Ausflüge im Clubgebiet
Von E. Hoffmawn.
Seit meinen Walliser Bergfahrten im Jahr 1866 war es mir, eines Umfalles wegen, der mir in jenem Sommer passirte und dem ich ein halb lahmes und steifes Bein zu verdanken habe, nicht mehr vergönnt gewesen unsere herrlichen Berge besuchen zu können und die Serpentine war, wie ich befürchten musste, meine letzte Hochgebirgswanderung gewesen. Mein invalides Bein hinderte mich unbedingt grössere Ausflüge zu unternehmen. Weniger anstrengende Touren, wie Stätzerhorn, Faulhorn etc., welche ohne viel Beschwerde ausgeführt wurden, gaben mir jedoch wieder Hoffnung, es möchte doch vielleicht später wieder im Bergsteigen etwas geleistet werden können und als dieses Jahr der St. Gotthard als Clubgebiet bezeichnet wurde, stand der Entschluss bei mir fest, dort oben wieder einmal mein Heil zu versuchen.
Samstag, 27. Juli reiste ich be.im schönsten Wetter von Basel ab und ein prachtvoller Sommerabend, den ich auf der Fahrt von Luzern nach Flüelen genoss,
schien mir auch für die Folge Reisewetter zu versprechen. Ein Versprechen, das leider nicht gehalten wurde; denn dichter Nebel begleitete mich die Gotthardstrasse hinauf bis zum freundlichen Hôtel Prosa, das ich Sonntag Nachmittags erreichte. Nebel und Schnee vereitelten auch meinen ersten kleinen Ausflug zum Sella-See, den ich Montag Morgens in Begleitung des Führers Franz Senn unternahm und auch mein Bruder Albert, der an diesem Tage unerwarteterweise nach langen Nebel- und Regenfahrten im Hôtel Prosa bei Freund Lombardi eintraf, wusste vieles von der Tücke der Witterung zu erzählen. Eine Entschädigung für viele trübe Trage stand uns beiden jedoch unmittelbar bevor.
Mit wundervoller Klarheit brach der folgende Morgen an. Sofort wurde ein Besuch des Pizzo Centrale beschlossen. Ich muss offen gestehen, dass mir ein wenig bangte, meine Besteigungen gerade mit einem der höchsten Berge der Gotthardgruppe anzufangen, ohne mich vorher, wie ich im Sinne gehabt hatte, an niedrigeren en wenig einzulaufen. Liebe überwindet Alles, sagt das Sprichwort; desshalb hoffte ich auch, dass meine Liebe zu unsern herrlichen Bergen mir auch heute über allfällige Schwierigkeiten und Mühsale hinweg helfen werde und mit freudig hoffnungsvollem Gemüthe trat ich den Weg an. Glücklich, wenn auch etwas langsam, rückte man dem ersehnten Ziele zu Leibe.
Den Weg auf den Pizzo Centrale zu beschreiben, halte ich für vollständig überflüssig; er ist schon von so vielen Touristen bestiegen und auch von mehreren beschrieben worden, dass er als allgemein bekannt an-
Schweizer Alpenclub.10
gesehen werden darf. Nur die Bemerkung sei mir gestattet, dass nicht bald ein Berg so günstig gelegen ist, wie dieser. Er macht seinem Namen alle Ehre und steht in der That fast im Mittelpunkt des Schweizer Alpen-Cyclus. Die verhältnissmässig leichte Besteigung ladet zu fleissigem Besuche ein und lohnt die kleine Mühe überreich. Ein l1/^ stündiger Aufenthalt erlaubte uns bei dem glänzenden Wetter das grossartige Panorama genau zu studiren und uns in allen Einzelnheiten einzuprägen.
Als sich nach und nach Wolken um die Gipfel zu legen begannen, verliessen wir die Spitze. Bruder Albert besuchte im Vorbeigehen noch die Prosa; ich hingegen stieg zum Sellasee hinunter, um das ThalT das wir heute Morgen von hoch oben herab betrachtet hatten, auch in der Nähe kennen zu lernen. Es fiel mir dabei, obgleich nicht Botaniker, der Mangel an vielen sonst getroffenen und reichlich vorkommenden Alpenpflanzen auf; man hätte doch an dieser gegen Süden gelegenen Wand eine üppigere Alpenflora erwarten sollen. Da sieht es auf den Bergen und Alpen im Wallis denn doch anders aus.
