Bergsteigererinnerungen; Erinnerungen und Meinungen eines früheren Bergsteigers | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Bergsteigererinnerungen; Erinnerungen und Meinungen eines früheren Bergsteigers

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Erinnerungen und Meinungen eines früheren Bergsteigers

Mit 1 Bild.Von Ch. S.

« Sunt rupes virtutis iter. » Von uns Alten veröffentlichte vor einigen Jahren Paul Montandon im « Alpine Journal » eindrucksvolle Meditationen, und 1938 hat Carl Egger, den ich als Schriftsteller ebenso schätze wie als Alpinisten, in unserer Monatsschrift fesselnde Betrachtungen über die Wandlungen der Bergsteigerpsyche angestellt. Das ist ein Thema, zu dem auch ich, der ich 1880 debütierte, einiges sagen möchte. Man erwartet wohl anderes von mir, ich muss aber gestehen, dass meine Schublade nicht mehr viel Sachen enthält, die wert sind, herausgeholt zu werden, da ich so ziemlich alles in meinem Buchversorgte. Immer- hin habe ich noch einiges zu bringen neben Äusserungen über die Entwicklung des Alpinismus und einer Idee, an der mir gelegen ist.

Eine Zeitlang hatte ich an eine Neuauflage meines Buches gedacht, vor allem um Versehen und Irrtümer zu korrigieren und Ergänzungen anzubringen, auch beabsichtigte ich, hervorragender Alpinisten zu gedenken, mit denen ich befreundet bin oder zusammen gekommen war. Sodann wollte ich ein Kapitel einschalten, dem ich ein gewisses historisches Interesse zuspreche, ob mit Recht, soll sich im folgenden erweisen. Aber welche Abwegigkeit, an eine zweite Auflage zu denken, wenn die erste nicht vergriffen ist! Ungeachtet der freundschaftlichen Propaganda des lieben Ernst Jenny sei. hat mein Buch bei den Klubisten wenig Erfolg gefunden, und das war nur natürlich, denn meine Schilderungen waren technisch und sportlich durchaus uninteressant, sie brachten wenig Neues, eigentlich nur « Impressionen », Bilder, welche Zünftigen nichts sagen. So konnte es mich nicht wundern, dass eine Sektion auf meine Offerte, den Mitgliedern eine Preisreduktion zu gewähren, nicht reagierte. Ich hatte mich übrigens gar nicht als Alpinisten, nur als Bergsteiger eingeführt und das Wort meines alten Freundes und Gefährten Paul Montandon vorangestellt: « C' est le cœur qui fait le vrai alpiniste. » Mein Buch brachte mir manche Leser und Freunde beiden Geschlechts, alte und junge, es hat Anregungen gegeben, namentlich zum Besuch des Dauphiné.

Vor mir und meinen Gefährten Andreas Fischer und René Koenig hatte ein Zürcher Professor Ende der 80er Jahre die Berge des Dauphiné in planmässiger Weise besucht, die meisten Hauptgipfel und andere bestiegen und seine Fahrten beschrieben ( Jahrbuch S.A.C. XXVI/1890 ): es war Dr. Walter Gröbli, der als erster Schweizer seinen Fuss auf die Meije, auf den Pic d' Olan, den abgelegenen Sirac, auch auf den Mont Aiguille setzte. Er gehörte zu den bedeutendsten und eifrigsten Alpinisten seiner Zeit und unternahm manches Neue, so die Besteigung des Tödi über die Nordwestwand, auch die erste Winterfahrt auf diesen Berg u.a. m.; er hat als Erster auf dem Sexmor gestanden. In tragischer Weise ist er bei einer Schülerfahrt am Piz Blas im Sommer 1903 verunglückt. Heute ist er vergessen.

Die Kenntnis der Dauphiné-Alpen, d. i. des Oisans-Massivs — Pelvoux, Ecrins, Meije — wurde nach Gröbli gefördert durch die plastischen, überaus fesselnden Schilderungen von Andreas Fischer, der ein glänzender Schriftsteller war. Berufen, noch vieles zu leisten, wurde der mannigfach begabte Meiringer Führersohn als Vierzigjähriger ein Opfer der Berge wie einst sein Vater und sein Bruder Johann. Das Dauphiné charakterisiert er in treffender Weise « als das grossartig wildeste Stück Alpenland: hier hat die Gestaltungskraft der Natur auf engem Raum die denkbar grösste Fülle an Formen hervorgebracht und zusammengedrängt ».

