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Das Bergerlebnis

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An einem Ende des Hyde Parks in London sammeln sich allabendlich einige hundert Menschen um vier oder fünf Redner. Bolschewisten, Bibel-forscher, Katholiken versprechen der Menge eine Lösung des alle bedrängenden Rätsels. Unter ihnen ist auch ein brauner Orientale, der mit dem witzigen Propagandagebrüll « I have got a horse » ( Ich habe ein Steckenpferd ) die kenntnisdurstigen Zuhörer von den andern Rednern weglockt und um sich versammelt. I have got a horse, dachte auch ich, nachdem ich die verschiedenen Artikel über Alpenliteratur und Alpenliteratur selbst gelesen hatte.

Seit ich fern von den Bergen meiner Heimat leben muss, erwarte ich immer mit Ungeduld « Die Alpen » mit ihren schönen Bildern und sitze, wenn ich Zeit habe, stundenlang vor diesen Tälern und Bergen, die mir naturverbunden sind. Ich habe dann nicht den Eindruck, ich sei von ihnen entfernt, sondern bin überzeugt, dass ich sie mit mir gebracht habe; ich brauche ja nur einen bekannten Grat, einen begangenen Pfad zu sehen, oder ich brauche nur den Duft einer Alpenrose zu riechen oder auch nur eine Melodie zu spielen, die ein Freund auf einer Bergfahrt einmal gepfiffen hat, und schon ist das Erlebnis lebendig um mich, in die Gegenwart zurückgeführt durch diesen oder jenen sinnlichen Eindruck.

Dies ist menschlich, und ich weiss genau, dass ich mit dieser Feststellung ein Ereignis beschreibe, das jenen bekannt ist, deren Schriften und Aufsätze ich gelesen und nicht vergessen habe. Obwohl ich weder Schriftsteller noch Künstler bin, habe ich diese wunderbare Erinnerung mit jenen gemeinsam, seien sie Geologen, Maler, Musiker oder Poeten, gemeinsam gewiss auch mit dem rekordlustigen, gipfelstürmenden Sportsmann. Ich habe gesehen, dass alle jene Begabten darauf ausgehen, Erinnerungen wachzurufen. Und um die Erinnerung verständlich zu machen, hat man es unternommen, sinnvolle Vergleiche zu ziehen zwischen Bergen und künstlerischen Schöpfungen, die mindestens den jeweiligen Fachkollegen und Glaubensgenossen das Verständnis für ein Erlebnis vertiefen.

Es gelingt dem Dichter, den poetisch veranlagten Leser zu überzeugen, dass im Berg ein alter Geist wohnt, der in grauen Nächten seine Höhle verlässt und am Bergbach drüben nach vergrabenen Schätzen sieht. Der Leser hat den Geist selber schon gehört und gesehen. Und wenn ein Musiker behauptet, diese oder jene Schöpfung stehe in Beziehung zu den Bergen, so besteht für den musikalischen Bergsteiger durchaus kein Zweifel, dass dies in der Tat so ist; er erinnert sich genau, gelegentlich eine wesensgleiche Komposition im Sinne gehabt zu haben, und diese musikalische Schöpfung ist auch seinen angesammelten Eindrücken entsprechende Ausdrucksform. Ich kann mich auch nicht der Erinnerung an Taten eines Wilhelm Tell, Ritter Georg oder Siegfried erwehren, wenn ich Gelegenheit habe, jenen Kämpen zuzuhören, die darauf ausgehen, den giftigsten Graten an den Hals zu rücken und den höchsten Bergen aufs Haupt zu sitzen. Ja, gerade die Zahl der besiegten Ungetüme macht die Grösse des Helden Herkules aus.

Und schliesslich, um noch einen andern der vielen Fachleute hervorzuheben, und zwar einen der interessantesten, der Geologe. Nichts ist über-raschungsreicher, als den Brüdern dieser Fakultät in einer Klubhütte zuzuhören. Sie scheinen mit den Verhältnissen vertrauter zu sein als wir andern. Jenes Tal füllen sie mit einem Gletscher, jene Steinschicht ergänzen sie zu einer himmelhohen Wölbung, und von jenem überhängenden Felsblock prophezeien sie, dass er irgendeinmal rücksichtslos niederstürze, vielleicht schon morgen oder auch erst im Jahre 5000 und etwas später.

Ihnen und allen andern ist die Bergwelt ein Erlebnis, und die Darstellung desselben wird gut und wahr, nicht wenn es gut bewiesen ist, sondern wenn es im Leser jene geheimnisvolle Erinnerung zu wecken imstande ist.

Die verschiedenen kritischen Aufsätze über Bergliteratur haben immer wieder gezeigt, dass man, und ich glaube mit Recht, im allgemeinen der Ansicht ist, dass das Buch der Berge noch nicht geschrieben ist, d.h. das Buch, das die längst empfundene Verwandtschaft mit den Bergen klar vor Augen bringt, das die Bibel des Bergsteigers sein wird und nichts weniger als seine Weltanschauung enthalten soll, das das unpersönlichste und menschlichste Bekenntnis sein wird, das je gemacht wurde.

