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Bergfahrten im Herbst

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

VON A. TSCHOPP, BASEL

In einer Zeit, wo man viel von Landesrekord und Weltrekord spricht und schreibt, und wo un-bemannte und bemannte Satelliten die Erde umkreisen, ist es fast eine Entgleisung, über ein Thema zu schreiben, das weder Sensation noch Nervenkitzel zu erzeugen vermag. Es scheint nicht mehr in die heutige Zeit der technischen Höchstleistung zu passen, in der alles auf eine Karte gesetzt wird, um mit einer Wahrscheinlichkeit 1:1 berühmt zu werden oder unterzugehen.

Das gemütvolle Wandern und Bergsteigen eines Weilenmann gehört der Vergangenheit an. Nur wer mit Herz und Gemüt die Berge durchwandert, begreift die Worte ganz, die Weilenmann einem Freunde als Widmung schrieb:

« Lass, o Gott, mich oft noch preisen Dich an Deinem Bergaltar. Wollest oft mit dem mich speisen, Was der Seele Labung war. » Diese Labung spendende Stimmung empfinde ich am eindrücklichsten im Herbst in den Bergen Ihr Matten lebt wohl, Ihr sonnigen Weiden. Der Senne muss scheiden; Der Sommer ist hin.

So singt der Hirtenbub in Schillers Wilhelm Teil beim Abschied von der Alp, wehmütig und sehnsuchtsvoll. Doch freudvoll hoffend klingen seine weiteren Worte:

Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder, Wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder, Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, Wenn die Brünnlein fliessen im lieblichen Mai.

Ähnliche Gefühle und Empfindungen bewegten vor wenigen Jahrzehnten noch das Herz der Bergsteiger beim Nahen der stillen Jahreszeit, beim Einbruch des Winters. Und als wollten sie von Fels und Firn, von Bergen und Höhen Abschied nehmen, wallten sie im Herbst nochmals hinauf « auf die Felder von Eis, wo kein Frühling pranget und grünet kein Reis ».

Heute sind die Verhältnisse andere geworden. Der Bergsteiger ist auch Skifahrer und kennt keine tote Saison. Das Scheiden des Sommers erfüllt ihn nicht mit Wehmut, sondern mit Freude. Der Schnee, der für die Bergsteiger von anno dazumal ein fast unüberwindliches Hindernis war, ist für den Alpinisten von heute eine grosse Erleichterung. Und das, was früher die Freude an einer wohlgelungenen Besteigung herabmindern konnte, nämlich der Abstieg im aufgeweichten Schnee oder auf rutschiger Geröllhalde, ist fast Endzweck geworden.

Der Schreiber dieser Zeilen hat beide Phasen der Bergsteigerei mitgemacht und durchlebt; aber die alte Gewohnheit, im Herbst in die Berge zu ziehen, möchte er nicht missen. Wohl sind die Tage kürzer, die Hüttenabende lang. Doch wir haben viele recht wohnliche Hütten, in denen es sich gut sein lässt, um so mehr, da der grosse Strom der Bergwanderer versiegt ist, und man die Hütten allein, auch ohne Hüttenwart, benützen kann.

Was die Herbstfahrten besonders reizvoll gestaltet, das sind die Farben der Natur. Ein bunteres, harmonisch abgestimmteres Kleid hat die Bergwelt ausser im Herbst zu keiner anderen Jahreszeit. Der Frühling bietet einen grossen Kontrast zwischen dem blendenden Weiss der noch schneebedeckten Berge und dem leuchtenden Grün des Talgrundes. Im Sommer ist dieser Kontrast stark gemildert durch die schneefreien Vorberge. Zudem ist das Relief wegen der kürzeren Schatten weniger imposant. Das Winterkleid der Berge ist nicht frei von einer gewissen Monotonie. Die bizarren Formen sind zum Teil verschwunden. Abgerundete Ausgeglichenheit ist das charakteristische Merkmal der Winterlandschaft, die allerdings durch die tiefblauen, langen Schatten, welche die tiefstehende Sonne auf die gleissenden Schneefelder wirft, an Schönheit gewinnt. Aber die Farbenharmonie einer Herbstlandschaft wird auch durch sie nicht erreicht.