Über den Mont Aiguille und seine Geschichte hatte Dr. Gröbli in sehr interessanter Weise im Jahrbuch berichtet; trotzdem und obwohl dieser Gipfel, « une des sept merveilles du Dauphiné », eine der ausserordentlichsten Berggestalten in Europa ist, blieb er von unseren Alpinisten, die früher wenig ausser Landes gingen, lange unbeachtet. Fast 40 Jahre nach Gröbli, im gleichen Sommer wie ich, erkletterte ihn ganz allein eine Schweizerin, die für diese Leistung genannt zu werden verdient: Fräulein Marthe Gerber aus Bern. Mich hatte dieser märchenhafte Wunderberg so entzückt und in seinen Bann genommen, dass ich ihn in meinem Buch, ich kann wohl sagen, besang. Mein Erstaunen, als er mir zu Gesicht kam, und die Stunden reinen Glücks, die ich auf der blumigen Wiese seines Scheitels unter wolkenlosem Himmel verlebte, bleiben mir unvergesslich. Als Solitär dominiert er die vom bösen Drac durchströmte grossartige Landschaft des Dévoluy, der die imposante Sphinx des kahlen Obiou ein besonderes Gepräge gibt — im Hintergrund das in der Barre des Ecrins kulminierende Oisans-Massiv, ein Ausblick ohnegleichen!

Die Zunahme der Autotouren hat seither zur Kenntnis dieses Gebiets, überhaupt des Dauphiné, beigetragen. Anfang der 90er Jahre war ich noch in der alten Diligence von Grenoble nach Bourg d' Oisans gefahren und auf dem seither durch ein schmales Autosträsschen ersetzten Pfad das Vénéontal hinauf nach La Bérarde gelaufen, wie in eine neue Welt. Welche Entwicklung der Dinge seither, die ich aus der Perspektive des bald 80jährigen erblicke!

In der Einleitung meines Buchs erwähnte ich alpine Leistungen, wie sie damals Bewunderung erregten. Diese Leistungen rufen nur noch einem Lächeln, so bedeutend sind seither die Fortschritte mit Hammer, Mauerhaken und Sicherungsringen, die sogenannte alpine Schlosserei. Manche Wände wurden erobert und die Grandes Jorasses von Norden! Die Kämpfe um die Eigernordwand und ihre Zuschauer gemahnen an Zirkusspiele im alten Rom mit Menschenopfern...

Imponierend sind heute auch die Leistungen zur taktischen Ausbildung unserer Truppe im Hochgebirge: so wurden unter der Leitung von Oberstleutnant Erb im Laufe eines Tags von einer Schweizer Kompagnie mit schwerer Packung folgende acht Viertausender bestiegen: Nadelhorn, Südlenz, Dom, Täschhorn, Alphubel, Allalinhorn, Rimpfischhorn und Strahlhorn. Eine Patrouille durchstieg die bis dahin bloss dreimal « gemachte » 500 m hohe Nordostwand der Südlenz in vier Stunden. Hervorragend ist ebenfalls, was im Skilauf von unsern Soldaten geschieht. Sodann sei erwähnt, dass im Juli 1938 eine Gruppe von 80 italienischen Alpini das Matterhorn von Breuil aus bestieg, jeder Mann bewaffnet mit Karabiner samt gefüllten Patronentaschen; vier Maschinengewehre mit je 100 Schuss und ein Mörser, nebst anderem Material, wurden mitgeschleppt.

Bescheiden denkt man an eigene Unternehmungen, auf die man früher stolz war und fragt: what next?