Als ob es den Wettergott gereut hätte, die Sonne während einiger Stunden haben glänzen zu lassen, trübte sich der Himmel gegen Abend wieder; und der folgende Tag brachte von Neuem schlechtes Wetter.
Es war der Tag, an welchem mein Bruder seine Nebelfahrt um die Sella-Hütte herum ausführte, um am Abend, ein zweiter irrfahrender Ulysses, nach ausgestandenen mächtigen Strapatzen und Widerwärtig- keiten in dem kurz zuvor verlassenen Hafen wieder einzulaufen.
Der helle Morgen des nächsten Tages liess keinen von uns beiden rasten. Albert brach nach der Unteralp und Sedrun auf; ich aber wollte unter Senn's Führung das wenig gekannte Ywerberhorn besuchen.
Etwa eine kleine Viertelstunde Weges wird die Poststrasse benützt; dann wendet man sich westlich über sumpfige Wiesen nach dem Lucendrosee. Dieser zwischen den Abhängen der Fibbia und der Ywerberhörner eingeschlossene, ziemlich fischreiche See, ist eine wahre Perle eines Alpensees. Der in den letzten Tagen gefallene Regen hatte seinen Wasserspiegel über einen Fuss hoch gehoben und waren wir desshalb nach kurzer Wanderung genöthigt, die rechts steil in denselben abfallenden Wände jetzt schon anzusteigen, während man gewöhnlich bis an 's Ende des See's geht und erst dort zu steigen beginnt.
Der heutige Ausflug war überhaupt nicht nur eine Land-, sondern auch eine Wasserpartie; denn aus oben erwähntem Grunde rieselte und sprudelte es überall aus dem Boden heraus, dass man oft, wie GötheV Zauberlehrling, nicht wusste wohin sieh wenden vor lauter Wasser. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass vom Augenblicke des Verlassen* der Landstrasse bis zur Wiedergewinnung derselben, wir, mit Ausnahme des Aufenthaltes auf dem Gipfel, nicht eine Stunde trockenen Boden unter den Fussent hatten.
Ist der erste Absturz bezwungen, so steigt man stets, wenn auch viel weniger steilT über Fels oder magere Grasflecke, zu einer am Fusse des Ywerberhornes gelegenen kraterartigen Einsenkung an.
Beutlich zeigt sich hier, dass, ehe das Wasser sich einen Ausfluss in den Fels genagt hatte, das ganze Becken ein See, etwa von der Grosse des jetzigen Lucendrosees, gewesen war. Als Ueberreste desselben muss man die jetzt noch bestehenden drei Seelein, von denen eines von ziemlicher Grosse ist, ansehen.
Was überhaupt jedem Besucher dieses Gebirges auffallen muss, ist der grosse Wasserreichthuni desselben. Wer die Strecke vom Ywerberhorn bis zum Piz Orsino, also wenige Stunden Weges, begeht, berührt dabei unmittelbar oder sieht in nächster Nähe nicht weniger als acht See'n oder Seelem, so dass, rechnet man hinzu noch die sieben um das Hospiz herum liegenden, in der Höhe zwischen 7—9000 Fuss in einem Umkreise von kaum fünf Stunden 15 See'n angetroffen werden; eine in den Alpen in ihrer Art vielleicht einzig dastehende Erscheinung. Es rieselt und sprudelt aber auch allerorts über die Felsen herab, so dass man sich nicht mehr wundert, in diesem Reviere die Quellen vier grösser Ströme Europa's zu wissen. Dass auch Gletscher seiner Zeit ihre Wirkung hier ausübten, bewiesen mir die hoch über den See'n abgerundeten und polirten Felsmassen.