Schon der Aufstieg zur Hütte hat Reize, die keine andere Jahreszeit bieten kann.

Im buntfarbenen Laub der Bäume zieht der Fuss rauschend die Spur, und das Rascheln der dürren Blätter ist Marschmusik, die das Wandern leichter macht und den Schritt beschleunigt. Der Wind treibt mit dem fallreifen Laub sein neckisch Spiel, bis es, losgelöst, zitternd zu Boden flattert. Von der lähmenden Trägheit eines Sommertages spürt man nichts. Überall ist Bewegung; überall ist Leben. Die Bergler führen mit sichtlichem Stolz ihr duftend Heu zu Tal; der Wintervorrat an Holz wird gerüstet; in langer Kolonne zieht die Herde heimwärts. Es klingt und singt; es lebt und webt. Aus den Augen der wettergebräunten Hirten glänzt Freude; die wohlgenährten Tiere sind ihr Stolz. Und dazu lacht die Sonne am hellen Himmel, der durch das gelockerte Blätterdach blaut. Die Luft duftet balsamisch. Das Bergheu, das die vielen Stadel füllt, und das dürre Laub verleihen der Atmosphäre einen einzigartigen Geruch. In tiefen Atemzügen wird der Odem der herbstlichen Natur eingezogen; man kann sich nicht satt trinken.

Und dann die klare Sicht. An sonnigen Herbsttagen ist auch die Ferne zum Greifen nahe. Das spähende Auge erkennt Einzelheiten, die es zuvor nie gesehen hat. Die Tiefen erscheinen tiefer als je, denn kein Taldunst bildet eine verbindende Brücke zwischen hier und dort. Unvermittelt fällt der Blick vom Gipfel ins Tal. Der Beschauer auf hoher, sonniger Warte gefällt sich beim Durchstöbern der niedlichen Dörfer und freut sich an den auf hellbeleuchteten Strassen wie Spielzeuge sich bewegenden Menschen und Vehikel.

Etwas vom allerschönsten und reizvollsten, was die Herbstwanderung dem Bergsteiger bietet, sind die Nebelmeere. Um die im dichten Nebel steckende Hütte zu verlassen und in den nasskalten Dunst hineinzuwandern, bedarf es eines besonderen Antriebes. Die Hoffnung, an die warme Sonne zu kommen, lässt Nebel und Kälte vergessen. Einige bläuliche Stellen im grauen Nebeldach steigern diese Hoffnung und machen sie zur freudigen Gewissheit, wie die blauen Himmelsaugen deutlicher und grösser werden. Schon spürt man die Wärme der das Nebeldach benagenden Sonne; der graue, schleichende Nebel ist blendend weiss geworden. Da - ein Riss im Nebeldach: ein sonniger Gipfel leuchtet wie ein Phantom, wie ein überirdisches Gebilde dem Wanderer entgegen. Doch traumhaft schnell verschwindet die Erscheinung hinter den sich schliessenden Nebelwänden. Unmerklich beschleunigt der Wanderer seinen Schritt; er sehnt sich hinaus aus der grauen Melancholie, hinauf in die sonnige Freude. Der Himmel blaut immer mehr, « er wird so klar, so feierlich, so ganz, als wollt ' er öffnen sich ». Und wie dann der Wanderer hineinsteigt in das Lichtmeer der Sonne, dann klingt 's in ihm: « Das ist der Tag des Herrn. » Rascher strebt er dem sich ins Himmelsblau hineinreckenden Gipfel entgegen; denn - um mit Ulrich Hütten zu reden, « die Qual verfliegt, die Sorg'ist klein; nun bin ich unbeschwert ».

