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Bergfahrten auf Island

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Von Rudolf Leutelt. 1. Bardar Gnypa, 2123 m.

In Reykjavik, Islands emporblühender Hauptstadt, lebt der Maler und Bildhauer Gudmundur Einarson. Er ist Islands bester Bergsteiger. Wohl haben die Isländer Verständnis und Liebe für die landschaftlichen Schönheiten ihrer Heimat, aber Bergsteiger sind sie nicht. Der Hvannadals Hnukur, der jahrhundertelang als Islands höchster Berg galt und berühmt ist wegen seiner Schönheit, wurde höchst selten bestiegen und hauptsächlich von Nichtisländern. Weite Landstrecken sind unerforscht, und die einigermassen bekannten Gegenden abseits des bebauten Gebietes sind von Dänen und Deutschen, Engländern, Schweden und Holländern erforscht worden, aber kaum von Einheimischen. Erst in den letzten Jahren werden die isländischen Bergsteiger und Wissenschaftler eifersüchtig auf die Erschliesser ihres Landes und schlagen damit gelegentlich über die Stränge.

Gudmundur Einarson musste sich Bergkameraden unter den Bergsteigern des Kontinents suchen. Lange Jahre zog er durch alle Landstriche Islands. Tief im Innern aber bewahrte er das Wissen um etwas Besonderes: um Islands höchsten Berg.

Nur einer noch, ausser ihm, wusste darum: der junge Geologe Bardarson. Mit ihm hatte er einst aus weiter Ferne die Silberkuppel aufsteigen sehen, und sie hatten sich gesagt, dieser Berg müsse höher sein als Hvannadals Hnukur. Aber Bardarson ist jung gestorben und nahm das Wissen vom Berge mit ins Grab. Gudmundur Einarson aber umkreiste den Berg. Er stiess von allen Seiten gegen ihn vor, durch ödadahraun, die grösste Lavawüste der Welt, in wochenlangen Zügen, über Vatna Jökull, die grösste Eiswüste Europas, in schwierigen Expeditionen, von Vonarskard her und von Fiskivötn, den weltabgelegenen See- und Sumpfgebieten, den furchtbaren Öden, in die nur in seltenen Jahren Forscher vordringen.

Den Berg selbst aber versuchte Gudmundur nicht. Den sparte er auf und sprach nie von ihm. Er war ihm wie ein Kleinod, zu kostbar, es mit Händen zu greifen. Er spielte mit ihm nur von ferne.

Er brauchte auch keine Angst zu haben um sein Kleinod. Es lag im Nordwesten des Inlandeises. In grauen, versunkenen Jahrhunderten, als die Eisfläche noch nicht so gross war, da sollen, so berichten die alten Chroniken, die Bauern öfter über den Gletscher zwischen Südland und Nordland gezogen sein. Aber dann wuchs der Gletscher, vulkanische Kräfte regten sich unter ihm und zerbrachen die Eiskruste und zerschmetterten sie und gössen geschmolzene Gletscher über das Land, alles verwüstend, und niemand wagte mehr, den Gletscher zu betreten.

In jüngeren Zeiten wurden dann die östlichen Teile des Gletschers von einigen wenigen Expeditionen erforscht. Den westlichen Teil aber hat nur ein einziger besucht, der Schotte Watts im Jahre 1875. Aber er hatte schlechtes, unsichtiges Wetter. Er hat keinerlei Kunde vom grossen Berge gebracht.

Die Expeditionen nach der Mitte und dem Osten des Gletschers Vatna Jökull waren spärlich. Über alle war Gudmundur Einarson unterrichtet, an mehreren nahm er selbst teil. Er wusste, dass sein Berg fernab in unerreichbarer Einsamkeit läge.