Schon nach Erreichung der obersten Terrassen hatte sich der Himmel verdüstert; Nebel waren von allen Seiten aufgestiegen und es hatte erst fein, dann stärker zu schneien begonnen. Auf dem Sattel zwischen Ywerberhorn und Piz d' Orsirora angekommen, vermehrte sich Schnee und Nebel immer mehr und besonders das zu besteigende Ywerberhorn war vollständig in Wolken gehüllt.
Der nördlich davon liegende, etwa 80 Meter niedrigere Piz d' Orsirora blieb jedoch davon frei und so beschlossen wir, uns vorläufig diesem zuzuwenden, da wir auf seinem Gipfel wenigstens die Aussicht auf die nähere Umgebung hatten und bei allfällig aufheiterndem Wetter das Ywerberhorn noch immer leicht gewonnen werden konnte.
In kurzer Zeit war der Gipfel erreicht. Er bildet einen sanft gewölbten Rücken, der mit Enzianen überwachsen ist und wie die meisten Gotthardgipfel aus einem Haufen bunt durch einander geworfener, grösser Trümmergesteine besteht.
Die Sonne schien zu versuchen, die dichte Schnee-und Nebelhülle der höheren Region mit dem Beistände eines schärfen Windes zu durchbrechen und liess uns Theile der Furkastrasse und des Griesgletschers, sowie andrerseits Blauberg und Pizzo Centrale erkennen; es waren diess aber bloss flüchtig vor den Augen vorüberziehende Nebelbilder, welche, kaum gesehen, eben so schnell wieder verschwanden. " Die nächste Umgebung war wild und öde: Fels und Trümmergestein in gross-artigst chaotischem Durcheinander und nur hie und da ein melancholischer Bergsee; es ist ein Anblick, wie er mir, was schreckliche, trostlose Verödung anbetrifft, noch nirgends in den Alpen vorgekommen. Ringsum kein Zeichen des Lebens, kein Laut; eine Leere und Stille, als wäre man weit, weit entfernt von dem Treiben und Jagen der Menschen. Nur ein Blick mahnt uns, dass dieselben sogar bis in die Nähe dieser Einöde vor- gedrungen sind;
durch den sich lüftenden Nebel erblicken wir das trauliche Hôtel Prosa und die vorbei-führende Strasse und selbst den eben anlangenden Postwagen und das Gewimmel der aus- und einsteigenden Reisenden vermögen wir zu erkennen.
Als die Hofinung auf eine Besserung des Wetters ganz geschwunden, brachen wir endlich, nach etwa zweistündigem Warten bei fortwährendem Schneefall auf und stiegen über wüste Trümmerhalden und sumpfige Wiesen wieder gegen die Poststrasse, die etwas oberhalb des Rodunthauses erreicht wurde, hinunter.
Zur Besteigung des Orsirora oder des Ywerberhornes reichen drei Stunden gemüthlichen Marsches hin; ein angenehmer Morgenspaziergang für einen rüstigen Clubisten. Hat man nicht im Sinne, zu Mittag nach dem Hôtel zurück zu kehren, so kann die Spitze des nahe liegenden Piz Orsino noch bequem besucht werden.
Abends gestaltete sich das Wetter immer schlechter und ging Nachts in dichtes Schneegestöber und heulenden Nordsturm über. Wie mag es im Winter oft da oben wirthen, wenn, schon im Hochsommer die Atmosphäre so in Aufruhr gerathen kann?
Das Thermometer zeigte folgenden Tages, den 4. August, zwei Grad unter Eis; Schnee und Sturm rasten in ununterbrochenem Wettlauf über den Pass. Der Morgen des Samstags war ähnlich und erst gegen Abend hellte sich das Wetter ein wenig auf.
Senn hatte sich bei unserm nasskalten Donnerstags-Ausflug erkältet, hatte zwar am Freitag noch seine Hausgeschäfte wie gewöhnlich besorgt, war aber am Abend durch ein sich einstellendes Fieber genöthigt gewesen, sich schleunigst zu Bette zu legen.