Aber hatten nicht die Alten noch mehr geleistet? Sie standen vor Bergen, die sie nicht kannten und bezwingen wollten. Klubhütten gab es keine: an einem Whymper müssen wir hinauf schauen und an den grossen Führern jener Zeit. Es ist nur recht und billig, einstige markante Taten der Vergessenheit zu entreissen. So denke ich an die Leistungen eines Vittorio Sella, Begleiters des Herzogs der Abruzzen auf seinen Forschungsreisen und unerreichter Hochgebirgsphotograph, der seine Aufnahmen, auch im Kaukasus und Himalaya, ausschliesslich auf 30/40 cm Platten gemacht hat. Das klingt heute, in den Zeiten des Leicaapparats, wie eine Legende. Auf seiner Ruhmestafel steht in den 80er Jahren die erste winterliche Übersteigung des Matterhorns von Breuil aus nach Zermatt ( März 1882)1 ), dann die Ersteigung der Dufourspitze vom St. Theodulpass aus nach Übernachten in einem Zelt im Januar 1884 und einige Jahre später, ebenfalls im Januar, die Traversierung der Dufourspitze mit Ausgang von der Capanna Gnifetti über den Crestone Rey. Dazu die ersten Winterersteigungen des Grand Paradis und des Lyskamm und, 1888, die erste Überschreitung des Mont Blanc im Winter von Italien nach Chamonix. « Das sind machtvolle Meisterleistungen », schreibt Julius Kugy, « denen in den europäischen Alpen nichts annähernd Gleiches an die Seite gestellt werden kann » — wohl gemerkt ohne Benützung der damals noch nicht eingeführten Ski.

Unauslöschlich bleibt mir die Erinnerung an meinen Besuch in Begleitung von Giuseppe Gugliermina bei Vittorio Sella in San Gerolamo di Biella, wo wir von diesem hervorragenden Mann und vollendeten Galantuomo in der liebenswürdigsten Weise aufgenommen wurden. Die Brüder Gugliermina in Borgosesia, Alpinisten allererster Klasse, die ersten Besteiger des Mont Blanc direkt vom Brouillardgletscher aus, Verfasser des überaus fesselnden und prächtig illustrierten Werks « Vette », sind die grössten « Spezialisten » des Monte-Rosa-Massivs; ich bin stolz auf die mir von ihnen verehrte Karte, worauf ihre 27 Monte-Rosa-Biwaks verzeichnet sind.

Man darf in der Geschichte des Alpinismus vier Perioden unterscheiden: die erste ist die wissenschaftliche, welche ausschliesslich Forschungszwecke verfolgte, die Zeit des grossen Benedict de Saussure, später der Agassiz, Dollfus, Carl Vogt u.a., der Forscher vom Hôtel des Neuchâtelois auf dem Unteraargletscher. Dann die heroische Periode, die Jahre der Entdecker und Erstbesteiger — der ersten « Alpinisten » —, der Begriff Alpinismus stammt aus jener Zeit; weiter die sentimentale, romantische Epoche, als die Liebe zu den Bergen und ihrer Pracht die Alpinisten erfüllte mit der Lust nach Erlebnissen und schönen Erinnerungen. Und endlich die moderne Zeit: die Berge als Sport und Technik — auch der Ski ist zu einem Kunst- und Rennsport geworden. Ich rechne mich und meine Gefährten zur dritten Periode und frage: was wird die Zukunft bringen?

Unsere Berge und die Berge unserer Nachbarn bieten heute wenig mehr an Entdeckungen und neuen Schwierigkeiten. Ersttouren stehen wohl noch an einigen Wänden und Graten zur Verfügung, namentlich im Abstieg an Ost- und Nordwänden. Die Ostwand des Monte Rosa ist abwärts längst « gemacht », aber noch nicht die Nordendwand, auch nicht die Routen der Brenvaflanke des Mont Blanc und anderes sehr Schwierige. In der heurigen Januarnummer unserer Monatsschrift stand ein Bericht über den Abstieg eines Alleingängers vom höchsten Gipfel des Piz Roseg ( 3943 m ) durch die Nordostwand. Man liest, sieht die Bilder an und staunt. Ich muss den Kopf schütteln über solche Leistungen: sie sind einmalig und bereichern den Alpinismus nicht; die gesuchte, sinn- und zwecklose Todesverachtung hat in meinen Augen als persönliches Wagnis einen sehr relativen Wert. Von der Besteigung des Mont Blanc im Januar durch den Alleingänger Steinauer denke ich ebenso.