Bis dann die Nachricht kam. Die Nachricht, dass eine Expedition im Sommer 1935 den westlichen Vatna Jökull besuchen werde. Diese Expedition musste, ob sie es beabsichtigte oder nicht, auf den grossen Berg stossen. Gudmundur Einarson aber wollte sein ureigenstes Eigentum nicht anderen überlassen, und so entschloss er sich, selbst eine Expedition durchzuführen.

In Island fand er niemanden. Langsam erst steigt die Zeit herauf, in der Isländer Bergsteiger werden. Da wandte er sich an ausländische Alpinisten. Er hatte in Island Dr. Pollitzer, einen Italiener aus Triest, kennen gelernt, der ihm versprach, ein paar tüchtige Bergsteiger nach Island zu bringen. Inzwischen bereitete Einarson die Expedition vor. Er organisierte alles in erfahrener und musterhafter Weise. Pollitzer sorgte für andre Dinge, die in Island nicht so gut herzustellen waren: vor allem Schlitten. Ende April vereinbarten wir, dass wir zu viert, Einarson, Pollitzer, ein Tscheche und ich, die Expedition unternehmen wollten.

Dann kam Einarsons Telegramm: die andre Expedition reist bereits nach Island. Pollitzer und ich setzten uns kurzerhand in den Zug, der Tscheche konnte nicht so früh mitkommen, wir hatten ja ursprünglich mit Juli gerechnet und reisten Anfang Mai nach Island. Es war unser Glück, dass wir die gesamte Ausrüstung schon besorgt hatten und in wenigen Tagen alles packen konnten.

Am 16. Mai 1935 kamen wir in Beykjavik an. Die Konkurrenz, drei Wiener Wissenschaftler, zog bereits vom Norden Islands südwärts gegen den grossen Gletscher. Und nun kam der grosse Schlag: Gudmundur Einarson war an einer akuten Mandelentzündung erkrankt, eben operiert und konnte kaum gehen, geschweige denn mitkommen. Wir aber hatten keinen Tag zu verlieren, war doch das Bennen schon halb verloren. Zu zweit konnten wir es nicht wagen, zumal Pollitzer als alter Herr körperlich nicht so leistungsfähig war. Gudmundur wusste Bat: in Islands nördlicher Hauptstadt, Akureyri, war eben zu Studienzwecken ein junger Deutscher, Bergsteiger und auch schon einmal auf Expedition am Vatna Jökull, der käme sicher gerne mit. Wir telegraphierten. Wann würde wohl das nächste Schiff von Akureyri hieher kommen? Am selben Tag, als Schmid das Telegramm erhielt, erwischte er eben noch einen Dampfer, und zwei Tage später landete er in Beykjavik. Dienstag, den 21. Mai, konnten wir aufbrechen.

Karl Schmid aus Laupheim bei Stuttgart, eben fertig gewordener Geograph seines Zeichens, das war also unser Genosse. Keiner von uns kannte ihn. Wie würde das gehen? Wer je auf Expedition war, der kennt die Schwierigkeiten. Der weiss, wie schwer man oft mit Mitmenschen auskommt, wenn man wochen- und monatelang auf ihren alleinigen Umgang angewiesen Die Alpen — 1937 — Les Alpes.12 ist. Dass mir der Zufall diesen Karle Schmid in die Wege schickte, das war eine freundliche Fügung. Wir sind sozusagen siamesische Zwillinge geworden. Wir haben uns oft furchtbar beschimpft, aber mit dem besseren Wissen, dass wir unzertrennlich sind. Es gibt doch eine ideale Expeditionskameradschaft, auch wenn es ein Vierteljahr dauert, die fern von allen Nützlichkeitsgedanken ist.

A propos Nützlichkeitsgedanken. Ich will doch ganz prosaisch hier einflechten, ehe wir losfahren, dass unsere Expeditionskameradschaft eine Wahlkameradschaft ohne Kommandostelle ist. Wir zahlen uns alles selbst, dreinreden kann auch niemand, weil uns auch niemand etwas dazubezahlt hat. Was man uns geschenkt hat, hat man uns aus Nettigkeit geschenkt, und wir brauchen dafür nicht hier, wo es stören würde, Reklamedank abzustatten.

