Das Jahr 1983: Eine schöne Klettersaison | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Das Jahr 1983: Eine schöne Klettersaison

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

s Jahr 1983:

Eine schöne Klettersaison

Claude und Yves Remy, Lutry

( Ganz wesentlich ist für mich die Einsicht, dass das blosse Zusammentragen von Gipfeln, Rekorden und anderen Leistungen sinnlos ist, wenn es nicht im Geist des einzig wahren Ziels geschieht: unsere innere Freiheit zu erlangen. ) Ivan Ghirardini Einführung Yves und Claude Remy sind besessen von der Suche nach Freiheit; ihrer Leidenschaft, den Bergen, opfern sie alles. Immer neue Routen zu suchen und zu erschliessen, aber auch in die Geschichte des Bergsteigens einzudringen, das sind seit Jahren ihre Triebfedern.

Erstbegehungen sind ihnen nicht Selbstzweck: sie beobachten und empfinden dabei tief, was ihnen die Gebirgswelt grossmütig offenbart.

Die beiden erleben gegenwärtig ausserordentlich fruchtbare Jahre. Zahl und Güte ihrer Erfolge kommen nicht von ungefähr: da steckt ihr Unternehmungsgeist, gepaart mit aussergewöhnlichen technischen Fähigkeiten, dahinter; und überdies geniessen sie die uneingeschränkte Unterstützung ihrer Familie. Gegenüber früheren Generationen zeigen sie tiefen Respekt, und ihre Auffassung vom Klettern ist geprägt von einer Ethik ( bzw. Ästhetik ), wonach eine Route ausschliesslich von unten her eröffnet werden darf, ohne verfälschende Vorbereitungen von oben.

Offen und frei in ihren Äusserungen, nehmen sie mit Gelassenheit die ach so häufigen Kritiken aus denjenigen alpinistischen Kreisen entgegen, die Wettkampf oft gleichsetzen mit Eifersucht. Welch kleinliche Auseinandersetzungen! Was für ein Sektierertum!

Wir sind Claude und Yves Remy dankbar dafür, dass sie ihre Funde und Neutouren be-kanntmachen und publizieren. Nur so werden auch unsere SAC-Führer reichhaltiger. Und wir rufen alle Seilschaften auf, sie möchten ebenso handeln. Uneigennützig praktische Informationen zu sammeln und auszutauschen kommt denen zugute, die nach uns kommen.

Maurice Brandt Verdon, du hast uns wieder!

Wie jedes Jahr im Mai erlebt unsere Klettersaison ihren Auftakt im Verdon.

Die Route Malices au pays des merveilles, zweite Seillänge. Nicht ohne ein mulmiges Gefühl gehe ich in diese teuflische Traverse, welche Kraft und Entschlossenheit fordert. Es gilt, einer feinen Rille zu folgen, die Mutter Natur mit Fingerspitzengefühl quer durch eine überhängende Wand gezogen hat; unter uns ist nichts als gähnende Leere.

Charakterisiert durch diesen herrlichen und erstaunlichen Riss, der wenig unterhalb der Abbruchkante des Gipfelplateaus zweihundert Meter weit horizontal durch die Wand verläuft, wird diese ausgerüstete Freikletterroute schon kurz nach ihrer Erstbegehung zu einer ( Classique ).

Dank unserem Heisshunger erschliessen wir während dieses doch eher kühlen Frühlings vierzehn neue Routen, und das in diesen berühmten Schluchten der Haute-Provence, wo doch hart um jeden jungfräulichen Quadratzentimeter gekämpft wird!

In La Paluds, dem Hauptquartier der Kletterer, schätzen wir die Liebenswürdigkeit und die herrlich mundenden Kuchen von Monsieur Cauvin, dem Dorfbäcker. Nebenbei ist er ein begabter Erzähler, der mit Leidenschaft die Schönheiten seiner Gegend zu besingen weiss. Sollte es Ihnen je vergönnt sein, ihm zuhören zu können, nehmen Sie sich die Zeit! Es braucht sie, denn eines seiner faszinierenden Gedichte, die er von A bis Z auswendig rezitiert, dauert... eine halbe Stunde! Es ist ganz natürlich, dass wir eine Route auf den Namen Cauvin getauft haben. Sie befindet sich auf der linken Seite des Verdonflusses, in der unauffälligen Irouelle-Wand, die man auf einem angenehmen Wanderweg in einer halben Stunde erreicht. Die Route ( Schwierigkeit: Sist ausgerüstet, verfügt über eine Höhendifferenz von zweihundert Metern und folgt einem hübschen, von der andern Seite gut sichtbaren Risskamin. So bietet sich also für Monsieur Cauvin von der Panoramastrasse aus die Gelegenheit, etwas Neues zu beobachten und... zu erzählen.