Von derartigen Unternehmungen abgesehen, bietet der Alpinismus heute immer noch die reizvollsten und genussreichsten sportlichen Attraktionen, deren Reiz durch Schwierigkeiten und Gefahren erhöht wird; er ist eine unvergleichliche Hochschule « au physique et au moral ». Das leidenschaftliche Interesse kann aber nicht mehr den gleichen Grad erreichen wie früher, dazu gehörte Entdeckertrieb, und so wird der totale Alpinismus immer mehr abgedrängt werden nach anderen Gebieten, nach dem Kaukasus und asiatischen Gebirgsketten, vor allem nach dem Unendliches bietenden Himalaya. Dort ist, wie der so interessante und glänzend illustrierte Bericht der schweizerischen Himalaya-Expedition ( 1939 ) feststellt, von den 13 oder 14 über 8000 m hohen Gipfeln noch keiner bestiegen, die Berge über 7000 m werden auf etwa 300 geschätzt, von denen nur etwa 25 erobert sind; die Berge zwischen 6000 und 7000 m sind nicht zu zählen. Welch eine Reserve an jungfräulichen Gipfeln! Dazu tritt, was sonst noch alles zu erforschen ist in jenem Gebiet, das, vom Mount Everest dominiert, umsäumt vom Indus und Brahmaputra, sich auf rund 1500 Kilometer ausdehnt. Hievon zeugen die Leistungen und Ergebnisse der ersten schweizerischen Himalaya-Expedition ( 1936 ) von Heim und Gansser, die sich auch auf Tibet erstreckte, wie dem überaus inhaltsreichen, mit über 200 Bildern prachtvoll ausgestatteten Band « Thron und Götter » zu entnehmen ist. Hierzu kommt das grosse Werk über die geologischen Resultate dieser Expedition. Schönes leistete die zweite Schweizer Expedition von 1939 unter der Leitung von André Roch: u.a. die Erstbesteigung des über 7000 m hohen Dunagiri. Sie würde noch mehr vollbracht haben, wenn ihr nicht eine Lawine, der zwei Träger zum Opfer fielen, ein jähes Ende bereitet hätte. Über ihre wissenschaftlichen Ergebnisse wird ein besonderer Bericht erscheinen. Auch andere Schweizer haben sich im Himalaya verdient gemacht in Verbindung mit verschiedenen Expeditionen, so Herr Jacot-Guillarmod mit zwei Landsleuten, von denen einer, Herr Pache, von einer Lawine erschlagen wurde. Auch des Geologen Rudolf Wyss ist zu gedenken. Der hervorragende Kartograph Marcel Kurz nahm an beiden Dyhrenfurth-Expeditionen teil und hat über das Himalaya-Problem geschrieben; noch ist zu erwähnen, dass Ernst Grob zu den Erstbesteigern des Tent Peak ( 7363 m ) gehört, und endlich sind die Leistungen hervorragender Schweizer Führer, wie Mathias Zurbriggen, Lochmatter und anderer, in jenen Regionen anzuerkennen. Ohne Rücksichtnahme auf die erzielten Erfolge vergegenwärtige man sich stets die vielfachen Schwierigkeiten und Gefahren in Höhen von über 6000 m bei Kälte-, Witterungsund anderen Verhältnissen, von denen wir kaum eine Ahnung haben, im Vergleich zu unseren so komfortablen Alpen.

Unendliches, wie gesagt, bietet der Himalaya, aber die Sehnsucht unserer Alpinisten-Elite wird er nicht leicht stillen können: der Weg ist zu weit, die Schwierigkeiten aller Art sind zu gross und die Ausgaben für eine Seilschaft unerschwinglich ohne die finanzielle Beteiligung Dritter, denn jedes Unternehmen erheischt die kostspielige Ausrüstung einer Forschungsexpedition. Und vom Kaukasus ist zu sagen, dass auch er nicht bequem zu erreichen ist und zum Machtbereich der Sowjet-Union gehört.

Daher die schwer zu befriedigende Neugierde eines alten Bergsteigers: wie wird es wohl werden in 25, in 50 Jahren? Was mag die Entwicklung auf unserem Planeten überhaupt noch bringen, es sei denn stetsfort Zerstörung und Totschlag? Das Interesse für den Bergsport dürfte nicht untergehen und — wer weissvielleicht werden im 21. Jahrhundert Werke einstiger alpiner Schriftsteller ausgegraben, englischer, schweizerischer und anderer, worunter in deutscher Sprache des lieben Julius Kugy, den ich als den modernen Dichter der Alpen ansehe und bewundernd verehre: als Achtzigjähriger hat er sein grossartiges, prächtig illustriertes Opus über den Monte Rosa verfasst1ein Beweis, wie die Berge Geist und Seele jung erhalten. Vielleicht kommen auch eines Tages meine harmlosen « Erlebnisse und Gedanken » ans Licht, als Kuriosität aus einer längst verschwundenen Zeit und Welt, an die einstigen Romantiker gemahnend.