Es ist noch so früh im Jahre, dass unsre Autos weit ins Südland vorstossen können. Noch ist die Schneeschmelze unmerkbar, noch sind die Flüsse und Sümpfe klein, und wir können über sie weg. Bis Vik gibt es Brücken. Dann stossen wir weiter vor und kommen nach und nach bis Kalfa-fell. Damit haben wir einige Tage und viel Geld für Reittiere und Lasttiere gespart.

Von Kalfafell weg brachte uns der Bauer Stefan mit drei seiner Nachbarn landeinwärts. Wir waren vier berittene Isländer und drei berittene Expeditionisten, dazu acht Packpferde. Karle Schmid betätigte sich als Führer. Er war hier im Vorjahre schon durchgezogen. Er behauptet, man müsse weiter östlich vordringen, damit käme man viel nördlicher an den Gletscher heran und könne so seine Spaltenzone vermeiden und Tage ersparen. Die Einheimischen glauben es nicht, aber Schmid gibt nicht nach. Schliesslich gelangen wir an den Fuss des roten Kraters, des in drei konzentrischen Wällen sich aufbauenden Hufeisenkraters, der isoliert zwischen den zwei Gletscherzungen, dem schwarzen Vulkan Haugangur und dem gelben Vulkan Laugasker, rot aufragt. Schmid hat recht behalten. Wir haben Zeit und Mühe gespart. Von hier gehen die Isländer mit allen Pferden zurück, wir drei bleiben allein und schlagen unser Basislager auf.

Nun müsste ich eigentlich von der Ersteigung der Bardar Gnypa erzählen. Aber das will ich kurz machen, weil alles Bisherige eigentlich das Wichtige war. Alles Folgende ging besser, als wir es je zu träumen gewagt hatten. Wir hatten nicht, wie alle anderen Expeditionen, Schneestürme zu überstehen, die die Zelte zerfetzten, Nebel, der alle Orientierung nahm, weil im tätigen Vulkangebiet die Bussolen versagen, Kälte, die uns mit dem Erfrierungstod ringen liess, Hunger, der unsere letzte Tatkraft lähmte und uns zwang, um das nackte Leben zu retten, alles kostbare Instrumentar und die mühsam gesammelten Steine, Schlitten, Zelt und Ausrüstung zurückzulassen. Wir haben auch nicht, wegen des unergründlich weichen Schnees, nur Tagesdurch-schnittsleistungen von zwei Kilometer erzielt und mussten auch nicht die Schlitten durch Spaltenlabyrinthe und über Aschenfelder zerren. Nein.

Wir hatten meist gutes Wetter. Am Tage, während der Schnee weich war, schliefen wir. In der Nacht, auf stahlhartem Firn, stets auf Ski, den 200 kg schweren Schlitten hinterherziehend, liefen wir, ohne die beissende Kälte zu spüren. Gegen die Stürme vergruben wir, während wir schliefen, die Zelte tief im Firn. Sechs Tage waren wir unterwegs bis Bardar Gnypa. Ich darf nicht vergessen, dass in den ersten Tagen das Wetter ein wenig streikte; aber die kritischen Tage waren wolkenlos. Einen Tag hatten wir darunter, an dem wir 26,3 km weit vorwärts kamen. Das ist möglicherweise ein Weltrekord gewesen für Inlandeismärsche mit selbst gezogenen Schlitten.

Über die endlose, flache Eiswüste hatte der Weg nordwärts geführt, bald hatten wir die ferne weisse Kuppe erkannt und steuerten auf sie zu. Dass man sich auch als « Gewiegter » mit Entfernungen irren kann, sahen wir beim letzten Gipfelsturm. Wir glaubten uns etwa eine Stunde vor dem Gipfel, schlugen das Lager und liefen gepäcklos weiter. Wir sind dann sechs Stunden in grossem, gepäcklosem Langlauftempo unterwegs gewesen.

