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Betrachtungen zur Baukunst im Engadin

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Mit 6 Skizzen.Von Hermann Roth

( St. Moritz ).

«... Das Haus ist hier historisches Dokument, wie es die Sprache, das Kunstgewerbe, die Eigennamen des Volkes sind... » Diese wenigen, für die Eigenart des Engadinerhauses treffend geprägten Worte stammen aus einem Aufsatz von Herrn Kunstmaler Carl Egger, Basel, Ehrenmitglied des S.A.C. und gewesener interimistischer Redaktor der « Alpen ». Seine interessanten Ausführungen sind anno 1899 im Jahrbuch der « Alpen » erschienen. Wenn sie auch nicht Anspruch erheben wollten, kunstgeschichtlicher Komponent in den Fachschriften rätoromanischer Kultur zu sein, so ist doch der knappen, aber sehr eingehenden Arbeit Eggers das schöne Verdienst zuzuschreiben, über den zeitlichen Rahmen eines Jahrbuches hinaus die edle Geltung, den Wert sorgfältiger Betrachtung bis auf den heutigen Tag gewahrt zu haben. Wir freuen uns im Engadin darüber, und es entspringt nicht zuletzt der Liebe zur heimischen Scholle, wenn das Zentralkomitee des S.A.C., das heute seine Geschäfte in jenen seltsam schönen Mauern tätigt, mit besonderem Vergnügen in dem Band von 1899 blättert.

Es ist nicht von ungefähr, wenn das Auge dessen, der sich am Schönen erfreuen kann, von jeher mit vermehrter Aufmerksamkeit bei der eigenartigen Baukunst des Engadins verweilt. Wir glauben indessen nicht, dass wir mit unserer heutigen Betrachtung, welche sich an diejenige Eggers anlehnt, einer Übersättigung auf diesem Gebiete Vorschub leisten. Wohl aber kann sie dem einen oder andern Leser und Wanderer durchs Engadin vielleicht eine willkommene Ergänzung zum « Klubführer » sein; denn er wird auf dem Wege zum Berggipfel oder über einen Pass vor manchem Haus stillstehen und dessen eigenartige Schönheit bewundern und zu deuten versuchen.

An diese Annahme knüpfen wir nun die folgenden kunstgeschichtlichen, ebenso kurzen wie freien Betrachtungen und schicken gleich voraus, dass wir von einem Aufzählen von Sehenswürdigkeiten, vom Empfehlen zweckmässiger Reisepläne und dergleichen mehr absehen und nur anhand von ganz wenigen Beispielen einen Fingerzeig auf die geistigen Zusammenhänge in der Engadinerbaukunst geben wollen.

Was fällt denn dem Beschauer zuerst aufHören wir auch hier Egger an: «... Wer von Norden her... hinübersteigt ins Engadin und zum erstenmal seine Dörfer erblickt, dem fallen... die plötzlich auftretenden Steinmassen zunächst ins Auge... », und weiter ( bei Anlass einer Besprechung zu einem bestimmten Haustyp ): «... So ist also dieses Haus wahrlich wie eine Festung ausgerüstet, und es ist keine Übertreibung, wenn man angesichts dieser klafterdicken Mauern, schießschartenartigen Fenster und der ganzen spatiösen und fürsorglichen innern Einrichtung den Vergleich mit BETRACHTUNGEN ZUR BAUKUNST IM ENGADIN.

einer Burg nicht los wird... » — Mit dieser Feststellung und dem originellen Vergleich ist unsere einleitende Frage beantwortet, und wir hätten eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass diese Eigenart — die anderswo selbstverständlich auch anzutreffen ist ( wir denken z.B. an vereinzelte, jurassische Gehöfteim Engadin wegen ihres auffallend reichen Schmuckes und ihrer oft kapri-ziös-spielerischen Formen sowie durch ihre Gesamtheit als Dorfbild einzig dasteht.

