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Crast'agüzza

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Crast'agüzza ( Spitzer Kamm ) ( 3872 m ). Berninagruppe, Graubünden.

Unter jene Berggestalten, die für immer fesseln, nachdem man sie erblickt, zählt gewiß auch die Crast'agüzza im Hintergrunde des Morteratschgletschers. Sie imponiert nicht durch gewaltige Größe, auch nicht durch den Glanz ihres Gewandes oder durch allzu-kühnen Aufbau. Ruhig blickt sie neben dem König des Gebiets, dem stolzen Bernina, und der blendenden Bellavista aus dem Kranze würdiger Gestalten ins Thal herab. Und doch hat sie ihren Zauber. Auf mich übte sie schon als Knaben ihre anziehende Wirkung aus und blieb ihre Besteigung stets einer meiner ehrgeizigsten Wünsche, der sich erst Crast'agüzza vom obern Rand des „ Loch " aus.recht steigerte, als ich vom Bernina, Bellavista und Zupô aus die Spitze näher kennen gelernt hatte. Wieso dennMit einem Wort: Die Crast'agüzza fordert trotzig zum Kampf heraus. In schneefreien Tagen reckt sie ihren scharfen Kamm drohend in das Blau des italienischen Himmels hinauf; bei Neuschnee versteckt sie trügerisch ihre bösesten Partien, die senkrechten Platten, und als schüttle sie sich vor Ärger, sendet sie rastlos kleine Lawinen zur Drohung dem sich ihr Nahenden entgegen. Darum umgiebt sie auch ein gewisser Nimbus, den Führer und Alpinisten nie zu zerstören wagten. In ihrem Namen liegt der vollendete Begriff einer gefährlichen und schwierigen Kletterpartie: Crast'agüzza! So kam es denn auch, daß ich schon eine Reihe höherer Berge der Gruppe erstiegen und speciell nach den hiesigen Kletterpartien ( siehe „ Kletterpartien im Engadin " von einem Mitgliede der Sektion Bernina S.A.C. im „ Engadin Express ", Jahrgang I, 1900, illustriert ) geforscht hatte, ehe ich mich an diesen Gefürchteten wagte. Der Anstoß dazu wurde mir von außen gegeben, sonst hätte ich vielleicht heute noch nicht seine Bekanntschaft gemacht. Es war am 24. August 1901, als Herr stud. ing. Walther Peter aus St. Moritz, von dessen Touren mit Herrn D. Stokar und Oswald Mettier ich bereits Rühmliches vernommen, mich einlud, als dritter am Seil die Grast'agüzza zu probieren. Natürlich fuhr mir diese Einladung mächtig in die Beine, aber kurz vorher hatten ich und mein Freund Chs. Golay, dessen Begleitung ich in den letzten Jahren so manche ordentliche und gelungene Partie verdanke, am Piz Glüschaint infolge Sturmes eine Abfuhr erlitten, die uns das Herz in tiefere Regionen hatte gleiten lassen. Unser erster neue Angriff sollte dem Glüschaint gelten und nur mit seiner Genehmigung durfte ich den Kurs ändern. Zu meiner Freude war er auch gleich bereit, die Crast'agüzza gegen den Glüschaint, und zwar mit mir, auszuspielen. „ Noch ein Platz am Seil ?" war meine Anfrage in St. Moritz. „ Der vierte ist willkommen " die Antwort. Die Pferde — wir reiten das Stahlrowaren bald gesattelt, Frau Keßler, die freundliche Morteratsch-Wirtin, vervollständigte unsern in Eile zusammengerafften Proviant, und der Mond schaute vergnüglich auf die beiden Wanderer, die frohen Mutes über Clünetta nach Boval hineinschlenderten. Holz nahmen wir nach gemachten Erfahrungen ziemlich viel mit, und als wir gegen elf Uhr dasselbe zum Gruß unsern vorausgeeilten Kameraden brachten, bekamen wir als Dankeswort rumpelnde Schnarchlaute zu hören. Somit war uns das übliche, schädliche Gelage geschenkt, und wir gaben uns ganz dem willkommenen Schlafe hin. Um halb ein Uhr war Tagwache, und in bester Stimmung verließen wir die Hütte. Ich werde mich über Distanzen und Zeiten nicht sehr ausbreiten, denn der Aufsätze, welche Statistik treiben, sind wir alle ziemlich überdrüssig. Ich möchte überhaupt auch meine Bilder sprechen lassen, die eine genügende Charakteristik des Berges geben mögen.

Die Nacht war stockfinster. Unsere Laternen leuchteten auf dem zerklüfteten Gletscher nicht weit genug, um unserem Gedächtnis zu Hülfe zu kommen, und so geschah es, daß wir anfänglich manchen vergebenen Schritt machen mußten, bis wir an den Fuß der Isola Persa uns durchgeschlagen. Wenn auch das Unangenehme nur Zeitverlust bedeutete, so wäre uns die Lokalkenntnis eines Führers hier doch sehr zu statten gekommen. Isola Persa, Gemsfreiheit und der untere Teil der Festung wurden ohne Hindernis erreicht, und wir freuten uns sehr, daß es hier anfing zu dämmern.