In einem Rückblick auf die Entwicklung des Alpinismus schien mir ein kleines Kapitel über « Essen und Trinken in den Bergen » an seinem Platz zu sein. W7er hat heute eine Idee, wie es damit war in den 80er, 90er Jahren, in der Zeit vor den ersten « Führerlosen », welche die Emanzipation von den Bergführern einleiteten? Damals stand im Kostenpunkt nicht immer der Führertarif im Vordergrund, sondern oft die Hotelrechnung für den Proviant der Expedition. Diese Rechnung kam manchmal fast so hoch zu stehen wie das Führerhonorar und stellte an die kalkulatorischen Fähigkeiten des Alpinisten grosse Anforderungen. Die Kolonnen einer Proviantrechnung zu prüfen, war eine peinliche Aufgabe, besonders in frühen Morgenstunden, wenn man pressiert war, abzumarschieren.

« Zur Zeit meiner ersten Bergtouren in den 80er Jahren », erzählt Dr. W. Gröbli, « spielte die Getränkfrage noch eine grosse Rolle, und wenn man in die Hände gewisser Wirte und Bergführer fiel und nach ihren Anweisungen verfuhr, bedurfte man fast eines besonderen Trägers nur wegen des Proviants. Damals war auch die Meinung, ohne eine gehörige Menge von Wein und Schnaps sei man den Anstrengungen einer Bergtour gar nicht gewachsen. » Die Opulenz derVerproviantierung in Chamonix für Mont-Blanc-Besteigungen war berüchtigt, sie ist in Cunningham & Abney's bekanntem Werk « Pioneers of the Alps » in impressionierender Weise mit dem dazu gehörigen Champagner dargestellt, aber auch Dauphine-Führer liessen sich nichts abgehen: filet, poulet, gigot de mouton waren bevorzugt, an Würsten gab es in jenen Regionen wenig Auswahl, keine Schüblinge und Cervelats wie bei uns. Sardinen durften nicht fehlen, sie waren willkommen auch wegen des Öls, das auf dem Brot schmeckte oder als treffliche Schmiere aus der Büchse auf die Schuhe geträufelt wurde. Harte Eier, Konfitüren waren beliebt, reichlicher Vorrat an Butter und Käse obligatorisch mit langen Laiben von Weissbrot, die aus den Säcken hervorragten; Knorrsche Erbswurst nebst Bouillonwürfeln bildeten eine importierte Neuigkeit, aber die Suppen schmeckten in den Hütten. Punkto Wein hatten die Führer persönliche Ansprüche, der eine wollte weissen, der andere roten. Mein braver Alfred Burgener, der mich jahrelang begleitete, hätte niemals roten Wein genommen, nur weissen. Im Dauphiné wurde % Liter Wein pro Mann und Halt gerechnet. Der blechene « quart militaire », der am Sack hing, war das Mass. Damals war die Leder-gourde spanischen Stils ( der Pelz nach innen ) im Gebrauch, mit einem kleinern und einem grossem Mundstück. Schwer beladen mit Speise und Trank zog man in den Kampf.

So auch wir im schönen Sommer 1910 von La Grave nach der Brèche de 1a Meije und der jenseitigen Cabane, um den berühmten Berg zu traversieren: drei alte Freunde mit dem trefflichen und klugen Christophe Turc als Führer und einem treuen Walliser Träger. Im Hotel Juge hatten wir Proviant gefasst, worunter den klassischen Gigot de mouton, ein Prachtstück, würdig des Unternehmens und der grossen Seilschaft. In der Hütte stellte sich eine harmlose Partie ein, die anderntags über die Brèche nach La Grave wollte. Wir brachen vor ihr auf, erreichten in flottem Tempo über die Grande Muraille, die zwei von uns zum drittenmal überkletterten, den Glacier Carré. Dort wurde abgesessen und die Säcke zum Frühstück ausgepackt. Alles war da, auch der Appetit, nur der Gigot wollte trotz aller Bemühung nicht ans Licht kommen. Wohin war er geschwunden? Das Rätsel ist noch immer nicht gelöst. Von allen Hypothesen ist die wahrscheinlichste die, dass einer von unserer Karawane, der auf Ordnung hielt im Leben und das Herumliegen von Gegenständen auch in den Hütten ver-abscheute, das wertvolle Stück zeitig versorgt hat und zwar ahnungslos in einem Sack der andern Partie, der somit eine erfreuliche Überraschung bevorstand. Moral: Auch der schönste Gigot kann unter Umständen den Appetit nicht stillen. Aber die Traversierung ging glücklich von statten, und der Humor blieb nicht aus, au contraire. Dieses Bergerlebnis wohl seltener Art verdiente erzählt zu werden.