Um 201/2 Uhr waren wir oben. Eine sanfte Kuppe. Endlos zieht ostwärts der Gletscher. Westwärts führen steile Abstürze hinunter nach Vonarskard. Aber um das zu sehen, muss man von der Gipfelkalotte ein Stück westwärts absteigen. Hier oben ist nur Eisfläche zu sehen. Nur in weiter Ferne, am Horizont, unterscheiden wir allerlei: die grossen Schildvulkane und Vulkankegelreihen im Norden und Süden, unendlich ferne am Südrand des Gletschers das Massiv des Öraefa, eisgepanzert und sonnebeschienen, im Westen das Hochland des Hofsjökull und im Südwesten die Silbersee-landschaft der Fiskivötn. Weit nordwärts zieht sich braunschwarz und vulkanübersät die Lavawüste Ödadahraun.

Wir haben auf dem höchsten Punkte eine Flagge gehisst. Ein 1 Meter langes dünnes Bambusstäbchen und ein kleiner isländischer Wimpel dran. Wir haben uns die Hände gedrückt und sind eine Zeitlang dagestanden. Dann haben wir in die Runde gesehen und dann gezeichnet und notiert und gemessen und photographiert. Die später ausgerechneten und korrigierten Ablesungen ergaben 2122,8 m Höhe. Damit ist er 3,8 m höher als der Hvannadals Hnukur, der sich mit dem zweiten Rang bescheiden muss.

Bardar Gnypa, so wollte Gudmundur Einarson den Berg taufen. Wir machen von unserem Taufrechte Gebrauch. Bardar Gnypa, wie Gudmundur es wollte. Gnypa, das heisst Berg, Gipfel. Bardar, so hiess der isländische Bauer, der vor Jahrhunderten als erster den Pass Vonarskard am Fusse des Berges mit Herde und Hausrat überschritt, um neues Land zu suchen. Und ein Anklang liegt in diesem Namen auch an den Geologen Bardarson, den jungverstorbenen Mitwisser um den unerreichten Berg. Ich glaube, wir haben alle oben an Gudmundur und Bardarson gedacht. Es war beiden nicht gegönnt. Aber wenigstens hat eine von Gudmundur ausgerüstete und organisierte Gruppe den Gipfel erreicht, denn wir waren die ersten hier oben.

Damit muss ich meine Bardaraufzeichnung abschliessen, denn vom Gipfel weg begaben wir uns nicht auf den Rückweg, sondern bogen vom Lager weg ostwärts ab und begannen den Versuch der ersten Durchquerung des westlichen Vatna Jökull von West nach Ost.

2. Hvannadals Hnukur, 2119 m.

Wir hatten gelegentlich einer Durchquerung des westlichen Vatna Jökull im Frühjahr 1935 den Berg Bardar Gnypa aufgefunden und bestiegen, und unsre Messungen hatten ergeben, dass er, mit seinen 2122,8 m Islands höchster Berg ist. Damit war Hvannadals Hnukur, der Berg im öraefa-massiv im südlichen Vatna Jökull, Islands zweithöchster geworden. Diesen entthronten Monarchen wollten wir besuchen.

Von einer Expedition nach der Ostseite des Vatna Jökull und ihren Bergen Ende Juli 1935 zurückkommend, ritten wir zwischen dem Vatna Jökull und dem Meer durch den Sandur. Wir waren zu zweit, der isländische Maler, Bildhauer und Alpinist Gudmundur Einarson und ich.

