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Bosco-Gurin und Campo

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Von W. Egloff

Gedanken eines Passwanderersw „, _, _ Mit i Bildern ( 96—99St. Gallen ) Weit hinten im Maggiatal mündet bei Cevio von Westen her ein fast unbeachtetes Tal. Heute lenkt der gewaltige Bauplatz der Maggiawerke die Blicke des Durchreisenden auf den Talausgang. Wenn der beschauliche Wanderer einen Tag erübrigen kann, so raten wir ihm, den steilen, steinigen Weg von Cevio hinanzusteigen oder sich vom Postauto über unzählige Strassen-windungen ins Tal hineinführen zu lassen. Durch schattige Kastanienwälder und über interessante Rutschgebiete, über mächtige Schluchten und an imposanten Abstürzen vorbei führt die Strasse hinauf nach Cerentino ( 978 m ). Hier trennen sich die Strassen. Die eine folgt weiter dem Haupttal nach Campo. Wir aber wollen hinaufsteigen zur hochgelegenen Kirche von Cerentino, wo wir in ein Seitental einbiegen. Vorbei an den zwei abseits gelegenen Weilern Corino und Camanoglio wandern wir durch ein einsames unbewohntes Tal hinauf nach dem höchstgelegenen Dörfchen des Tessins, Bosco-Gurin. Der zweisprachige Name verrät, dass wil uns in der einzigen ursprünglich deutschen Gemeinde des Tessins befinden. Nach urkundlichen Belegen haben die deutschen Walliser aus den südlichen Tälern der Walliser Alpen, vor allem aus dem Formazzatal, den Übergang über die Guriner Furgge gefunden und sich im Hochtal dauernd niedergelassen. Diese Besiedelung durch die Walser erklärt uns die in diesem entlegenen Winkel des Tessins plötzlich auftauchenden deutschen Namen der Landeskarte, wie Bannsvald, Rütenen, Grossalp, Wolfstafel.

Auf schmalen, mit Steinplatten belegten Gässchen durchqueren wir das Dorf und wundern uns nicht wenig, in seinem Westteil braungebrannte Holzhäuser und echte Walliser Stadel anzutreffen. Etwas abseits, an sonniger Lage, steht ein besonders schönes Haus und lässt seine kleinen Fensterlein in der Sonne blitzen. Es ist das Walserhaus, ein kleines Heimatmuseum, wo die Gesellschaft Walserhaus Bosco-Gurin unter der Betreuung des heimat-liebenden Graphikers Tomamichel eine interessante Sammlung alter Walser Gebrauchsgegenstände anlegt. Doch unser Weg führt uns weiter über den Bach und mitten durch einen langgezogenen Gebäudekomplex, der eine Grosszahl der Viehställe Boscos zählt. Schon früher standen die Ställe hier, aber eine Lawine hat sie einst alle weggefegt. Da entschlossen sich die Bauern, diese Ställe hintereinander genau in der Richtung der Lawine zu erstellen und sie durch einen gewaltigen Steinkeil als Lawinenbrecher zu schützen.

Durch einen lieblichen Talgrund mit kleinen Äckern, wo Gemüse, Kartoffeln und Hanf gedeihen, wandern wir weiter. Jedem offenen Auge wird die Kleinheit dieser Äcker auffallen, oft nur zwei bis drei Meter breit, haben sie kaum mehr in der Länge. An den steilen Berghalden wird eifrig Gras gemäht, auch dort schmale Streifen, die beinahe ein Sensenhieb in der ganzen Breite abmäht. Das Walser Erbrecht hat zu dieser extremen Zerstückelung des Landes geführt. An kleinen Waldbeständen vorbei und zwischen den Ställen von Schwarzenbrunnen durch steigen wir gegen den Wasserfall an, den wir schon lange im Hintergrunde des Tales rauschen hörten. Nun führt der Weg rascher bergan, durch lichten Wald, bis sich in 1800 Meter Höhe eine grössere Mulde öffnet und wir zur Alphütte Kumme kommen. Man sieht es der Alpweide an, dass die Alp nur selten bestossen wird. Kniehoch stehen die Alpenrosen, und das saftige Gras ist eine willkommene Nahrung für die Murmeltiere, die vor unsern Schritten mit schrillem Pfiff ihren sichern Bau aufsuchen. Auch Bosco gehört zu den Tessiner Dörfern, deren Bevölkerung seit Mitte des letzten Jahrhunderts gewaltig abgenommen hat. Zählte das Dorf 1850 noch 387 Einwohner, so sind es 1941 nur noch 197 gewesen. Natürlich hat auch der Viehbestand entsprechend abgenommen, so dass die Grossalp heute für die noch bestehende Viehherde bei weitem ausreicht und nicht einmal mehr voll ausgenützt wird.