Eine Wandlung in jenen, ausser dem Kostenpunkt, idyllischen Zeiten wurde nach und nach durch zweierlei hervorgerufen: die Führerlosen kamen auf; in den Ostalpen waren es die Brüder Zsigmondy und Purtscheller, bei uns die beiden Montandon mit ihren Freunden, die viele Erstbesteigungen ausführten und zu den ersten alpinen Photographen gehören, und Andere. Die Führerlosen brachten ihren Proviant von zu Hause mit — sie hatten bescheidene Bedürfnisse schon wegen der Leichtigkeit des Geldbeutels und der Schwere der Rucksäcke, da sie ihren Proviant selbst tragen mussten. Sodann taten sich zur Sommerzeit in den Touristenzentren Läden auf, in denen man alles nach Lust billig kaufen konnte, so dass man nicht mehr auf die teuren Hotels angewiesen war. Auf die Art, wie sich die Führerlosen verproviantieren, trete ich nicht ein, wohl ohne Poulets und Gigots und ohne Wein. Immerhin sieht man heute Junge, die mit Kochapparaten auf dem Rucksack ausziehen; das Aluminium erleichtert die Packung und der moderne feste Brennstoff die Kocherei. Soweit habe ich es nie gebracht, ich hatte keinen Gefallen an schweren Rucksäcken, nicht einmal dem Proviant zulieb. Immer war ich bestrebt, das Gepäck möglichst zu beschränken, nicht allein, um das Herz zu schonen — was sehr zu empfehlen ist —, auch den Buckel, und ich liebte es, schnell zu steigen. Meine Gelüste, namentlich auf Alleingängen in den Voralpen und auch höher hinauf, waren vor allem Milch, wenn solche zu haben war ( eine so göttliche Milch wie in den blumenreichen Höhen des Dauphiné habe ich nirgends genossen ), Suppen in den Klubhütten, Obst, frisch und trocken, Süsses aller Art, auch eine gute Wurst war stets willkommen. Selten war meine Esslust beim Aufstieg gross, stets aber der Durst.

Ich erwähnte, dass in der « Führerzeit » der Wein zum Proviant gehörte, nicht nur in den welschen und südlichen Gebieten, wie die leeren Flaschen auf den Gipfeln bezeugten. Die « Führerlosen » kamen ohne Wein aus, auch ich; mir mundete er wie Anderen nach getaner Arbeit unten im Tal. Wenn ich weiter von mir reden darf, so war ich in den Bergen stets ein grosser Wassertrinker — an Hunger habe ich nie gelitten, wohl aber an Durst, und ich versäumte keine Gelegenheit, auch wenn sie mit einiger Mühe verbunden war, das geliebte Nass zu erreichen. An gewisse Brunnen oder Quellen erinnere ich mich heute noch mit Vergnügen. So an die köstlichste der Quellen im Vispertal: als Alexander Burgener, den ich im März 1894 in Eisten aus einem Leichenzug zur Besteigung des Matterhorns herausgeholt hatte, mit mir um den Berg herumlief nach St. Nikiaus, liess er mich an einer Quelle halten, die er mir rühmte. Nie habe ich ein Wasser von dieser Qualität getrunken, und doch war es kein starker Durst, der es mir so schmecken liess. Sodann gedenke ich eines Quells, der auf der Höhe des Rawilpasses mitten im Pfad aus dem Boden hervorsprudelte. Ich legte mich längelang auf den Bauch und liess den Quell wie einen Springbrunnen in meinen Mund strömen. Allerdings war ich da oben sehr ausgetrocknet angekommen von Sion aus, den Bisses entlang, ohne Proviant; aber dieses Wasser löschte nicht nur den Durst, es mundete wie ein leckerer Trank. Auch an einen guten Brunnen in einem Bauernhof bei Willerzell mag ich mich erinnern: als ich an einem Morgen vor langen Jahren mit meinem Söhnlein dort die Gourde füllte, öffnete sich ein Fenster und wir hörten die Stimme des Bauern: « Dos isch dünni War! » Aber diese Ware sollte bald, mit Zucker und Zitrone gemischt, ihre Dünne verlieren und im Verlauf der Tour mit Genuss getrunken werden. Ohne Zitronen bin ich nie ausgezogen, ihr Saft in frischem Wasser mit dem Zusatz der feingeschnittenen Rinde liefert ein edles Getränk. Noch will ich rühmen den wunderbaren Brunnen am Fuss der Gipfelpyramide des Schaf berg im Säntisgebiet: da labt und stärkt sich der Tourist vor dem letzten langen, steilen, direkten Anstieg ( was die Genfer Die Alpen — 1941 — Les Alpes.14 « une râleuse » nennen ), er füllt die Gourde mit dem frischen klaren Wasser zur Rast auf dem eine herrliche Aussicht bietenden Gipfel, und beim Abstieg ergötzt er sich wiederum an dem ideal gelegenen Brunnen — meminisse juvat. Der geneigte Leser möge dieses Auftauchen alter Erinnerungen leiblicher Art mit Verständnis aufnehmen. Vielleicht hat auch er an Durst zu leiden gehabt.