Crasi'aguzza ( Spitzer Kamm ).

Wir stießen auf eine Partie mit zwei Führern, die uns, den Wilden, einen kühlen guten Morgen gab, sich setzte und uns vorausließ, den Weg selbst zu suchen. Wir fanden ihn auch leicht, er ist hier, eine plötzliche, unerwartete, mit seitlichem Abstieg verbundene Umgehung ausgenommen, gegeben. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten uns auf dem Palü- weg unter der ersten Bellavista-Spitze. Der Tag versprach gute Witterung, und wir sahen uns gegen Norden und Osten gehörig um, ehe wir in die Mulde abstiegen, welche sich gegen den Berninaweg senkt. Der Sonnenaufgang war von ganzer Pracht, und in uns erwachte jener Mut und jene Lust, die einer neuen That voranzugehen pflegen.

Am Rand der Mulde erschien uns plötzlich unser Ziel in veränderter Form: hochaufge-richtet, zugespitzt und nach drei Seiten schauderhaft steil. Wir blieben eine Weile respektvoll stehen. Durften wir den Angriff von dieser Seite wagen? War es nicht viel vorsichtiger, den uns als leichter bekannten Westweg zu nehmen und eventuell bei guter Verfassung hier abzusteigen? „ Rücken wir dem Kerl etwas näher ", sagte einer. Am Fuße angelangt, sahen wir die untere Partie viel deutlicher, und sie schien uns verhältnismäßig leicht. „ Also los, das weitere wird sich finden. "

Freund Peter, als Organisator der Tour, hatte die Führung übernommen und hackte die steile Wand hinauf Stufen, nachdem er den ziemlich ungemütlichen Bergschrund traversiert. Ihm folgte Andreas Michel, dann Golay und am Ende ich. Die Hackerei gab Arbeit, und uns fror es beim Warten bedenklich. Nach einer bangen halben Stunde kam die ersehnte Sonne hinter dem Piz Zupô auch zu uns heran, und indessen hatten wir die Felsen erreicht.

Da wir in Eis und Fels nicht alle gleichmäßig erfahren sind, hielten wir uns mehr an letztern und gerieten dadurch zu viel rechts hinaus, bis wir an der auf Bild I sichtbaren rechten Wand nach schwierigem Klettern an sehr exponierter Stelle ins Stocken gerieten. Als letzter am Seil wurde ich auf die Suche nach einem Ausweg geschickt, und es gelang mir, auf einer Platte nach links zu rutschen, festen Stand zu fassen und die übrigen heranzulotsen. Von da an blieb ich vorn und folgte jenem Spürsinn, den uns die Übung mit der Zeit verschafft. Bald bestärkte mich eine leere Flasche unter einem Stein und kurz nachher eine angebrochene Sardellenbüchse in dem Glauben, daß ich den richtigen Weg eingeschlagen habe. Dennoch sah ich mich stets nach dem um, was dahinten lag, denn die Wand wurde steiler, die Griffe karger, und ich mußte mich für einen eventuellen Rückzug bereit halten. Noch einmal zwangen mich die abschüssigen, glatten Platten, da, wo der Schnee ( Bild I ) in 2/3 Höhe auf der Kante liegt, nach rechts zu gehen. Eine etwa 3 Meter hohe Wand über dem Abgrund erwies sich als unausweichlich. Als alle gut verankert waren, setzte ich an, und erst beim dritten Versuch gelang es mir — nicht ohne merkliche Aufregung — den letzten Absatz zu überwinden. Ich mußte mich ordentlich ausruhen, dann ließ ich die übrigen folgen. War das die berüchtigte lange Platte, von der es heißt, daß jeder an ihr das Gruseln erlernen könne? Wir hofften es, nachdem sie überstanden. Doch wir täuschten uns sehr und entdeckten, wieder auf die linke Seite der pyramidenförmigen, obern Spitze geraten, daß eine, wohl 7 Meter lange, sehr steile, schmale Platte, scheinbar ohne Griffe, zu überwinden war. Links fällt der Berg überhängend gegen den obern Scerscengletscher ab, nach vorn und hinten ist die Neigung ganz bedenklich, und rechts steigt wie eine Mauer der Grat empor. Die letzte Probe war hart, wir bestanden sie und setzten uns nach neunstündiger, strenger Arbeit mit einem aufrichtigen „ Gott sei 's gedankt ", aber nur mit halbem Appetit zum Frühstück neben den Steinmann nieder.

