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Aus einem Walliser Tagebuch

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Mit 1 Bild ( 75Von Max Niederer

Zinal 1948-50 ( Wädenswil ) Unauslöschlich haftet die Erinnerung an jenen reizvollen Augenblick, da ich zum erstenmal und ohne jede bestimmtere Absicht die Karte mit der zauberhaft klingenden Aufschrift « Val d' Anniviers » auseinanderfaltete. Es war an einem trostlos düsteren Wintertag gewesen, dessen stumpfes Grau schwer auf dem Gemüt lastete. Und wie ich dann von Name zu Name schweifte, über Runsen und Bäche, Gletscher und Wände, durch lichte Lärchenbestände und einsame Stallgruppen, da begannen mit einemmal die Bäche zu rauschen, die Chalets nahmen braunschwarze Farbe und schiefe Gestalt an, es duftete nach Bergheu und schwerem Wein, der in der Sonnenflut golden glänzte - für Augenblicke war es unvermittelt Sommer geworden, und wenn auch die treuen Requisiten für Fels und Eis im Schrank einstweilen weiterschliefen, mich hatte der Zauber einer verheissungsvollen Gegend unwiderstehlich gepackt.

Seit jenem Tag sind mehrere Sommer ins Land gegangen, während deren ich Örtlichkeiten wie Combasana, Arpitetta und Vichesso in ihrer einsamen und wilden Schönheit kennen und lieben lernte, immer wieder neu unter verschiedensten Verhältnissen, und die reine Poesie ihrer Namen klingt mir seither doppelt schön...

Sonntag, den 9. Juli Mit dem ersten Glas Fendant in Sierre strömt das Wallis ins Blut Das enge Vissoie scheidet die Geister: nach St. Luc sendet es die Eleganten, nach Grimentz die Beschaulichen. Das dünne Grüpplein unentwegter Bergsteiger nach Zinal scheint sich seines Anachronismus zu freuen.

Montag, den 10. Juli, abends Wenn die Geschäftigkeit des Alltags und der auf den Sinnen lastende Weltlärm langsam schwinden, wird man bereit für das Grosse: das ewige Rauschen der Wasser.

Mittwoch, den 12. Juli Früh am Morgen bewundere ich vom Bett aus die schönste Uhr der Welt: den Hang von Singline, auf dem das Sonnenlicht abwärts wandert - Raupe, Falter und Blume liebevoll zum Leben erweckend, einem neuen, herrlich schönen Gebirgstag entgegen.

Donnerstag, den 13. Juli Rast am See auf Alpe d' Arpitetta Erst dann, wenn man während des Schauens den eigenen Pulsschlag hört, ist man offen für die Grösse der Berge.

Cascade d' Arpitetta C' était comme au commencement du monde avant les hommes ou bien comme à la fin du monde, après que les hommes auront été retirés de dessus la terre...

Ramuz, La grande Peur dans la Montagne Samstag, den 15. Juli Ein Grammophon im Chalet nebenan versucht sich im Wettstreit mit der Navisence -lächerliche Anmassung unseres Jahrhunderts gegenüber der Ewigkeit.

Sonntag, den 16. Juli, abends Holz aus dem Wald und Wasser vom Bach - der unmittelbare Bezug vertieft die Beziehungen.

Dienstag, den 18. Juli Südgrat Diablons Ich zwänge mich in einen Kamin, keuche - und staune in das abgründige Blau eines einsamen Enzians. Ich gäbe alle Blumenwunder der Welt darum.

Auf Tracuit Warum geht man in die Berge? Eine häufige Frage, die keine Antwort kennt. Stelle man die Gegenfrage: Warum atmet, warum liebt man?

Freitag, den 21. Juli Der Besso im Mondlicht hat eine unvergesslich schöne Silhouette. Schmerzlich zu denken, er hätte die schicksalhafte Höhenzahl 4000 oder gar zusätzlich das verhängnisvolle Prädikat « Wahrzeichen ». Dann müsste wohl auch er dem Fremdenverkehr und der Käse-reklame zu Diensten sein!

Samstag, den 22. Juli Arpitetta Die frischverschneiten Gipfel der Grande Couronne vom Weisshorn über die Crête de Moming, Rothorn, Obergabelhorn und Dent Blanche zum Grand Cornier gleissen in einen wolkenlosen Hochsommertag hinein. Ausser dem Wasserfall am Besso drüben oder einem gelegentlichen dumpfen Krachen im ungeheuren Eiskessel des Mominggletschers bricht kein Laut die grosse Stille. Wüsste man nicht das Gegenteil, man wäre versucht anzunehmen, dass kein Mensch je dieses Urtai am « Ende der Welt » betreten hätte; Spuren jedenfalls hat keiner zurückzulassen vermocht, dazu wäre er zu unbedeutend gewesen.