Wir ändern nun unsere Marschrichtung und steigen steil empor gegen Süden in der Richtung des Kleinhorns, um auf einem bequemen Felsband in die Passlücke des Passo Quadrella zu gelangen. Unsere Blicke schweifen von der weitgedehnten Grossalp, die das Tal von Bosco am Fusse des Martschen- BOSCO-GURIN UND CAMPO spitz und des Ritzberges begrenzt, hinüber, vorbei am Sonnenberg, der in einer alten Karte im Walserhaus wie auch in der Sprache älterer Einwohner noch Patnäll heisst, ins Tal von Campo. Eine dürftige Alpwiese, übersät von Geröll und Steinen, liegt zu unsern Füssen und verliert sich allmählich im geschlossenen Wald. Im Talboden überragen die Kirchtürme von Cimalmotto und Campo den untern Saum des Lärchenwaldes. Der Talfluss bleibt in der Tiefe eines steilabfallenden Grabens verborgen. Die gegenüberliegenden waldbestandenen Talhänge steigen wiederum schroff an, so dass von Bebauung, geschweige von Besiedelung keine Rede sein kann.

Auf bequemem Pfad steigt man abwärts zur Alp Quadrella und weiter durch den grossen Wald zu den Wiesen von Cimalmotto. Auf den ersten Blick scheint die Art der Bebauung und Bewirtschaftung recht ähnlich derjenigen von Bosco. Wieder die gleichen Holzstadel; auch Wohnhäuser sind aus Holz erstellt. Die Felder bringen Gemüse und Kartoffeln hervor, sogar Korn reift an den Sonnenhalden, was wir in Bosco nicht mehr fanden. Die Erde scheint viel weniger zerstückelt, schöne weite Wiesenflächen werden von den Bauern gemäht und Heu eingebracht. Und doch fehlt uns, wie wir gegen Mittag Cimalmotto betreten, der traute Lärm der Dorfgemeinschaft. Während in Bosco in den engen Gässchen und auf den kleinen Plätzchen überall Kinder spielen, scheinen Kinder in Cimalmotto und Campo sehr selten. Ein Blick auf die Tabellen aus der Volkszählung 1941 ist denn auch sehr aufschlussreich:

Gemeinde Einwohnerzahl Kinder unter 17 Jahren In% der Gesamtbevölkerung Arbeitende Bevölkerung In% der Gesamtbevölkerung BoscoCampo

197 187 45 24 22,8 12,8 114 138 57 73 Beide Gemeinden hatten also annähernd gleiche Bevölkerungszahlen, wenn aber in Bosco die minderjährigen Kinder fast einen Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachten, so war es in Campo nur ein Achtel. Heute wird in Bosco der natürliche Bevölkerungsverlust durch den Tod und eine nicht aufzuhaltende Auswanderung fast wettgemacht durch eine kräftige, heranwachsende Jugend, wogegen dieser Ausgleich in Campo weitgehend fehlt. Aus Gesprächen mit der Bevölkerung geht hervor, dass in Campo die Schule bald eingestellt werden muss, weil die Schüler fehlen. Stolz erwähnte der Gemeindepräsident von Bosco die Notwendigkeit, Schulbänke anzuschaffen, weil die Schülerzahl zunehme. Das tragische für unsern südlichen Kanton ist aber die Tatsache, dass Bosco einen einzelnen günstigen Fall darstellt, dass aber Campo als ein Musterbeispiel der Entvölkerung dieser Bergdörfer anzusehen ist. Unwillkürlich fragen wir uns nach dem Grund dieses Unterschieds. Und da ergibt sich, dass Campo von unheimlichen Rutschungen bedroht ist. Jedes Haus, sogar die Kirche zeigt besorgniserregende Risse. Es ist klar, dass ein Volk ob unsicherm Boden unter den Fussen verzweifeln muss und leichter die angestammte Scholle aufgibt. Doch warum zeigen andere Bergdörfer genau das gleiche trostlose Bild? Liegt der Grund nicht noch tiefer?