Die Sandur genannte Zone zwischen Meer und Gletscher, deren Breite von 200 Meter bis zu etlichen Kilometer schwankt, ist etwas vom Schönsten, was es an Reisewegen überhaupt gibt. Es ist eine eigentümliche Landschaft. Landeinwärts stehen als Pfeiler die schwarzen Berge, aufgebaut aus vulkanischen Gesteinen: waagrecht gelagerte Basaltbänke, die oft aus lauter senkrecht stehenden, mehrere Meter hohen kantigen Basaltsäulen gebildet sind. Zwischen den blauschwarzen Bergpfeilern bricht wie aus Toren in breiten weissblauen Strömen das Eis hervor. Über die Gletscherabbrüche sehen wir hinauf zu einzelnen Felsbergen mit abenteuerlichen Formen, Inseln im Eise. Zwischen ihnen und hinter ihnen lagert hoch wie auf Wolken die endlose Fläche des Inlandeises, etwa 1600 m hoch. Vor den Gletschern liegt das Sandland. Weite Zonen sind von Steppe überzogen, Weideflachen, die oft meilenweit von weissem Wollgras bedeckt sind. Dann finden sich weite Strecken reinen und feinen Sandes. Das ist meist dort, wo Gletscher und Meer auf wenige Kilometer aneinanderrücken. Der Wind hat kleine Dünen geformt, Barchane und Rippelmarken, da und dort liegt, vom Sande schon fast vergraben, das Wrack eines Fischerdampfers. Nur der Aufbau des Vorderschiffes, die Kommandobrücke und das Hinter-schiff sehen aus dem Sande hervor, der Schiffsrumpf ist schon gänzlich verschlungen. Einmal sieht das Holzgerippe eines Segelschiffrumpfes wie die Rippen eines toten Riesensauriers aus dem Sande hervor, Papageien und Möven kreischen in den Lüften. Manchmal tobt der Sandsturm in dieser Wüste. Weit wirbeln die Windstösse den lockeren Sand in die Luft und peitschen ihn dem Reiter in die Augen. Durch alle Ritzen dringt der Sand bis auf die Haut, bald verlieren sich auch die letzten Durchblicke auf Gletscher und Meer, und wir kauern uns nieder, bis die schärfsten Stösse vorüber sind. Wir reiten, Angel und Büchse geschultert, durch den Sand. Wie Beduinen kommen wir uns vor. Dann reiten wir durch Lavastrecken. Der kleine Vulkankegel rechts vor uns hat seinen Lavastrom über den Sandur hinaus ergossen, da liegt er nun, zerrissen und zerborsten, auf weite Quadratkilometer den Sandur bedeckend, ein unwegsames Schollenlavagelände aus Tausenden von Hügeln und Tälchen. Bei älteren Lavaergüssen ist alles schon von einer trügerischen Schicht weissen Mooses überwachsen, das die Löcher und Klüfte des Untergrundes verdeckt. Langsam und mühsam führen wir BERGFAHRTEN AUF ISLAND.

unsre Pferde, die sich die Knöchel blutig scheuern, durch das Lavameer. Im Süden rauscht und glänzt, bald unmittelbar neben uns, bald mehrere Kilometer neben uns, der Atlantische Ozean.

Die Gletscher entsenden ihre Schmelzwasser als reissende Ströme mit kurzem Laufe zum Meer. Die Pferde kämpfen, bis zum Bauche, manchmal bis zum Sattel im Wasser, mit den tobenden und gurgelnden Wassermassen. Manchmal breiten sich diese Gletscherströme fächerartig aus, und dann ist das Land durchzogen von Tausenden und Abertausenden von Rinnsalen.

Der südlichste Teil des Inlandeises und seine Gletscherzungen.

Skj = Skeidararjökull. Svj = Svinafellsjökull. Fj = Fallsjökull. Sv = Hof Svinafell.

F = Hof Fagaholsmyri. HH = Hvannadals Hnukur. H = Hnappar.

In solcher Gegend wird der Boden besonders oft zum trügerischen Quicksand, in dem die Pferde einsinken.

Unser Ziel war der südlichste Teil Islands, die Landschaft Öraefi, zu deutsch Wüste. Über ihr, unmittelbar vom Meeresrand ansteigend, steigt das öraefamassiv mit dem Hvannadals Hnukur als höchstem Gipfel empor.