Da fällt denn oft das Rätselraten und Entziffern gar nicht leicht, und die Literatur gab bis vor wenigen Jahrzehnten nur spärlichen Auf schluss. Seit dem Erscheinen des Aufsatzes von Herrn Egger, in welchem der Forscher-name Hunziker mit Recht voll Verehrung genannt wird, hat sich hauptsächlich der Kunsthistoriker Erwin Poeschel mit wertvollen Publikationen über die Kunst des Engadins verdient gemacht. Allein, diese teils recht umfangreiche Literatur lässt sich nun einmal nicht in das dem Touristen beliebte « Taschenformat » zuschneiden. Auch ist man versucht, von einem kunstgeschichtli-Abbildung 1.cnen Weidgang ins En- gadin im übertragenen Sinn dasselbe zu sagen, was Jakob Burckhardt von der Italienreise schrieb: «... dass nur der das Glück findet, der es mitbringt! » — Gemeint ist natürlich das Glück oder die Glückseligkeit, die man beim Erschauen der Kunst empfindet; denn mit dem Nur-Sehen bleibt einem bekanntlich die Erkenntnis um die inneren Zusammenhänge, die Entdeckung des « geistigen Bandes » vorenthalten. Greifen wir also gleich ein Beispiel heraus, und lasst uns einen Augenblick vor der Chesa Villetta in Bos-chia verweilen, welche sich hoch über der Talsohle, westlich von Fetan befindet ( Abbildung 1 ). Mit welch phantastischer Eigenwilligkeit und welchem Übermut tanzt hier der stolze Giebel in die einsame Berglandschaft hinein! Die herrliche, barocke Gebärde, der einst in Italien die Prätention im absoluten Sinn zu Gevatter stand, will hier in aller Abgelegenheit gan ;: für sich allein sein und nur sich selbst gefallen. Sie hat keine « Nachbarn », keine Neider des Jahrhunderts. Hier kehrten keine Gesandten und Gäste fremder Länder ein und aus, die von ihrer Eitelkeit hätten berichten können. So kümmerte sich der Erbauer wenig um die sonst strenge Symmetrie barocker Fassaden. Beachten wir nur den « ver- BETRACHTUNGEN ZUR BAUKUNST IM ENGADIN.

schobenen », nichtssagenden Hauseingang! Er scheint in keinem künstlerischen Verhältnis zum Formenüberschwang des Giebels zu stehen. Und dennoch herrscht eine weise Übereinstimmung im Rhythmus des Ganzen. Gewiss hat der Baumeister den Formensinn seines Jahrhunderts mitempfunden. Bestimmt hat er sich — fernab von den Stätten zeitgenössischer Kunst ( Tirol und Ober-italiensein eigenes Haus im echten Lichte seiner Kulturepoche vorstellen können, und doch setzte er sich schrankenlos über ihre « akademische Gesetzmässigkeit » hinweg und stellte unter den klassisch-schönen Giebel die Fassade, die ihm zu Diensten stehen musste. Das ist eben das Spezifikum der Baukunst des damaligen Engadins ( im vorliegenden Falle das 18. bis hinein in das 19. Jahrhundert ): bei aller Würdigung und vorbildlicher Beherrschung architektonischer Prinzipien Einordnung derselben in den persönlichen Willen!

Vielleicht wird der Leser einwenden, dieses Beispiel sei zwar interessant, aber es könne kaum als Muster enga-dinerischer Bauweise angesprochen werden. Das wäre ein Irrtum. Tief in der Verborgenheit gestaltender Kräfte wirkt immer dieselbe Volks- Abbildung 2.

seele, mögen die verschiedensten Epochen und Baustile an ihr vorüberziehen! Vergegenwärtigen wir uns doch einmal jenes bekannte Kirchlein in Fex, Oberengadin ( Abbildung 2 ). Ahnen wir angesichts des überaus zierlichen Glockentürm-chens nicht « dieselbe Mutter der Formen »? Ist die Beschwingtheit und mit ihr die malerische Wirkung nicht verblüffend ähnlich, auch wenn ihre Geburtsstunde in eine noch frühere Zeit zurückreicht? Deshalb dürfen wir ohne Bedenken betonen: Der Engadiner der letzten Jahrhunderte hat die Strenge der Baumasse, die Kälte der « klafterdicken Mauern » über den Weg einer wundervollen Formgebung im besten Sinn des Wortes überwunden.

