreislauf die Trümmer geduldig in die Tiefe führte. Noch reisst und kracht, noch gluckst und rinnt es unaufhörlich im Gestein. Nie rasten und feiern die erdumbildenden Kräfte...

Wandernd auf dem Scheideggpfad, genossen wir die Kühle eines Herbst-abends. Von der Innerthaler Kirche aus ging es an sanft geneigten Lehnen hinauf, von einem gärtchenumhegten Berggütlein zum andern. Schliesslich aber schwenkte der Steig in eine Hochforstwirrnis ein. Sumpf herrschte dort. Den Wegkehren folgend, patschten wir geduldig durch Schlamm und Lehm.

Tierberg, Bockmattli, Scheinberg.

Von unserm Waldrücken aus hörten wir im nahen Tobel den Steinhofbach plätschern. Nur zu gern entstiegen wir weiter oben dem feuchten Tann und querten ostwärts zum Mattenvorsprung der Schwarzenegg hinüber ( 1338 m ). Reichlich mit Heu versehene Hütten und ein verlockend sprudelndes Brünnlein entschädigten uns für den mühsamen Sumpfgang.

Frisch gestärkt verliessen wir früh unser Lager. Stolz ragte sie vor uns, die « scheinende Wand », der Nordwestabsturz des Schimbrig. Langweilige Rücken und Rasenstaffeln trennten uns leider noch vom Wandfuss. Murrend erstiegen wir diese Halden auf dem Wege zum Bockmattli.

Inzwischen graute der Sonntagmorgen. Noch lag ob den fahlgrünen Aubergbuckeln stahlblau des Erdschattens Riesenbogen. Da schwebte von der Himmelskuppel ein rosigzartes Band hernieder... Sanft drängte dieser Purpursaum den Schatten hinter die Kuppen und Spitzen, die plötzlich auf-glommen, vom ersten Frühstrahl getroffen.

Wir standen bald am Fuss der Bockmattlikehle und überschauten die Scheinbergabstürze. Nord- und Nordwestwand prallen zusammen an einer schiffsbugähnlichen Kante, deren Ausläufer als scharfer Felssporn aus den Mauerfluchten hervorstösst.

Hier packten wir an. Des Spornes Ostseite bot uns verlässliche Griffe und Tritte. Eine rinnenartige Kerbe half uns auch über die kurze Schneide des Grätchens. Wir erreichten die Bergwand gerade dort, wo auf die Nordkante ein Rasenband trifft. Dieser Durchschlupf, breit, aber abschüssig, zieht sich südhin in die Nordwestwand hinauf. Wir folgten ihm und wurden nicht enttäuscht. Ein Felsland tat sich vor uns auf, bald grün und lieblich, bald roh und düster. Ein senkrechter Absatz — wir turnten hinauf; eine Jungtannen-wirrnis — sie wurde durchkrochen; ein schwarzes Riff — wir bemeisterten es, einander schiebend, mit keckem Klimmzug. Auch Runsen durchrissen oftmals das Band, und kaltblütig schmiegten wir uns vorbei an steil emporgestellten Platten. Doch immer wieder hielten wir an, um hinunterzuspähn in den üppigen Talgrund. Wie junge Adler im Horste hingen wir himmelhoch an freier Wand.

Bei einem Geröllplatz in halber Berghöhe verliessen wir ungern das schöne Band. Über Planken und Schrofen geradhinan kletternd, gelangten wir in einen felsumrahmten, nach oben offenen Rasentrichter. Von dort aus betraten wir die Grashalde zwischen der Westschulter und dem Ostgrat.

Ein unergründliches Loch im Kalk, eine rechte « Doline », fesselte uns; auch beschauten wir wie gebannt die Nordostwand mit ihrem gewaltigen Felsenfenster.

Aus der tiefeingekerbten Bockmattlirunse hallten Jauchzer zu uns empor. Gefährten schlichen dort unten gemächlich den engen Kehren des Steigleins entlang, dem gewöhnlichen Weg der vielen Bockmattlibesucher.