Darf ich nun, ohne zu chokieren, ein spassiges Tourenabenteuer erzählen, das sich auf keinem Berg, sondern in einem... Keller zugetragen hat?

Eines Tags hatte ich den Schänniserberg besucht, eine ziemliche Anstrengung. Beim Abstieg kam ein heftiges Gewitter, Kübel wurden auf mich ausgeleert, keinen trockenen Faden hatte ich mehr auf mir. Bei bald anbrechender Nacht in Ziegelbrücke angelangt, wo mir altem Mann eine zweistündige Heimfahrt bevorstand, suchte ich am Bahnhof vergebens einen Unterschlupf, um Hemd und anderes, dank dem vorsorglichen Inhalt meines Rucksacks, wechseln zu können. Der Güterschuppen war dicht verschlossen, aber den Keller des Buffet fand ich offen und beleuchtet. Auf seiner Aussentreppe stieg ich hinab, installierte mich auf einem Balken zwischen den Fässern und begann meine Operationen. Als ich nun wie Adam vor dem Sündenfall dastehe, höre ich Schritte: die Buffetwirtin kommt die Treppe hinunter, sie erblickt mich, stösst einen Schreckensschrei aus und flieht, indem sie noch den elektrischen Schalter abdreht. Man stelle sich meine Lage vor: splitternackt im Dunkeini Licht konnte ich keines machen, die Zündhölzer waren nass. Manches hatte ich erlebt, viele Biwaks durchgemacht, so etwas nie. Es bedurfte etwas Akrobatie, in der Finsternis Hemd, Unterkleider, Strümpfe anzuziehen, in die Hosen und Schuhe zu schlüpfen. Aber es gelang, ich war gerettet und trocken auf dem Leib. Das nasse Zeug versorgte ich im Rucksack, fand den Ausgang aus dem Keller, wagte jedoch nicht, mich im Buffet zu zeigen, erwartete den Zug auf dem Perron und kam wohlbehalten nach Hause.

Dieses kleine Satyrspiel belustigt mich heute noch; wem es keinen Spass macht, der möge den Erzähler schelten! Honni soit qui mal y pense.

Nun noch ein Scherzo aus dem Toggenburg.

In meinem Buch habe ich erzählt, wie ich eines schönen Morgens auf der Tanzbodenalp, von der aus man das obere Toggenburg übersieht, an einem Brunnen meinen Durst löschte und mit dem Besitzer des Bauernhofs, einem freundlichen Mann, ins Gespräch kam. Er erzählte von den vielen reichen Leuten im Tal, das vor uns lag, und liess die Millionäre Revue passieren: der in Lichtensteig hat so viel, der in Kappel auch, der in Wattwil noch mehr usf. Der Bauer war informiert wie ein Steuersekretär, und ich bekam Respekt vor dem gesegneten Toggenburg, das ich bisher nur landschaftlich bewundert hatte. Gross war später meine Überraschung, als mir eine Nummer des Toggenburger Tagblatts zuging, die eine warme Empfehlung meiner eben erschienenen « Erlebnisse und Gedanken » enthielt und mit der schalkhaftenBe- merkung schloss: der Bauer auf der Tanzbodenalp wäre bass erstaunt, zu vernehmen, dass der Tourist im alten Hut und Rock, dem er die Millionäre im Toggenburg aufzählte, selbst einer war. Ich beeile mich, hinzuzufügen, dass das bekannte méprisante Wort « er hat eine Million und hält sich für einen Millionär » nicht auf mich passte. Übrigens, was ist eine Million — ein Steuer-objekt, und was sind sogar sogenannte Millionäre in den heutigen Zeiten? Was wird ihnen die Zukunft bringen?