Da ich selbst auch in den Konflikt geraten bin, den das Bergerlebnis in so besonderer Weise in unserer intellektualisierten Natur hervorruft, möchte ich hier noch einen Versuch machen, an der Vorbereitung des Bergsteigers für jenen kommenden Philosophen mitzuwirken.

Wie schon gesagt, ist es manchen Autoren gelungen, mit Vergleichen im Leser ein tieferes Verständnis für ein Bergerlebnis zu wecken; im Gleichnis versteht es der Autor, am faktisch Erlebten die Söhne des gleichen Bekenntnisses teilnehmen zu lassen.

Die Wahl des Gleichnisses kommt nicht von ungefähr. Der zu beschreibende Gegenstand erlaubt uns nicht, in anderer Sprache an jene Dinge zu rühren, denen es uns hier am Herzen liegt, Gestalt zu geben. Wir greifen hier zu einer Ausdrucksform, die unseren Urvorfahren viel geläufiger gewesen ist. Wie in den ältesten überlieferten Schriften handelt es sich auch hier darum, unmittelbar an erd- und weltgeschichtliche Tatsachen heranzukommen. Der erlebende Bergsteiger ist, wie der schaffende Künstler, ein mit dem Geschehen verbundenes Wesen, das an sich selbst Geschichte erfahren hat. Früh genug erwacht der Mensch aus jenen leichten Träumen, worin ihm seine oberflächlichen Taten Mass aller Dinge zu sein schienen. Er erwacht zu einer Wirklichkeit, die ihn veranlasst, sein Spielzeug in ein Museum neben andere Lächerlichkeiten zu stellen, bis er sich schliesslich zum Standpunkt durchgerungen hat, ein williges Glied einer unvergänglichen Kette zu sein, das er nicht mächtig genug ausschmieden kann, um Zukunft und Vergangenheit an dieses Glied zu binden.

Das Bergerlebnis erschöpft sich aber nicht in den engen Grenzen der individuellen Erfahrungen. Der noch nie in den Bergen gewesene Sohn des Gebirglers lauscht verständnisvoll den Erzählungen seines Vaters, er empfindet schon hierin den wesentlichen Kern dessen, was man in den Bergen erleben kann, und wenn er dann selbst das erstemal in die Berge steigt, erkennt er die 14 4 Einzelheiten eines Bildes wieder, das ihm in allgemeinen Umrissen schon früher vorgeschwebt hat. Es ist daher kein spezielles Wagnis, anzunehmen, dass in einem Gebirgsvolk eine Ahnung der Berglandschaft eingeboren ist, die sich seit alten Väterzeiten durch Generationen hindurch der menschlichen Seele eingeprägt hat.

Mit dieser Annahme ist der wesentlichste Schritt für die folgenden Erwägungen getan. Das Bergerlebnis wäre derart an eine Erinnerung gebunden, die über die zeitlichen Schranken des einzelnen Bergsteigers hinausschreitet und durch die Anregung der gegenwärtigen Erfahrung in der Seele lebenden Gestalten wirkliche äussere Form verleiht.

Doch lässt sich das Bergerlebnis wohl kaum auf die eigentlichen Gebirgsvölker beschränken. Auch dem Engländer ist die Befähigung, die Berge erleben zu können, nicht abzusprechen, selbst wenn er und seine Vorfahren nie in die Alpen gewandert wären.

Die Erinnerung führt uns viel weiter zurück als bloss die Zeit der sportlichen Erschliessung des Gebirgs. Sie geht zurück in jene Zeit, wo Felsen und Gletscher mit Gewalt und gegen den menschlichen Willen der Seele sich einprägten, in eine Zeit, wo die Erde mit Gletschern überdeckt war und wo die Landschaft überall unserer Gebirgslandschaft geglichen hat. Diese Epoche wird uns in den Bergen wieder lebendig und weckt in uns Fähigkeiten, die längst verschwundenen Geschlechtern eigen waren. Wir werden erfüllt von ungeahnter Kraft, die zum harten Kampf um die Existenz in solcher Umgebung erforderlich ist. Wie die Menschen früherer Zeiten, sind wir wieder mit elementaren Gewalten in Berührung. Die Berge « sprechen » zu uns, und was in den Bergen geschieht, « spricht » zu uns, und wir verstehen, wir empfinden hier etwas, was unserem Wesen nicht fremd ist. Und so öffnet das Erlebnis, die Erinnerung das Tor zu einer Wirklichkeit, die wir nicht kennen. Die individuellen, kleinen Unterschiede verschwinden vor dem mächtig hervortretenden allgemein Menschlichen, und das Erlebnis versetzt uns in eine Welt, die zeitlos und raumlos ist, erfüllt von Geistern und Drachen; wir verstehen den Stein, aus dem wir geboren sind, und die Gestirne, in denen unser Schicksal geschrieben steht. Wir sind selbst Dämonen geworden und sind nichts und alles in dieser Welt.

Diese in den Bergen erlebte Wirklichkeit zu rekonstruieren, ist die Aufgabe eines Philosophen, der uns das Bergbuch schreiben wird. Er allein wird es verstehen, das Bergerlebnis festzuhalten und den Alltag des Lebens in eine ewige Bergfahrt umzuwandeln. Erst dieser Philosoph wird mit Recht in die Welt rufen können: I have got a horse! Rudolf Baumgartner.

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