Ich konnte die Bemerkung nicht unterdrücken: „ Heute haben wir zu viel gewagt ", und ich stehe auch heute nicht an, dieses Geständnis abzulegen, denn wenn auch alle gut gingen und schon manches harte Stück Bergarbeit hinter sich hatten, so zeigte sich an jenem Tage nicht nur, daß Lokalkenntnis in der Nacht gemangelt, daß allzulange Unthätigkeit der Hintern während der Hackarbeit des Ersten für die Füße gefährlich werden konnte, daß eine unrichtige Handhabung des Seils gefährlicher sein kann als gar kein Seil, sondern auch, daß es große Ausdauer braucht, um nach fünfstündigem Marsche in solcher Höhe über Meer noch vier Stunden zu klettern.

Nach dem Gesagten sollte man meinen, wir wären tollkühne Anfänger, die eben mit knapper Not der Strafe für ihr Unterfangen entkamen. Wenn dem auch nicht so ist, so haben wir dabei gelernt — Grast'agiizga ( Spitzer ,Kamm ).

und ich betone das im Interesse aller Anfänger — daß es nicht genügt, wenn jeder für seine Person ordentlich sattelfest ist, sondern es braucht auch für solche Touren eine nur durch öfteres Zusammengehen zu erreichende Harmonie, ein gegenseitiges Anpassungsvermögen. In dieser Hinsicht ließ die Zusammensetzung der Partie zu wünschen übrig, und es kann Anfängern nicht genug empfohlen werden, stufenweise vorzugehen und ihren Ruhm in der Erwerbung gründlicher Kenntnisse der mannigfaltigen Vorkommnisse und Situationen mehr als in der möglichst baldigen Absolvierung einer Anzahl der bedeutendsten Spitzen zu suchen. Erst wer mit den Gefahren der Alpen persönlich vertraut ist, darf sich in ihren Bereich wagen. Sie erkennen und ihnen rechtzeitig vorbeugen ist neben körperlicher Fähigkeit eine Hauptbedingung zur Erlangung der alpinistischen Matura. Und dazu braucht es jahrelange Übung mit tüchtigen Führern und geübten Kameraden in den verschiedenen Terrainarten, zu verschiedenen Jahreszeiten und in jeder Witterung.

Jedoch, nicht um Lehren zu geben, begann ich meine Beschreibung, sondern um vom Berge selbst zu reden. Wir hatten uns ja stramm gehalten und konnten nun mit Muße die eigenartige Aussicht genießen. Einerseits verdecken Roseg, Scerscen und Bernina den westlichen Teil des Panoramas, anderseits, weniger zwar, im Osten Zupô und Palü.

Aber was wir zwischenhinaus erblickten, hauptsächlich die zu unsern Füßen liegenden Eisfelder Scerscen und Fellaria, war herrlich. Die Partie, von der ich eingangs sprach, war schon längst auf dem Bernina angelangt und jauchzte uns zu, als wir oben anlangten. Solch ein Zwiegespräch hat trotz seiner Einfachheit einen großen Reiz, und oft entringt sich der Brust in einem Jauchzer der Ausdruck eines bedeutungsschweren Moments.

Die Überschreitung oder besser gesagt Über-kriechung des Kammes war auch nicht leicht, und wir wandten alle Vorsicht an. Vor dem Abstieg zum Crast'agüzza-Sattel gönnten wir uns nochmals eine gründliche Rundschau. Wir ließen unser Auge von den fürchterlichen Wänden der nächsten Umgebung in die gähnenden Schlünde der Eisstürze zu unsern Füßen und von da hinauf an die Silberspitzen der Disgra-zia- und Adamellogruppe, hinaus, weit hinaus zu den mächtigen Walliseralpen schweifen, die wie die äußersten Wellen das Eismeer abschlossen, überall derselben Herrlichkeit der Schöpfung begegnend. Wem die Natur einen gesunden Körper und Geist geschenkt und wer sie nicht kennt, die Wunderwelt des Hochgebirges, der eile hinauf zu den Thronen der Freiheit, zu schauen und zu staunen ob all der unendlichen Pracht. Wer sich drunten herumplagt mit den Mühsalen seiner Tage, der steige empor, sich zu laben im Reich der Ideale, am Borne unvergällter Freuden, und wer glücklich ist, der komme herauf, um sich noch glücklicher zu fühlen. Den Rückweg nahmen wir, weil wir dem „ Loch " an jenem heißen Nachmittag nicht trauten, wieder mit ziemlichem Zeitverlust über die Festung. Alles ging bestens von statten, und im Hotel Morteratsch tranken wir wie die Alten noch ein Glas vom Bessern auf das vollbrachte Tagewerk und auf fernere gute Freundschaft. Durchdrungen von dem freudigen Gefühle, eine der berüchtigtsten Spitzen der Berninagruppe aus eigener Kraft besiegt zu haben, gingen wir fröhlich auseinander.

H. A. Tanner ( Sektion Bernina ).

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