Dies gilt aber nicht nur für die Form im Grossen, sondern auch für die Form im Kleinen, im Detail. Richten wir unsern Blick einmal auf die Sgraffito-Verzierungen der Fassaden. Jene ebenfalls aus dem Italienischen stammende Freude am Schmücken von grossen Mauerflächen, die durch zwei- oder mehrschichtiges Auftragen von farbigem Verputz und durch nachheriges Auskratzen von Ornamenten entsteht. Im Oberengadin sind es vorzüglich Die Alpen — 1941 — Les Alpes.18 BETRACHTUNGEN ZUR BAUKUNST IM ENGADIN.

geometrische ( Abbildung 3 ) und im Unterengadin figürliche Zeichnungen ( Abbildung 4 ). Als Betonung von Quadersteinen an Hausecken steigen sie in verschwenderischer Fülle bis unter das Dach hinauf, an der Untersicht desselben weiter bis zum Giebel, winden sich auch um Fenster oder pointieren es gar mit klassischen Formen ( Abbildung: Fensterchen in Zernez ), wirken als reiche Türbekrönungen usw. Entspringt dieser Gestaltungswille nicht auch der Absicht, dem burgähnlichen Aussehen, wie es Egger nennt, immerhin eine gewisse Lieblichkeit zu verleihen? Die Strenge und Härte festungs-ähnlicher Häuser sind kein Nährboden für ein frohes Gemüt. So hat sich also die Freude am Schmuck von innen heraus entwickelt; sie war Bedürfnis und nicht Mode. Irgendwie musste das Kräftespiel der beiden Pole, der südliche Typus des Engadiners einerseits und seine an nordische Verhältnisse FENSTWuCHT Abbildung 3.

Abbildung 4.

Fensterchen in Zernez.

erinnernde Umwelt andrerseits, jenen Niederschlag in der Kunst dieses Hochtales finden. Denken wir bei dieser Gelegenheit an die überaus bunte und leuchtende Engadinertracht! Und ist es etwa ein Zufall, dass sich die feurig rote Nelke ins Engadiner Kunstgeschehen eingeschlichen hat und dort als Ornament eine dominierende Stellung einnimmtDie eisige Kälte grosser, grauer Steinmauern vermählt sich also gleichsam mit der lebendigen Form und der glühenden Farbe des Details.

Dabei darf aber eine typische Erscheinung nicht unerwähnt bleiben: Sie erinnert uns an jene Anekdote, wonach ein Steinmetz aus gotischer Zeit gefragt wurde, weshalb die himmelhohen Kirchtürme auch dort mit Ornamenten übersät seien, wo das menschliche Auge gar nicht mehr hinreicht. Der fromme Baumeister soll darauf erwidert haben: « Wenn sie nur Gott sieht! » — Der Engadiner Baumeister würde auf eine solche Frage, wenn sie sich auf das Engadinerwohnhaus bezogen hätte, geantwortet haben: « Wenn nur ich sie sehe! » Denn tatsächlich schleichen und winden sich die BETRACHTUNGEN ZUR BAUKUNST IM ENGADIN.

Ornamente bis in die verborgensten Winkel der Fassade im Nebengässchen! Die gewöhnlichste Stalltüre kann das schönste, schmiedeiserne Beschläge, das kleinste Fenster ein prächtiges Gitter aufweisen. Dass dem so ist, das heisst, dass zunächst einmal der Engadiner selbst an seinem Schmuck froh werden wollte und nicht von der italienischen Gefallsucht der damaligen Zeit angekränkelt war, beweist auch seine konsequente Einstellung zur Verzierung dort, wo er selbst sie nur noch in seltensten Fällen vor die Augen bekommt auf dem breiten, meist kaum zugänglichen Dach. Betrachten wir die Abbildung zum Kamin am Haus Dr. Campell, Pontresina. Ein kleines Kunstwerk sowohl in bezug auf die Form wie auf die wohlausgewogenen Grössenverhältnisse. So wäre des Plauderns im Reiche der Engadinerkunst kein Ende. Wir wollen aber hier unsern bescheidenen Aufsatz abschliessen und hoffen, er vermöge beim einen oder andern Leser den Wunsch zu erwecken, bei einer Wanderung durch das Engadin jenes seltene Zusammenspiel von gegensätzlichen Kräften im Kunstgeschehen, jenes « Kontrapunktische », selbst zu erschauen.

CHtSA

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