Als daher der Sonntag mit allem Glanz eines wunderherrlichen Sommermorgens anbrach und ich denselben zu einem Gange auf die Prosa benützen wollte, konnte er mich nicht begleiten und war ich desshalb genöthigt den jungen Toni Gamma, der auch als Knecht bei Herrn Lombardi dient, mehr als Begleiter, denn als Führer mitzunehmen.
Der Weg bis in die Nähe der Prosa Hütte ist durchaus der nämliche wie auf den Pizzo Centrale. Dort aber wendet man sich links neben der Hütte vorbei und gelangt, immer ziemlich steil über magere " Weiden ansteigend, in einer kleinen halben Stunde auf den Sattel zwischen Prosa und Blauberg, wo dann in weiteren zehn Minuten über einen mehr oder weniger breiten Felskamm, für schwindelfreie und gutbefusste Gänger durchaus ungefährlich, der Gipfel erreicht
Das Wetter war wie gesagt prachtvoll, die Luft warm und so ruhig, dass man bequem eine Cigarre anstecken und das Heim'sche Panorama vom Centrale, vor sich auf einen Stein gelegt, mit aller Musse durchmustern konnte.
In zwei Stunden hatte ich die Spitze vom Hôtel aus erreicht, ein Zeichen, dass ein Gänger mit gesunden Beinen dasselbe wohl leicht in l^a Stunden erklimmen könnte.
Die Rundsicht gibt derjenigen auf dem Centrale nicht viel nach; ein kleiner, aber unwichtiger Theil Graubündner Berge wird zwar von diesem verdeckt,, die erhebende Ansicht jedoch auf Urner, Berner und Tessiner Gebirge ist durchaus ungeschmälert.
Der Anblick aller dieser Gipfel war heute aber auch wirklich einzig schön; denn nicht nur hatten die mit ewigem Schnee bedeckten durch die jüngsten atmosphärischen Niederschläge ein neublinkendes Gewand erhalten; auch die niedrigeren Kuppen waren dadurch wie überzuckert worden.
Da die Mühe der Besteigung der Prosa eine viel geringere als die des Centrale und für einen einigermassen rüstigen Berggänger quasi Null ist, der Herabstieg nach dem Hôtel sich für einen solchen auch leicht in 5/4 Stunden bewerkstelligen lässt; so würde die Partie mit Bequemlichkeit auch für solche Touristen auszuführen sein, welche Nachmittags noch einige Stunden nach der einen oder andern Seite weiter zu marschiren im Sinne hätten.
Auch ich sass bereits um 12 Uhr am Mittagessen. und benützte nachher den schönen Tag noch zu einem Spaziergang gegen den Lucendrosee.
Das Wetter schien definitiv gut bleiben zu wollen; doch glaubte ich mir nicht so viel zutrauen zu dürfen, schon am nächsten Tage die Partie auf die Fibbia und Piz Lucendro unternehmen zu können. Als aber der nächste Morgen gar so hell erglänzte;und der Wiederschein der auf der Fibbia strahlenden Sonne verlockend in mein Zimmer leuchtete, da liess es mich nicht länger ruhig in meinem Bette und ich beschloss, den Gang zu wagen.
Senn, der wieder hergestellt, und Toni waren bald gerüstet und nach Kurzem klommen wir an den Felsen und Schneefeldern der Fibbia bergan.
Nicht bald ist mir die Besteigung eines Berges so lästig wie diese geworden. Bis man einmal in der muldenförmigen Vertiefung am Anfange der Valletta di San Gotthardo angekommen, bietet der Weg viel Unangenehmes. Sehr steile Schneefeldei*, die man überschreiten und hohe Felsblöcke die man übersteigen muss, machen diesen Gang zu einem wenig Erfreu-lichen und mit grösser Befriedigung begrüsst man das obere Gletscherthälchen, in welcher der weniger steile Anstieg auf angenehmer Unterlage als wahre Wohlthat erscheint. Der Gipfel wird von hier aus in einer kleinen halben Stunde gewonnen.
Eine detaillirte Beschreibung dieser Bergfahrt findet sich im IV. Bande des Clubbuches. In Bezug auf die Aussicht sei hier bemerkt, dass dieselbe mit derjenigen der viel leichter zu besteigenden Prosa bei Weitem nicht zu concurriren vermag, da der schönste Theil derselben durch den viel zu nahe liegenden 200 Meter höheren Piz Lucendro und den davon auslaufenden Grat der Ywerberhörner stellenweise verdeckt wird.