Beim Hofe Fagaholsmyri ( Schönhügelsumpf ) stiegen wir ab und schlugen unser Zelt auf. Es regnete. Wir verbrachten einen ganzen verregneten Tag mit Vogeljagd, Kochen der Papageientaucher, Besichtigung des Hofes und seiner Umgebung, Fischen, Zielschiessen und Schlafen. Früh gingen wir zu Bett, denn wir hofften auf schönes Wetter für den kommenden Tag, weil der Wind sich gedreht hatte.

Um 615 Uhr morgens verliessen wir bei gutem Wetter Fagaholsmyri. Über die sumpfigen Weideflächen stiegen wir den sanft sich aufbiegenden Fuss des Massives hinauf. Dann wurde es rasch steiler, das Weidegelände wurde steiniger und trocken. Über einen Rücken stiegen wir an, zu dessen beiden Seiten in die Täler hinab schon die Zungen der Gletscher tauchten. Höher oben war der Felsrücken blank gescheuert von Humus, frei lag der helle Liparitstein unter den Füssen, glattgefegt vom Gletscher. Es ist einer der grössten und vor allem der einheitlichste Gletscherschliff, den ich je gesehen habe. Wie ein riesiger Walfischrücken zieht die Fläche den Gletscher hinan, geschrammt von den gleichlaufenden Rillen des darüberschiebenden Eises. Dann legt sich der Hügel schulterartig flacher zurück, überzieht sich mit frischer Moräne und taucht unter das Eis. Wir nehmen das Seil. Genau drei Stunden sind wir bis hieher gegangen, wir sind auf etwa 1200 m Höhe. Unter uns breitet sich, gleich hinter den Höfen, das Meer aus. Ganz nahe liegt das Eiland Ingolshöfdi, ein mit senkrechten Mauern abstürzender, einen Leuchtturm tragender Basaltinselblock.

Nun steigen wir über den rasch steiler werdenden Gletscher an. Nur eine kurze Strecke war er frei von Firn, dann vom Firn bedeckt. Im nahen Osten, in gleicher Höhe mit uns, lag ein zerrissener Gletscherbruch. Die Spalten mehrten sich. In einer grossen Schleife westwärts wichen wir dem schlimmsten Klüftegewirre aus und erreichten steil emporklimmend die Höhe des grossen Firnfeldes in etwa 1800 m. Bisher hatten wir immer über uns den eigenartigen Eisturm der Hnappar ( Knöpfe ), eigenartige Säulen aus vulkanischem Gestein, gepanzert mit Eis.

Hier lag nun die weite, etwa 5 km im Durchmesser messende Fläche des Öraefamassives vor uns. Wie der Untergrund dieser Fläche wohl beschaffen sein mag?

Zwei Stunden hatten wir vom Abseilplatz herauf in gutem Tempo gebraucht. Nun gingen wir über die Hochfläche, und ich legte mir, die Gegend betrachtend, meine Gedanken über ihre Form und deren Entstehung zurecht. Vor uns leuchtete als herrliches Firntrapez der höchste Gipfel, Hvannadals Hnukur ( Schafgarbentalgipfel ). Je näher wir ihm rückten, desto eingehender besichtigten wir seinen Absturz, um einen guten Weg zu finden. Aber die vom Gipfel südostwärts herabstürzenden Eiskaskaden waren so herrlich, dass wir auf den leichteren Weg etwas weiter westwärts verzichteten und in unmittelbarer Nähe dieser Eiswände anstiegen. Die Eiswand stürzt in mehreren Absätzen senkrecht herab, sie ist mit Vorhängen von Eiszapfen, die Längen von zehn Meter erreichen, überzogen, ein Bild, das ich noch nie gesehen hatte. Unergründliche Spalten zogen sich dem unteren Rand der Wände entlang. Steil ansteigend querten wir sie auf Locker-schneebrücken und brachen mehrere Male ein, aber am fürsorglich angezogenen Seil konnte uns nicht viel zustossen, zumal wir grösste Vorsicht walten liessen. Bald stapften wir die letzten Steilhänge hinan und standen auf der Schulter unterhalb des Gipfels. Von ihr führt ein Firnhang in wenigen Minuten auf die Firnkuppel, die den Hvannadals Hnukur krönt. Um 1415 Uhr langten wir oben an, nachdem wir genau acht Stunden pausenlos und in gutem Tempo, aber mit nur ganz leichtem Gepäck gegangen waren.

