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Aus Tagen im Val Verzasca

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VON MAX KOENIG, ZOLLIKON

Der junge Mann, « das Herz voll Wanderlust », wie es in seinem damaligen Tourenbuch heisst, erreichte, vom Berner Oberland her, über Gemmi, Gries und Giacomo, am 10. August 1919 das Maggiatal. Statt dann bequem nach Locarno hinauszugehen, stieg er am nächsten Tag zwischen den Poncioni di Nimi und Orgnana weglos, mühsam und wagend in das ihm unbekannte Val Verzasca ab. Im kleinen Ristorante Scamara in Acquino, auf das er in der Dunkelheit stiess, fand er Unterkunft. Erstmalig bot sich ihm oberhalb Gordola bei Gordemo und Scalate die grosse Sicht auf die Pian Magadino und die lieblichen Ufer des Lago maggiore. Über alle Berge hatte er im Rucksack das Bild seiner nachmaligen Lebensgefährtin getragen, so dass sie gleichsam mit ihm in das ferne Tal, das beiden viel bedeuten sollte, getreten war.

Und nun, da der 63jährige in der Musse eines November-Sonntagnachmittages des Jahres 1956 diese Überschrift auf einen blanken Bogen setzt und zu schreiben beginnt, ist ihm fast feierlich zu Mute. Er ist sich Abschliessendem bewusst. Doch zugleich steht, wenn auch noch ohne feste, klare Form, aber gross, sehr gross, ein unendlich Köstliches seines Lebens vor ihm, an das er nur zögernd und tastend herantritt. Ist es schon ganz und erfüllt? Soll er der Welt Bedeutungsloses, Persönliches und Behütetes biossiegen, und darf er das Unberührte einer einsamen Talschaft, die sich ihm erschlossen hat, preisgeben? Und vermag er, in seinem schweren technischen Wesen, es zum Anteilhaben anderer in der Echtheit und Tiefe erstehen lassen, in der es ihm geschenkt war? Aus dem Widerhall früherer Episoden-Berichte weiss er sich Gleichempfindenden verbunden. Sie geben ihm Mut. So ist es wohl nicht nur Geltungsdrang, wenn er schliesslich nicht anders kann, als es zu wagen. In der Führung des je und je Aufgezeichneten will er in Geduld und Behutsamkeit über die Jahre zurückhorchen auf das Rauschen der Wasser, das Wehen der Winde, auf das Herdengeläute und die Glocken der Kirchlein, auf das Singen der Hirten, auf den Klang der Sprache und der Namen. Er sieht die ragenden Berge und kühnen Gräte, die trotzigen Wände und ihr Gerolle, des silbernen Wildbaches Sturz und Gischt, die blumigen Matten und von der felsigen Zinne den Duft der über den Tälern liegt, das Blinken der Flüsse, das Ziehen der Wolken und in der Ebene, weithin und klein, Städte und Werke der Menschen.

Er sieht sein Tal im zarten Grün und den ersten Blumen des Frühlings, in des Sommers Glut und Lust, in der Farbenpracht herbstlicher Reife und Wende, in der ersterbenden Stille des Winters Schnee und Eis und in der Bangigkeit der todesbringenden Lawine. Das Tal hinan und hinaus sind ihm die Campanile der Dörflein wie gute Wächter und Rufer der Strasse; einander sichtbar. Ehrwürdig verhalten S. Bartolomeo, freier, von barockem Schwung und Format Lavertezzo, zum wehrhaften Castello Marcacci sich fügend, das stolze Brione, aber auch die andern: Corippo, Vogorno, Gerra, Frasco, Sonogno, in Anmut der Lage und im Frieden des Ortes wetteifernd.

« Morgen reise ich ins Valle Verzasca, wo noch nie kein Fremder gewesen » schrieb am 25.Sep-tember 1797 der Berner Syndicator in Locarno, Karl Viktor von Bonstetten, seiner Freundin, der dänischen Dichterin Friederike Brun, und berichtet dann anderen Tages « Da bin ich mit Arm und Bein glücklich aus Verzasca angekommen. Die Wirkung der Alpenluft ist unglaublich, ich sprang wie eine Gemse über die Felsenstrasse an den Abgründen und bin weniger müde als diesen Morgen ». Schon in S. Bartolomeo, « wo wir mit Sehnsucht das Ende der gefährlichen und mühsamen Reise fanden » und wo der Pfarrer « einige Nachrichten von diesem unbekannten Lande » gab, wurde umgekehrt. Diese Beschreibung musste Friederike Brun besonders interessieren, hatte sie doch Bonstetten im Anfange seiner Amtszeit in Locarno besucht und wurde in einer gemeinsamen Bootfahrt auf dem Lago Maggiore am 30. September 1795 nach ihren eigenen Worten nicht müde, « jenen gähnenden, dunklen Felsenrachen, die schauerlich malerische Schlucht ins wild erhabene Tal Verzasca hinauf » zu betrachten.