In La Paluds treffen sich zahlreiche begeisterte Kletterer von überall her, was dem Austausch von Gedanken, Plänen und heissen Tips nur förderlich ist. So begehen unsere Freunde Bernard Domenech und Bernard Bouscasse auf unseren Rat hin eine Route, die wir schon drei Jahre zuvor eröffnet, aber erst vor kurzem ausgerüstet haben. Es ist die Belle fille sûre an der rechten Flanke des Eperon des bananes. Beim Ausstieg sind die beiden derart begeistert, dass sie die Route sogleich wiederholen und erklären, sie sei schöner als die wirklich aussergewöhnliche Ula. Und Bouscasse muss es ja wissen, handelt es sich doch um eine seiner eigenen Routen. Eine solche Begeisterung scheint uns zwar übertrieben... aber gut tut sie uns doch!

Domenech erwähnt die fast unglaubliche Anzahl Routen, die seinerzeit F. Guillot im Verlauf einer einzigen Saison ( Ende der sechziger Jahre ) eröffnet hat1.

Dieser Hinweis löst eine eigentliche Lawine aus: während der folgenden Monate explodieren unsere Kräfte förmlich, und da wir Ende 1983 von günstigen Witterungsbedingungen profitieren, überschreiten wir sogar die magische Grenze von fünfzig Neutouren: eine pro Woche, auf ein ganzes Jahr gerechnet!2 Doch zurück zum Verdon: wie vorgesehen klettern wir auch bei schlechtem Wetter, was uns allerdings einige Selbstüberwindung kostet. Unter dem Schutzdach der Überhänge setzen wir zu einer grossen Tour an: sie erfordert weitgehend künstliche Kletterei und verläuft rechts der Corde tchèque und der Nycta-lopes. Resultat: dreihundert Meter ( AS ), und das, ohne einen anderen Weg weder zu berühren noch zu kreuzen. Eine herrliche Linie, deren Charakter vor allem durch das abschliessende Dach geprägt wird, das wir am Abend des dritten Tages in Hochstimmung überwinden.

Unser Erstbegehungsstil ist in diesem Gebiet etwas aus der Mode gekommen; dennoch verdient er es, in Erinnerung gerufen zu werden: wir gehen die Wand bzw. den Berg normalerweise ohne vorgängige Erkundung von unten her an und klettern dann bis oben durch. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Die Route Mégaphout ( unmittelbar rechts von der Barjots ) haben wir im letzten Frühling eröffnet, nachdem wir sie teilweise von oben her ausgerüstet haben. Die Kletterei war zwar herrlich, aber letztlich doch frustrierend, da wir erkannten, dass sich uns auch ohne die erwähnte Hilfe keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg gestellt hätten.

Die Zeiten ändern sich, und Kletterer haben damit begonnen, Wände von oben herab auszukundschaften. Am fixen Seil 1 F. Guillot kam, mit verschiedenen Seilgefährten, auf annähernd 50 Neutouren; gleiches gilt für den bekannten ostdeutschen Kletterer B. Arnold.

2 Es sind genau 52 Routen von über hundert Metern Länge, die wir gemeinsam als erste begangen haben, Varianten nicht mitgezählt.

und mit dem erforderlichen Materialnachschub konstruieren sie recht eigentlich neue Wege. Erst nachdem sie eine Route derart gründlich studiert, ausgerüstet und entschärft haben, wagen sie endlich die Durchsteigung von unten her!

Dieses Vorgehen, von oben herab zu erschliessen, kann in besonderen Fällen annehmbare Vorteile bringen, aber jeder übertriebene Gebrauch ist abzulehnen.

Bernard Gorgeon, den Mann des Südens und insbesondere des Verdon, brauchen wir wohl nicht mehr vorzustellen. In seiner einladenden umgebauten Scheune bei La Paluds überrascht er uns einmal mehr: mit Gitarren-begleitung singt er eine Eigenkomposition, von Patrick Berhault(l ) überarbeitet, wie er sagt. Es ist das Lied vom Felshaken! Die Single ist in Vorbereitung ( gleich dem neuen Ver-donführer ).

( Immer wieder entdeckt man Orte, Felsen, Berge, die einsam und abgeschieden, mithin privilegiert sind; andrerseits bremst jede Ge-heimniskrämerei nur eine Entwicklung, die nicht umkehrbar ist: die Eroberung der Berge.)3 In der Westschweiz Im Juni kehren wir heim in unsere bevorzugten Gefilde, die Waadtländer und Freiburger Alpen.