Schweigend sitzen wir zu zweit, der Maler Ernst Denzler und ich, auf einem Felsen und versuchen, jeder auf seine Art, mit der Grösse dieser Landschaft ins reine zu kommen. Mein Kamerad geniesst dabei den beneidenswerten Vorzug, Künstler zu sein. Gespannt verfolge ich jede Phase des eben entstehenden Aquarells, jede Bewegung, die dazu beiträgt, einer leeren weissen Fläche Leben einzuhauchen. Und wenn das subtile Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Hand dem Zuschauenden auch weitgehend rätselhaft bleibt, so ist mir doch kaum je zuvor dermassen bewusst geworden, wie entscheidend schöpferischer Geist ein Stück Natur zu bewältigen vermag, wogegen unseren Pickeln und Steigeisen, mit denen wir Grate und Wände überlisten, bestenfalls ein paar jämmerliche Kratzer in die äusserste Oberfläche gelingen...

Dienstag, den 25. Juli Die Berge können töten - aber sie lügen nie.

Donnerstag, den 27. Juli «... Le mauvais pays était venu qui est vilain à voir et qui fait peur à voir... » ( Ramuz ).

Heute ist es genau ein Jahr her, seit der von den Diablons niederstürzende Wildbach unter fürchterlichem Rollen und Donnern Chalets und Ställe bedrohte, die Brücke wegfegte und die frisch gesäuberten Weiden mit Blöcken und Sand überschwemmte. Die Arg-betroffenen schauten schweigend zu und sprachen: « Demain, on recommence »...

Sonntag, den 30. Juli Der fortgesetzte Umgang mit Gneis, Moräne und Gletscher stimmt oft menschen-feindlich.

Arven Gross steigt ihr ins Blau, Hart kämpft ihr am Abgrund, Arven auf Lirec, Rauschende Riesen.

Zu thronenden Zeichen Erschuf euch gewaltig Ewiger Urnatur Krönende Kraft.

Den Blöcken verklammert Stöhnt wild ihr im Sturm, Wunder im Dasein, Titanen im Tod.

Mittwoch, 2. AugustsupAuf der Rothornhütte Mit achtzehn Jahren sieht man die Berge nicht, man erstürmt sie. Später sollte man sich bemühen, sie zu erleben. Dazu genügt weder Nervenkitzel noch Rekord.

Donnerstag, den 3. August In einem misslichen Couloir in der Südflanke des Rothorngrates:

« Nie mehr! » schwur schon mancher nach einer heiklen Stelle, sah nochmals zurück und - gehörte bereits zu den Eidbrüchigen.

Sonntag, den 6. August Das Jahr hier oben dauert kaum mehr als drei Monate. Der Bach, die Blume, die Arve, der Steinschlag scheinen es zu ahnen und geben sich entsprechend.

Dienstag, den 8. August Auf Mountet nach einer unvergesslichen Traversierung des Obergabelhorns.

Wie kann man den Ausspruch tun, eine geglückte Fahrt sei Sieg über den Berg! Ob er uns glücklichen Sinns entlässt oder in die Abgründe schmettert - immer geschieht es mit derselben grossartigen Indifferenz einer Naturgewalt.

Donnerstag, den 10. August « Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich, dass sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen. » Nietzsche, Also sprach Zarathustra Annäherung Mein Verhältnis zu dir begann eigentlich schon damals, für Augenblicke nur, als ich von der Lötschbergrampe aus zum erstenmal deine Nordflanke entdeckte, ein gleissendes, himmelstrebendes Wunder.

Einige Jahre später stand ich auf einem Gipfel der Mischabel. Mein Blick schweifte nach Westen und war wieder gebannt von dir, herrliche Pyramide, die mit Wolken spricht.

Und wie alles Grosse, liessest auch du keine Ruhe mehr. Ich stieg hinauf ins Val d' Anniviers, wo du König bist, und bewunderte vom Weg nach Mountet aus deine beiden berühmten Grate, den Nord und den Schalli, ich legte mich ans Seelein im Arpitetta und durchmass immer wieder die ungeheuren Abstürze deiner Westwand. Ich begriff nicht und ging wieder heinr - es war noch nicht Zeit.

In Gedanken schaute ich dich an langen Winterabenden, da Sturm pfiff und Regen an die Scheiben peitschte, du standest vor mir als Letztes vor dem Schlaf und als Erstes oft im Traum.

Dann endlich, wie ich ein ungezähltes Mal durch den Lärchenwald gegen Alpe de la Lé hinaufstieg, erschienst du mir vertraut. Ich spürte, dass ich mich nähern durfte.

Und ich kam so, wie man zum Grossen kommen soll: erregt, entschlossen und still.

Sonntag, den 13. August Rast unter dem Holzkreuz von Singline Im fortschreitenden Verstehen von Antlitz, Struktur und Wesen dieser Bergwelt reduziert sich die Zahl derer, welche solcher Grösse gewachsen sind und ihr ewig-gültigen Ausdruck zu schenken vermögen, auf zwei: C. F. Ramuz und F. Hodler, zwei Felsen in Menschengestalt.

Durchs ganze Jahr und an jedem Ort, über allen Enttäuschungen des Alltags und allem sinnlosen Getue einer gross sich gebärdenden kleinen Welt - immer wieder klingt ein Name mir auf:

Zinal. Erinnerung und Verheissung zugleich.

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