Im Pathos Rousseauscher Naturschwärmerei, übertreibt von Bonstetten allerdings nicht nur die Wirkung der Verzascaluft ein bisschen, sondern auch das mit dem « wo noch nie kein Fremder gewesen ». Nur 25 Jahre vorher hatte nämlich der Zürcher H. R. Schinz das Tal in viel gründlicherer Art wiederholt besucht, studiert und beschrieben. Was dieser 25jährige protestantische Pfarrer von seinem Freunde, dem katholischen Priester Bustelli in S. Bartolomeo und von seinen dortigen Alpfahrten berichtet, liest sich wie eine kleine Vorausgabe der im Jahre 1946, also fast 200 Jahre später, erschienenen vorzüglichen Dissertation « Das Val Verzasca », von Dr. Max Gschwend:

... den 17. nachmittags und den 18. und 19. September ( 1772 !) waren wir auf der Jagd in den obersten Gipfeln der Gebirge des Verzaskertales... dem schröklich wilden Tal das gegen die Schneegebirge des Gottardo zurückgeht... zweymal übernachteten wir auf dem Heu auf den Alpen...

Hingegen dürfte von Bonstettens « Felsenstrasse an den Abgründen » so ziemlich zugetroffen haben. Erst 1868-73 wurde die 1840 bei Gordola angefangene fahrbare Strasse bis Sonogno geführt und damit das Tal recht eigentlich geöffnet.

Und die Verzasca? Hoch dort oben unter dem Lago Barone quillt kühl und rein ihr Beginnen; aber schon im Vogornesso erprobt sie in Sprung und Schliff ihre wachsende Kraft. Dann sammelt sie, in ihrem Drange zur Tiefe, die Geschwister aus den Seitentälern, und ihrem vereinigten unbändigen Willen haben die Felsbarrieren, die sich ihnen zum Lago maggiore entgegenstellten, schon vor Jahrtausenden weichen müssen. Denn so unschuldig klar die Verzasca in ihren pozzi den Himmel widerspiegeln kann, so wild, drohend, grau und grollend, bricht sie in der Leidenschaft des Sturmes und im grellen Blitz des Gewitters aus, Steg und Brücklein mit sich reissend.

Ja und die Verzaskesen? Diese nomadisierenden, liebenswerten Halbcontadini, Halbalpigiani, die dem Tale Leben und Schicksal geben. Mit Herz und Seele hangen sie am kargen Grunde ihrer Vorfahren, und mit ihrer südlichen Lebhaftigkeit paart sich ein schöner Stolz der Eigenständigkeit und Treue. Allegher, allegher!... und liberi e svizzeri!... Ungenügender Raum und die Unwirtschaftlichkeit der kleinen Betriebe mit ihrer Verstückelung und Verzettelung in Piano, Valle und Monti mussten auch in der Verzasca zu Entvölkerung führen. Der Auswanderer Traum und Ziel bleibt aber die Rückkehr ins paese, die Inschrift auf manchem Brunnen... benefattori californienses... zeugt von heimatlicher Verbundenheit.

Und endlich die stillen, tapferen Frauen des Tales, im Kopftuch und dunkler schlichter Kleidung, auf ihren Knien arbeitend in Feld und Garten, mit der schweren Hacke im Rebberg und der grossen, übervollen Gerla für ihre Kinderschar, den Haushalt, die Land- und Alpwirtschaft und, last but not least, für ihren Mann sorgend? Hoch klinge ihr Lied!

Herb und stark strömt Alpenluft in des Sinnenden Blut und breitet die Schwingen seiner Berges-sehnsucht. Wie wunderbar ist ihm die Schöpfung und ihr Walten. Ja, er muss dem Tale danken, das ihn immer wieder in ihre Ursprünglichkeit führte; wo die helle, unbeschwerte Heimatliebe der Schulkinder von Frasco auch das Ewigkeitslied der jungen Verzasca ist:

Io son natoLà dove nacqui in mezzo ai montiè poesia fra boschi e roccelà tutto è musica fra chiare fonti.tutto è armonia.

E la ginestraPatria di gente e il ciclaminoforte e cortese furon la gioiason le montagne di me piccino.del mio paese.

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