Und was dann die lange Gipfelrast dem wonnetrunkenen Wanderer bietet, kann kaum in Worte gefasst werden. Das muss man erlebt haben, um es zu begreifen. In den tiefen Talgründen liegt wallend und wogend der Nebel. Er brandet an den Graten und Wänden hinauf, die allmählich ver-verschwindend in ihn abstürzen. Wie gigantische Ströme fliessen die weissen und grauen Dunstmassen der verschiedenen Täler ineinander und verlieren sich im grossen Meer, das über dem Mittelland sich ausbreitet. Die weite, sonnige Gipfelflur ragt inselgleich aus dem wogenden Dunstmeer heraus. Wohin der forschende Blick sich wenden mag: allüberall Licht und Sonne in verschwenderischer Fülle. Allüberall, gross und erhaben, wie zu stiller Andacht versammelt, grüssen unsere Berge, die Berge der Heimat. Weitab und hoch über dem lärmenden Treiben des Alltags stört kein Laut den andächtigen Beschauer in seinem Sinnen. Das grosse Schweigen verleiht der Bergwelt noch mehr Erhabenheit, und eindrucksvoll ist ihre Sprache, mit der sie zu uns spricht. Sie redet von längst entschwundenen Zeiten; sie redet von dem, was jetzt ist. Und wie sie dem sinnend Lauschenden die Zukunft enthüllen will, streicht mit kaltem Hauch ein Nebelschwaden über den Gipfel und löscht mit einem Schlag das Bild voller Grösse und Herrlichkeit aus. Sollte das das Bild der Zukunft sein? Doch schon bricht die Sonne wieder durch; mit ihren sengenden Strahlen hat sie den kalten Störenfried vernichtet. Grösser und erhabener als zuvor steht die Bergwelt wieder da als etwas ewiges, un-wandelbares. Der spärliche Neuschnee, in den Bergschatten vor den lüsternen Sonnenstrahlen geschützt, verleiht den Vorbergen ein sonntägliches Gewand. Die « Grossen » aber in ihrem blendenden Wintergewand schneiden mit ihren scharfen Graten und Zacken verwegen und kühn das blaue Firmament. Über den Gipfelfelsen zittert die Luft, und dem Gestein entströmt eine behagliche Wärme. Unten im Tal aber liegt die kalte Luft. Überall, wo der brandende Nebel ein Stück des buntgefärbten Waldes frei gibt, sind die Bäume weiss bereift. Man glaubt ihren kalten Hauch zu spüren, den sie um sich verbreiten. Um so wohliger fühlt man sich auf dem sonnenumwobenen Gipfel in Licht und Wärme.

Das Charakteristikum der Herbstwanderung wäre nicht vollständig, wenn man nur ihre Sonnenseiten erwähnen würde. Der Herbst kann dem Wanderer auch grosse Enttäuschungen bereiten. Starke Schneefälle, die Touren fast unmöglich oder sogar gefährlich gestalten können, sind im Herbst keine Seltenheit. Sie diktieren frühzeitige Heimkehr oft unter schwierigen Verhältnissen. Und wenn man dann vom Regen durchnässt, schlotternd und frierend das Tal erreicht, ist die Stimmung nicht die rosigste. Doch diese Mißstimmung ist nicht von langer Dauer; sie verschwindet bald ins Unterbewusstsein. Aus allen Eindrücken, die man auf der Herbstwanderung in sich aufgenommen hat, baut ein Bild sich auf, das sich unauslöschlich der Erinnerung einprägt:

Droben die reine, sonnige Gipfelflur ohne Falsch und Schein, gross und erhaben zugleich; drunten aber das graue Chaos, undurchsichtig und formlos, das mit seinem kalten Hauch nur Misstrauen zu schaffen vermag. Der Wanderer aber ist erfüllt von einem mächtigen Sehnen: Aufwärts, aufwärts in Sonne und Licht.

Wohl verblasst das Bild der Berge im Laufe des grauen Alltags. Aber die Stunde kommt, man weiss nicht woher, wo es schlagartig wieder aufleuchtet. Ein Abendsonnenstrahl auf dem roten Ziegeldach vermag die Freude an den Bergen und das Sehnen nach ihnen zu erwecken. Das Brausen des Windes, der die Bäume schüttelt und rüttelt, kann die Erinnerung an eine schwere Bergfahrt beleben.

Je armseliger und nichtiger der Anlass ist, der das schlummernde Bild der Berge weckt, um so strahlender stehen sie plötzlich vor unserem Geist, leuchten talwärts und locken aufwärts.

Der Oberländer Dichter Romang, der als Söldner in englischen Diensten gestanden hat, bringt dieses Sehnen nach den Bergen zum Ausdruck, wenn er schreibt:

Seit ich den ersten Atemzug In Alpenluft getan, Zieht immerfort mich berghinan Der schönsten Träume Flug.

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