Verschiedenes habe ich eben erzählt, das den einen oder andern zu interessieren, vielleicht zu amüsieren vermag. Nun muss ich ein Geständnis ablegen:

Unzählige Berge habe ich bestiegen, bin schauend und bewundernd in reinem Entzücken auf deren Scheitel gestanden, habe, ausgestreckt auf den Gipfelfelsen, den blauen Himmel zu Häupten, tiefe Schlafe getan und die schönsten Träume geträumt:

« Wie süss sich zu sonnen, den Städten entronnen, auf luftigen Höhn », singt Gaudenz von Salis- Seewis, der edle, heute fast vergessene Bündner Dichter.

Auch die Pässe hatten es mir angetan mit der Neugierde, die andere Seite zu erblicken. Durch die Täler aber bin ich gerannt ohne Ahnung des Schönen, das in ihnen zu finden ist. Nicht einmal an Regen- und Ruhetagen kümmerte ich mich darum. Erst am Ende meiner Laufbahn habe ich den grossartigen Freulerpalast in Näfels von innen angesehen und das charmante Tschudihaus in Glarus. Das ist alles. Von Graubünden hatte ich keine Idee, wusste nicht, dass es einen fabelhaften Schatz an Kunstwerken birgt, ich kannte nur die Berge und das herrliche Hochtal des Engadin. Allerdings hatte ich auf meiner zweiten Alpenfahrt, im Jahr 1881, im offenen Postwagen von Chur nach Thusis gestaunt über die vielen Burgen und Burgruinen des Domleschg, aber dabei ist es geblieben und bei meiner historischen und kunstgeschichtlichen Unkenntnis dieses einzigartigen Gebiets. Im Unterengadin waren es nur die charakteristischen Wohnhäuser, die meine Aufmerksamkeit erregten. Und doch war mein Leben stets erfüllt von künstlerischen Interessen. Im Gebirge aber hiess es: hinauf, hinauf! So musste ich mich dem 80. Lebensjahr nähern, um über die Wunder Graubündens etwas zu erfahren. Das geschah durch das köstliche « Heimatbuch » eines begnadeten Churer Künstlers, Hans Jenny, und durch Erwin Poeschels grossartiges Werk über die Kunstdenkmäler Graubündens, das einen aus dem Erstaunen nicht herauskommen lässt. In die vornehmen, mit Kostbarkeiten gefüllten Bürgerhäuser kann der Alpinist nicht Eingang finden, wohl aber darf er sich stattliche, schön gelegene Burgen ansehen und in Kirchen treten, die Schätze enthalten.

Ich schäme mich heute meiner einstigen Ignoranz. Andern mag es ebenso ergehen I Wem unter den zahllosen Bergsteigern in den Bündner Alpen ist bekannt, dass die katholische Kirche von Bivio, einer Ortschaft von ein paar hundert Einwohnern, in 1800 m Höhe am Fuss des Julier- und des Septimerpasses ( daher der Name ), wo so manche vorbeikommen, sei es vom Engadin, vom Longin, vom Bergell oder vom Avers, vom Piz Piatta und sonst woher, einen der wertvollsten Hochaltäre in der Schweiz enthält? Wie viele kennen das Juwel des Castelbergaltars in Disentis — um nur diese zwei Schätze zu nennen unter Hunderten in Bündner Kirchen?

Ich habe geglaubt, den Lesern des « Uto » das fein geschriebene und illustrierte kleine Bündner Heimatbuch von Hans Jenny empfehlen zu sollen, das schon kurz nach Erscheinen in den « Alpen » lobend besprochen worden war. Ich zögere nicht, die Empfehlung zu wiederholen und damit den Wunsch zu verbinden, die Klubisten mögen nicht allein auf Gipfel und Pässe ihre Füsse setzen, sondern ihr Augenmerk auch auf Täler, auf Kirchen und Wohnstätten richten, um die Schweiz besser kennen zu lernen, welche Schönheiten von Menschenhand enthält wie kein anderes Bergland!

Feedback