Die Gastlosen sind ein langgezogener Gipfelkamm mit beidseits fast senkrecht abfallenden Wänden von zwei- bis dreihundert Metern Höhe. Das Gebiet ist wenig bekannt, von Kennern aber hoch geschätzt. Die einheimischen Kletterer verfolgen allerdings eine recht eigenartige Politik, um einen übermässigen Ansturm zu vermeiden: sie lassen einfach nichts mehr über ihre Tätigkeit und ihre Erfolge verlauten! Die Frage ist, ob man es bedauern oder loben soll, dass der Reiz des Unbekannten auf diese Weise noch eine Weile geschützt wird.

In den Waadtländer Alpen, in den Felstürmen oberhalb Leysin, findet sich in der Mayen-Nordwand bloss eine einzige Route aus dem Jahr 1966. Vergeblich hat Dougal Haston später einen Seilgefährten gesucht, um 3 Patrick Cordier in: Les Préalpes du sud. Edition Denoël, 1981, Seite 86.

die Durchsteigung zu wiederholen, führt sie doch durch eine grosse überhängende Zone aus sehr brüchigem Fels, ähnlich darin gewissen roten Wänden des Vercors oder des Verdon.

Diese Route ist auch eine der letzten Unbekannten für uns in diesem Gebiet. Aber wenn wir schon mit einem Misserfolg rechnen müssen, so nehmen wir lieber das Risiko auf uns, uns in einer neuen Route zu versuchen! Und es gelingt uns links neben dieser Route von Layton Kor nach zehnstündiger Kletterei die Roulette suisse. Beim Ausstieg sind wir positiv überrascht und bestimmt weniger zittrig als Layton, der die Route nebenan eröffnet hat, denn der Fels auf unserer Linie ist nirgends gefährlich. Ein paar Freunde aus Leysin werden ja erstaunt sein, uns wohlbehalten wiederzusehen!

Die Südwände der Tour d' Aï und der Tour de Mayen sind von guter Felsbeschaffenheit, und es lohnt sich, die kürzlich eröffneten Routen zu begehen: so findet man am Diamant die Route Parégorique mit Stellen von herrlich ziseliertem Fels. Die Sphinx d' Aï hingegen ist bereits mit einem ganzen Netz von teilweise fabelhaften Routen überzogen; erwähnen wir nur den Harlin-Robbins-Riss, benannt nach der Seilschaft, die in diesem Massiv den Bereich jenseits des VI. Grades erschlossen hat. Links von dieser bemerkenswerten Route aus dem Jahr 1966 legen wir die Chaman. Neben ihrem hohen Schwierigkeitsgrad bietet sie eine wirkliche Besonderheit: der Fels ist stellenweise mit Tausenden winziger und schmerzhafter Dornen besetzt, die wir beim Klettern abreiben und so ein fast singendes Rieseln erzeugen, das unser Höhersteigen musikalisch umrahmt.

Es ist angebracht, hier an das bedeutende Erbe zu erinnern, das uns an diesen Türmen die grössten angelsächsischen Alpinisten hinterlassen haben. Beispielhaft ist die Route des Grand Dièdre am Diamant, 1965 vom grossartigen Trio L. Kor, R. Robbins und D. Whillians erstmals begangen.

Exzesse Am Fuss der Drus, Sommer 1980. Auf den ersten drei Seillängen der Directe américaine zählen wir... einundzwanzig Kletterer, ein richtiggehender Stau, verursacht durch eine nicht feststellbare Zahl von weiter oben aufgelaufenen Seilschaften. Und immer neue Anwärter auf diese ( Grande Classique ) strömen herbei! Angesichts einer solchen Situation ziehen es manche vor, mit Kummer im Herzen und einer Träne im Auge zu verzichten. Diese Art von ist manchmal kaum noch auszuhalten... Wo bleibt die Einsamkeit, wo die unberührte Natur?... Immer mehr Abfälle bleiben liegen, immer mehr Material bleibt in Fels und Eis zurück!

An den Wänden im nichtalpinen Gebiet sind die Probleme noch zahlreicher und schwerwiegender. Tier- und Pflanzenwelt erleiden ir-reparable Schäden. Belästigungen, denen die Anwohner von Kletterdorados ausgesetzt sind, bewegen nicht selten die Behörden dazu, den Zutritt ganz zu verbieten. Um die Freiheit unseres Sports zu bewahren, ist es höchste Zeit, dass wir Land und Leuten, Klettergärten und ihrer Umgebung mehr Respekt entgegenbringen.

In der Zentralschweiz Seit drei Saisons zieht uns die Deutschschweiz - trotz Sprachbarriere - immer mächtiger an. Die Berner und Urner Alpen bieten eben wahrhaftig alles, um den anspruchsvollsten Kletterer zufriedenzustellen. Und vor allem sind diese weiten Gebiete noch so wenig ausgelotet!...