Für Strahler hingegen ist die Fibbia ein wahres Eldorado; es glitzert und flimmert dort oben, dass man ordentlich versucht wird, sich alle Augenblicke zu bücken, um einen hellglänzenden Crystall aufzuheben. Berühmt ist die Fibbia hauptsächlich wegen ihrer prachtvollen Eisenrosen.
Nach kurzem Aufenthalt schritten wir der gegen den Lucendropass führenden Einsattelung zu. Der Absturz gegen das Lucendrothal ist aber-, wenn auch nicht hoch, doch viel zu jähj als dass man direkt niedersteigen könnte.
Man muss sich desshalb gegen die linke Seite des Sattels halten, wo eine von dem westlichsten Ausläufer der Fibbia heruntergestürzte Felsmasse einen sejar mühseligen Absteig gestattet.
Einmal über diese Trümmerhalde hinunter, ist der Weg bis an den Fuss des Lucendro kurz und leicht. Ein Halt von einigen Minuten musste genügen, um Beine und Magen ein wenig zu erfrischen, worauf sofort wieder aufgebrochen wurde.
Eine kleine Geröllhalde trennt uns noch vom Gletscher. Sie liegt bald hinter uns und nun beginnt ein endloser Zickzackmarsch über das prachtvolle, silberweise, bis zur Spitze sich hinziehende Schneefeld. Der untere Theil desselben soll gewöhnlich arg verschrundet sein, dieses Jahr lag aber, nach Aussage Senn's, bei 15 Fuss Schnee über den Spalten. Bis etwa 10 Minuten unterhalb des Gipfels steigt man so gemüthlich an; dann erhebt sich aber die Schneewand plötzlich so steil, dass man sich rechts auf den schmalen, zur Spitze führenden Felsgrat begeben muss. Die wild durcheinander geworfenen, meist sehr grossen Blöcke des Grates waren natürlich auch mit Schnee bedeckt, welcher die Zwischenräume zwischen denselben trügerisch ausfüllte, wodurch man oft unversehens einsinkend mit Bein oder Fuss in der entstandenen Oeffnung stecken blieb. Es bildete diese letzte, böse Passage einen merkwürdigen Contrast gegen das bisherige so leichte Ansteigen und schien es in der That, als ob
der Berg die Herrlichkeiten, die er oben bietet, noch hartnäckig streitig machen wollte.
Dieser unangenehme Gang wurde endlich aber auch ohne Unfall überwunden und der Anblick eines majestätischen Panorama's belohnte überreich unsere Anstrengungen.
Fast senkrecht stürzt der Berg einerseits gegen die Alp Cavanna im Bedrettothal, anderseits auf die Wyttenwasseralp ab, während das so eben überschrittene breite Schneefeld seine zwei andern Seiten einhüllt. Der Gipfel selbst ist oben ziemlich flach und bietet Raum für etwa acht Personen.
Man dominirt das Bedrettothal mit seinen schönen Alpen und dunkeln Tannwäldern vollständig und überblickt den Nufenen-, Giacomo- und Cristallinapass. Ins Livinenthal sieht man weit hinab, während auf der andern Seite die Furkastrasse mit dem Urserenthal bis zur Fuchsegg hinauf dem Beschauer zu Fussen liegt.
Den Glanzpunkt der Aussicht bildet unbedingt die gerade gegenüberliegende prachtvolle Dammagruppe, welche an überwältigender Pracht nichts gegen sich aufkommen lässt. Doch auch die Gipfel des Pesciora, des Wyttenwasserstockes und des Leckihorns, sowie der Piz Rotondo mit ihren grossartigen Schneefeldern drängen sich heran und suchen den Blick des Besuchers auf sich zu lenken.
Wie der Piz Rotondo zu seinem Namen gekommen, kann ich nicht begreifen. Es ist ein langer, schwarzer Felsgrat, in der Art der Lauteraarhörner, dem in der Mitte eine schmale, spitze Pyramide aufsitzt * ).