Die Aussicht vom Gipfel war, zumal wir einen fast wolkenlosen Tag hatten, von wundervoller Schönheit.

Im Norden liegen die endlosen Eisfelder des Vatna Jökull. Er ist grosser als alle anderen Gletscher Europas, insonderheit die der Alpen und Norwegens, zusammen. Seine 9000 km2 grosse Fläche verliert sich vor uns schimmernd ins Ungewisse. Horizont, Eisfläche, leuchtende Nebel und Wolken verfliessen in der Ferne ineinander. Wir befinden uns im südlichsten Teile dieses Inlandeises. Wie ein Tablett ist die Hochfläche des öraefa-massives am Südzipfel des Gletschers hochgehoben, das Tablett ist nordwärts mit dem Eisfelde in Zusammenhang, nach allen anderen Seiten rinnen von ihm in Kaskaden die Eisströme über die 1800 m hohen Steilabstürze hinab. Es sind die vulkanischen Kräfte des Erdinnern, die dieses Tablett hochgehoben haben. Wie es zu seiner Bildung kam?

Hier wuchs einst ein riesiger Vulkankegel aus dem Boden. Wenn wir uns die seitlichen Abhänge des ganzen Massives nach oben fortgesetzt denken, bis sie sich in einem Gipfel verschneiden, so würde das einen Vulkankegel von gegen 3000 m Höhe ergeben. Als der Vulkan in Explosionen die Magmen seines Innern ausgeströmt hatte, da blieben Hohlräume zurück, und in sie hinunter brach die Gipfelpyramide zurück. So entstand, wie wir das ja auch schon von anderen Vulkanen kennen, eine Caldera, ein Einbruchs-kessel, an Stelle des Gipfelkegels. Der Hohlraum dieser Caldera ist heute aufgefüllt mit Gletschereis und bildet nun das Tablett, die krönende Hochfläche des Massivs. Aus der eisgefüllten Schale rinnt an den Bändern das Eis über und ergiesst sich in Gletscherzungen nach der Tiefe. Bings am Rande der Hochfläche ragen aus der Eisdecke da und dort die Ränder der Caldera als eisgepanzerte Felsgipfel hervor, wie in den Hnappar, im Hvannadals Hnukur und in einigen anderen Spitzen.

Die Steilheit und Abgesondertheit dieser säulenartigen, am Rande aufgesetzten Gipfel legt auch die Möglichkeit nahe, als wären sie nicht Teile einer alten Caldera-Umrahmung oder Kraterumrahmung, sondern harte Gesteins-säulen, nämlich die von der Verwitterung freigelegten, aus besonders harten Gesteinen aufgebauten Schlotausfüllungen alter Vulkane. Diese Deutung lässt sich mit der vordem gegebenen in Einklang bringen, wenn man die Möglichkeit offen lässt, dass längs des Bruchrandes der Caldera Ausbrüche erfolgten, teils in Schlotform, teils aber auch, wie vielleicht beim Gipfelbau des Hvannadals Hnukur selbst, in Spaltenform.