Wer einigermassen Volkstypus und Charakter der Walser Siedler kennt, ist versucht, im Volk selbst die Ursache dieser Unterschiede zu suchen. Wir wissen, dass vor Jahrhunderten die Ahnen dieser Walser sich mit bewundernswerter Zähigkeit in den Hochtälern festgesetzt und dort sich an den kargen Boden angeklammert haben. Naturkatastrophen aller Art schlugen wohl Lücken in ihre Reihen, vermochten aber ihren zähen Willen zum Ausharren nicht zu beugen. Die Guriner haben im Laufe der Jahre wahrscheinlich ihr ganzes Dorf verlegen müssen, weil die Lawine immer wieder ihre Wohnstätten im Talgrund, wo die Siedlung ursprünglich stand, verschüttet hat. Sie haben sich auf den Hügel zurückgezogen, auf dem das Dorf heute steht. Sie sind der Katastrophe ausgewichen, haben aber doch auf ihrem Grund standgehalten. Diese Ereignisse rufen uns die ähnlichen Geschicke der Bruderkolonie in Vals in Erinnerung, wie sie uns Jörger x schildert. Auch sonst halten diese Walser zäh an der Überlieferung fest. Die kleinen Parzellen, die wir bei unserer Wanderung in Bosco festgestellt haben, erklären sich wie bereits erwähnt durch einen alten Erbteilungsmodus. Beim Tode des Vaters werden nicht nur die Wiesen und Äcker unter die Söhne verteilt, sondern jeder einzelne Acker wird in so viele Teile aufgeteilt, als Erben da sind 2. Allerdings sieht der Walser die Nachteile einer solchen Zerstückelung, aber er kann sich nicht leicht entschliessen, von einem Brauche abzuweichen, den schon die Grosseltern streng beobachtet haben. Ist es nicht verwunderlich, dass die kleine deutsche Kolonie im Seitental des Maggiatales bis heute die angestammte Sprache wunderbar erhalten hat? Wohl müssen die Guriner im Verkehr mit den Nachbarn das Italienische ebenfalls sprechen, wohl werden die Protokolle der deutsch geführten Gemeindeversammlung stets in italienischer Sprache verfasst, und doch wird weiter im Guriner Dialekt debattiert und verkehrt der Guriner mit seinesgleichen nur im alten Walser deutsch.

Freuen wir uns also an diesem traditionsgebundenen Völklein, das in der Überlieferung eine Stütze und einen Halt gefunden hat. Es ist darum nicht verschlossen für Neuerungen. Als eines der ersten Bergdörfer im Tessin hat Bosco ein Elektrizitätswerk geschaffen ( 1913 ), das heute noch das Dorf mit Strom versieht. Oft sind gerade Leute aus der Stadt versucht, alles zu belächeln, was nach Brauch und Sitte riecht. Unsere Beobachtungen zeigen uns aber, dass im geachteten Brauchtum eine grosse erhaltende Macht liegt, und dass wir allen Grund haben, Bestrebungen, die die Erhaltung und Förderung von Brauch und Überlieferung zum Ziele haben, mit unserer ganzen Sympathie zu fördern.

1 K. J. Jörger: Bei den Walsern des Valsertales, in Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Band 10, 2. Aufl., bearbeitet von Paula Jörger, Basel 1947.

2 In jüngster Zeit ist man allerdings davon abgekommen.

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