Yon Berner- und Walliserbergen ist etwas Weniges durch die eben erwähnten Spitzen verdeckt; doch wird der Lucendro, der Grossartigkeit der näheren Umgebung und *des freundlichen Anblickes der Thallandschaft wegen, unstreitig einmal, wenn er besser bekannt ist, ein gefährlicher Nebenbuhler des Centrale werden.
Nach zwei Stunden Aufenthaltes bei vollständig ruhiger und sehr warmer Luft wurde wieder aufgebrochen und durch einige nette Rutschpartie'n der Abstieg nach dem Lucendropasse sehr befördert.
Der Weg durch das Lucendrothal ist ziemlich einförmig; Schnee- und Trümmerfelder wechseln ununterbrochen mit einander ab und auch die umgebenden Berge zeigen wenig interessante Formen. Man habe auf diesem Gange wohl Acht, bei Zeiten auf das linke Ufer des Baches zu kommen, da er an warmen Sommertagen, durch die vielen herniederrieselnden Wässerlein geschwellt, weiter unten nur schwierig zu überschreiten ist. Eine kurze Strecke vor seiner Einmündung in den See bildet er noch einen kleinen, hübschen Fall und hier lagerten wir uns um den Blick an dem hier erweiterten Thal mit dem freundlichen See und den uns umgebenden stolzen Bergeshäuptern zu weiden.
Der Heimmarsch dem See entlang über die Wiesen und die Landstrasse bildete bei der niedergehenden
* ) Wahrscheinlich kommt der Name eben von dieser thurmartigen abgerundeten Pyramide her.
Anmerkung der Redaktion.
und alles mit den feurigsten Tinten übergiessenden Sonne noch einen angenehmen Schluss zu dem höchst gelungenen und genussreichen Tage.
Im Hôtel hatte ich das Vergnügen zwei bewährte Clubveteranen begrüssen zu können: den allverehrten Nestor der Zürchersektion, Hrn. Professor Ulrich, der in den nächsten Tagen noch mit jugendlicher Rüstigkeit den Centrale und den Lucendro bezwang, und den bekannten trefflichen Gebirgszeichner Hrn. Müller-Wegmann.
Da nun einmal Franz Senn für die nächsten Tage von Hrn. Prof. Ulrich in Anspruch genommen wurde und anderseits Herr Lombardi mit der Heuernte beginnen wollte, so blieb mir nichts anderes übrig, als die letzten paar Tage in der Umgebung des Hôtels umherzustreifen uud die hier so grossartig dargelegten Spuren früherer Gletscher zu beobachten, nebenbei mich an dem bunten Gewimmel der Reisenden ergötzend, unter denen besonders der Engländer niederen Schlages, species snob, sich in zahlreichen wohlerhaltenen Exemplaren vorfand. Samstag, den 12. August endlich sagte ich dem Gotthard Valet um nach kurzer Reise die reine Bergluft wieder mit der nichts weniger als reinen Laboratoriumsatmosphäre zu vertauschen.
An Gesteinen brachte ich sowohl für unsere Club-sammlung als auch für die Öffentliche im Museum mit:
1.Granit mit grobkörnigem Quarz, vom Gipfel der Prosa.
2. Granit mit grobkörnigem Quarz, vom Gipfel der Fibbia.
3. Granit mit grobkörnigem Quarz und mit aufsitzenden Bergkrystallen, von der Fibbia.
4.Quarzitgneiss mit körnigem Quarz, circa 100 Fuss über der Prosahütte.
5. Quarzitgneiss, grobkörnig, vom Gipfel des Orsirora.
6. Weisser Quarz, wahrscheinlich gangförmig auftretend, unterhalb des Ywerberhornes.
7. Hornblendeschiefer, glimmerhaltig, Gipfel des Pizzo Centrale.
8. Quarzitgneiss mit Magneteisen und kleinen Granaten, vom Gipfel des Piz Lucendro.
Diese Gesteine wurden gütigst von Herrn Professor Albrecht Müller bestimmt.