Die Vulkanausbrüche dieses Massives liegen, so eisgepanzert und still das Gebiet sich heute auch zeigt, gar nicht so weit zurück. In historischer Zeit erfolgten Ausbrüche in den Jahren 1349, 1350, 1598, 1727. Sie waren von furchtbaren Folgen begleitet. Die ganzen umliegenden Landstriche wurden mit Menschen und Vieh, Höfen und Nutzland völlig vernichtet. Ursache dieser grauenvollen Vernichtung waren nicht in erster Linie Lavaströme, Aschenregen, Bomben, giftige Gase und dergleichen unmittelbare Wirkungen der Ausbrüche. Die Hauptzerstörungen sind vielmehr auf die alles vernichtenden Schmelzwasser, die sogenannten Gletscherläufe, zurückzuführen. Die ganzen, das Massiv bedeckenden Eismassen wurden in wenigen Minuten geschmolzen und ergossen sich, Eisblöcke von Hunderten von Kubikmetern, Schlamm und Gestein mit sich führend, als einzige riesige Flutwelle alles begrabend und vernichtend über die Landschaft ringsum.

Wenn wir unsere Blicke den Eisströmen entlang vom Gipfel in die Tiefe gleiten lassen, so sehen wir 2000 m unter uns, auf den untersten Ausläufern der Ecksporne, die die zwischen je zwei Gletscherzungen liegenden Bergrücken bilden, die kleinen grünen Weidelandstriche und die Höfe und ihre Nebengebäude, die wie Maulwurfshügel an und in die Halden geklebt sind. Das ganze Land davor aber ist Sandur, Sand- und Wasserwüste. Ein weites Flachland, durchzogen von den zahllosen Strömen, die die Gletscher entsenden. Jenseits des Sandur liegt das Meer. Über eine Bucht weg sehen wir im Westen die Firnberge des Myrdalsjökull mit dem Vulkane Katla ansteigen. Im Osten liegt, weithin verfolgbar, der Rand des Inlandeises, von dem die 1700 m hohe Steilmauer, durchbrochen von den hinabstürzenden Gletscherströmen, hinabführt zum schmalen Küstensaum. Unter uns im Westen liegt als mächtigster Eisstrom die Zunge Skeidararjökull, eine bis zu 20 km breite Eismasse. Die steilen Hängegletscher unter uns brechen in wundervollen Eisstürzen über die Stufen der kurzen steilen Täler hinunter. Unterhalb der Brüche sammeln sich die Ströme zu flachen, ein Stück weit in den Sandur vorführenden Zungen und weisen in diesen Strecken eine wundervolle Bänderung auf.

Nach einem nur halbstündigen Aufenthalt, der dem Schauen, Notieren, Zeichnen und Photographieren gewidmet war, verliessen wir um 143/4 Uhr den Gipfel und stiegen westwärts ab. Zunächst über die steilen und spalten-zerrissenen. Firnfelder des Fallsjökull, auf einen bis gegen 1300 m Höhe heraufreichenden Felssporn zu, der die Zungen des Fallsjökull und seines östlichen Nachbars trennt. Auf ihm stiegen wir ab, über steile Block- und später Weidehänge hinunter. Mehrmals waren Basaltbänke zu queren, über deren schönkantige Säulen Wasserfälle hinabrauschten. Kubikmeter-grosse Blöcke reinen Obsidians, Moosflächen und Gletscherhahnenfussrasen lagen auf den Hängen, eingesäumt zu beiden Seiten von den steilen blauschillernden Gletscherbrüchen.

Ziemlich müde langten wir am Fusse des Massivs an, mussten barfuss noch mehrere wasserreiche und reissende Abflüsse der Gletscher queren, bis wir nach sechs Stunden Abstieges um 21 Uhr im Hofe Svinafell anlangten.

Freundlich wurden wir aufgenommen und sofort bewirtet mit Kaffee, Kuchen, Butter und Käse. Dann kam erst noch das Abendessen aus geräuchertem Schaffleisch mit Kartoffeln und hernach Rhabarbergrütze mit Rahm, das übliche Essen der Bauern an besonderen Festtagen. Um 23% Uhr lagen wir dann, seit langen Tagen zum erstenmal, in echten, weissbezogenen Betten.

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