Auf dem leichten Nordgrätchen stiegen wir munter hinan zur nördlichen Scheinbergspitze ( 2046 m ).

Gen Süden gähnte eine Scharte, der Schauplatz unsrer Umkehr im Schneesturm. Auch schneefrei und bei klarem Himmel schreckt sie den Beschauer ab. So glatt ist sie, als ob ein Hackmesser den schmalen Bergkamm zerhauen hätte.

Auf ziemlich luftigem Grätchen schoben wir uns zur Abbruchkante vor und glitten an der niedersten Stelle zur begrünten Sohle des Risses hinab. Noch heikler erschien das jenseitige Wändchen. Unendlich sorgsam, von mir geschoben, kroch mein Gefährte daran hinauf. Ungesichert folgte ich ihm. Jede Rille benutzend, wand ich mich hoch. Dann griff ich krampfhaft nach dem Schartenrande und schwang mich, jeden Muskel spannend, über die senkrechte Stufe empor. Nach dieser Kraftprobe war 's ein Spass, die übrigen Gratkerben zu überlisten. Jubelnd begrüssten wir den bekannten Steinmann auf der Scheinbergsüdspitze ( 2050 m ).

Verlockend lag der Gipfelrasen im herrlich warmen Sonnenlicht; doch zum Rasten hatten wir keine Lust. Wir berieten, ob wir geraden Weges zur Schmelzifurkel absteigen könnten.

Vorwärts denn! Nicht lange gefackelt! Wir bogen, wenig unter der Spitze, vom Südgrat hinaus in die steile Ostflanke. Was von oben schwer schien, wurde zum Spiel. Indem wir zickzackend den Wändchen auswichen, gelangten wir über leichte Grasplanken in den gewünschten Sattel hinunter.

Nun stand uns ein nervenkitzelnder, wenn auch gefahrloser Gang bevor. Ein Jägerpfad quert die Scheinbergostflanke. Kaum fussbreit ist er an einzelnen Stellen. Über die « Schneeschmelze », jähe Grasschüsse am Rand des Absturzes zum Ahornenalpli, führt er ans nordöstliche Ende des Scheinbergs. Ein luftiger Fels- und Rasenkamm geleitet dann vollends zum Schäferhüttlein auf dem breiten Bockmattlisattel ( 1840 m ).

Glücklich dort angelangt, verfolgten wir einen sanften Grataufschwung und fanden uns plötzlich auf dem bevölkerten Gipfel des Bockmattlistockes ( 1930 m ). Uns wurde eigentümlich zumut. An des Scheinberges Wänden und Gräten war uns keine arme Seele begegnet. Ganze Menschentrüpplein aber strebten dem Bockmattli, seinem Nachbarn, zu. Da lachte und schrie es, Geschirre klirrten, Spritkocher summten und Lichtbildkästen zielten in die Nähe und Ferne. Es wimmelte von Geissen und Schafen, Burschen und Mädeln, bemoosten Häuptern, rundlichen Weiblein und magern Tanten. Sollt'ich mich darüber ärgern? O nein, da lachte ich lieber mit. Alle, die droben lagernd sich freuten, sie weilten hier nur wie Eintagsfliegen. Faucht der Westwind und wirbeln die Flocken, dann verschwinden sie spurlos wieder.

An einem Neujahrsmorgen stand ich einst auf dieser Spitze, vom Schnee geblendet, geduckt vor dem rasenden Sturme. Leere umgab mich, reingefegt war die Höhe von Schwärmern und Gipfeltanten. Einsam sprach ich mit den jagenden Wolken...

Wir ruhten etwas. Dann wandten wir uns dem Ostgrätlein zu und stiegen hinab in den Sattel zwischen Bockmattli und Tierberg. Von der Trebsenalp aus gewinnt man ihn über Schutt, über Planken und durch eine Kehle.

Nun griffen wir den Tierberg an; gerieten aber in seiner Südflanke auf ekelhaft glitschige Rasenschüsse. Da quälten wir uns wie Besenbinder und krochen doch nur wie Schnecken vorwärts. Zum Kuckuck! Wütend krabbelten wir aufs Grätchen, dessen scharfe Kante uns ausgesetzt aber rascher höhenan brachte. Über den Westkamm, auf sichtbarer Wegspur, bummelten wir zur Tierbergspitze ( 1992 m ). Zwei Berggenossen trafen wir an auf der schlank gebauten Gipfelschneide. Die eigentliche Herde dagegen wagt sich niemals da hinüber; denn beiderseits lauert der dämmrige Abgrund.

Nun erst genossen wir wahre Feiertagsruhe. Ein warmer Lufthauch bewegte die bräunlichen Gräser. Der Sonne Glutauge brannte durchs Blau, und krause Federwölklein durchzogen wie Götterbarken der Lüfte Meer.

Rechts unten lachte der Obersee und links das Schwändital mit üppigen Matten. Den Riesenkessel des Ahornenalpli umstanden die Gipfel vom Hohfläsch zum Tierberg wie eine gewaltige Freilichtbühne. Dort walten im Winter als grause Schauspieler der Steinschlag und die stäubenden Lauen...

In flimmernder Nachmittagshelle stiegen wir osthin ab in eine Lücke. Noch ragte der Bärensoolspitz ( 1835 m ) vor uns auf. Als ein Gipfelchen dritter Güte erhebt er sich kaum noch über die dunklen Hochwälder. In frisch auf- wallendem Tatendrang beschlossen wir, ihn noch « mitzunehmen ». Unser Eifer ward über Erwarten belohnt. Wir « frassen » uns durch, im wahrsten Sinne des Wortes; denn im schüttern Tann des Gipfelhanges glänzte blauschwarz und lichtblau bereift ein unerschöpflicher Beerensegen...

Der Bärensoolspitz entstrebt der Mulde des Obersees wie ein Hahnenkamm. Von seinem höchsten Punkt aus schaut sich der Walensee gar lieblich an, besonders wenn bei ruhiger Flut in ihm die Churfirstenzacken sich spiegeln.

Im Abendlicht sahen die Klippenhäupter vom Fridlispitz bis zum Köpfenstocke viel milder als sonst zu uns herüber. Freilich erblickt man von Süden her auch nur die Breitseiten und Schichtenrücken.

Vom Tal herauf irrende Glockenklänge riefen uns zurück zu den Menschen. Wir verliessen den Gratwald, einen Rest von einst viel höhersteigenden Forsten, und durchmassen dann der steilen Südseite ununterbrochene Rasenplanke. Angenehm schlittert sich 's da nicht; denn die Grasnarbe deckt nur lückenhaft die steil abfallenden Schichtenrücken.

So tauchten wir gern in den untern Waldgürtel ein. Das Älpchen Bärensool versteckt sich in eine Lücke dieses Forstes. Als wir dort eintrafen, krochen die Schatten schon unter den mächtigen Tannen hervor. Fast unheimlich war 's, beim Abenddämmern den steilen Gehängewald zu durchschreiten, nachdem uns zuvor auf den freien Firsten ein blendendes Lichtmeer umflutet hatte.

Um so traulicher grüssten uns hernach die einsamen Hüttchen der Alp Brunnmettlen ( 1150 m ). Auch um dieses Menschenheim rauscht der Forst, und machtvoll ragen hinter ihm des Talschlusses Felsenmauern gen Himmel.

Lichter wurde nun das Gehölz, und tief im Tobel toste der Wildbach. Bald umdufteten uns die Wiesen, und vor uns erglänzte in grüner Schale des Tälchens Kleinod — der Obersee.

Wie im Traum umwanderten wir sein Ufer, den Blick in die märchenhaft funkelnde Flut getaucht. In uns war die Welle der Tat verebbt. Jene wundersame Ruhe umfing uns, wo das Vergangene leise nachklingt und die Kraft zu neuem Erleben sich sammelt.

Sinabun.

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