Zweimal begeben wir uns in den herrlichen, abgelegenen Kessel des Sulzbachs, südöstlich des Klein Wannenhorn, über dem Fieschergletscher. Es gibt keinen Weg dorthin, und man braucht mehrere Stunden - mit dem gesamten Biwakmaterial auf dem Rücken -, um dieses Kletterparadies zu erreichen. Hier finden sich auch keine menschlichen Spuren, keine Abfälle ausser - bedauerliche Ausnahme - zahlreiche Geschosse der Armee!4 Da stehen wir Aug in Aug mit fünfhundert Meter hoch aufragenden unberührten Wänden! Wir wissen nicht, wo anfangen, so sehr juckt es uns, an verschiedenen Stellen gleichzeitig loszuschlagen. Diesen Übermut vermag nicht einmal der Schneesturm abzukühlen, der uns, bei unserer ersten Fühlungsnahme, auf der Spitze des Südlichen Wannenzwillings überrascht. Deshalb entbehrt dann auch der Abstieg bei Nebel, Hagel und Schnee, mit der 4 Zwischen dem Fiescher-Plateau ( über dem Gletscher ) und der Höhenkote 2681 am Fuss des Sporns E Pt.3432 haben wir beim Aufstieg 17, beim Abstieg auf einem anderen Weg 13 Geschosse gezählt!

gewohnt leichten Kletterausrüstung natürlich, nicht einer gewissen Dramatik!

Tags darauf sind wir trotz durchnässtem Material und weiss überzuckerten Felsen nicht davon abzubringen, unsere Eröffnungsarbeit wieder aufzunehmen. Leider enttäuscht uns die manchmal mittelmässige Felsqualität etwas. Doch am ( Dôme du Slot ), wenig oberhalb des Fieschergletschers, entdecken wir vorzüglichen Granit. Bis anhin sind wir noch nie derart stark ( von der Erosion ) ( bearbeitetem ) Urgestein begegnet: stellenweise gleicht es dem Werk eines Steinmetzen! Das beglük-kendste Erlebnis dieses Tages ist jedoch der Flug eines Adlerpaares, das uns beim Klettern aus nächster Nähe beobachtet. Die Eleganz ihres Kreisens ist unbeschreiblich: im warmen Aufwind der Südwand des steigen sie kreisend höher und höher, dann, hoch oben am Himmel, entfernen sie sich ohne einen einzigen Flügelschlag, bis sie sich als Punkte am Horizont verlieren.

Anfangs 1981 kannte kein Mensch die Felsdome an der Grimsel. Innerhalb zweier Saisons eröffneten wir dort in fieberhafter Aktivität zahlreiche Routen. Jetzt hat der Ort bereits seinen festen Platz im Kletterrepertoire gefunden und gilt sogar als das schönste Zentrum für Granitplattenkletterei in Europa! Fast unglaublich erscheint uns dabei die allgemeine Begeisterung für die Routen des

Klettern ist hier nur während einer kurzen Zeitspanne möglich, und dennoch haben sich in zwei Sommern annähernd 1500 Seilschaften eingefunden! Diese Liebe auf den ersten Blick hat ihren Grund in der makellosen Beschaffenheit des Aargranits und allgemein im landschaftlichen Reiz des Gebiets. Die Seillängen sind hier eine Folge von herrlichen Höhenflügen, und insbesondere an der Septumania gleicht das Klettern einem Tanz. Nicht unwesentlich ist, dass die Südexposition die beliebte leichte Kleidung zulässt. Die Ausrüstung mittels Bohrhaken M 10 ist zuverlässig, doch bleibt die zusätzliche Verwendung von Klemmkeilen unumgänglich. Es ist uns vorge- worfen worden, die Kunde von der Existenz solcher Kleinode unnötig verbreitet zu haben... Andere haben unsere Namengebung als geschmacklos qualifiziert, offenbar ohne zu bedenken, dass es die erbrachte Leistung ist, die einem das Recht gibt, eine Route zu taufen...

Die Krone gebührt unzweifelhaft der Route Marche ou crève, zwischen Septumania und Motörhead, wo das Auge an einer hoffnungslos glatten Wand abprallt. Erst beim direkten Kontakt kann man anders urteilen! Anfangs Juli erkämpfen wir uns diese Route in mehreren Tagwerken; einige Vorarbeit haben wir allerdings bereits im Vorjahr geleistet. Die Marche ou crève bereitete uns besondere Mühe Am Petit Clocher du Portalet:

Bei der Erstbegehung der Route

Plattenkletterei in Vollendung bietet schliesslich eine unauffällige Wand in der Schöllenen, nur wenige Minuten von der Gotthardstrasse entfernt. Die Schönheit und Vielfalt der Bewegungen in der Route Inox ( AS, 200 m ) wird bei jedem Kletterer unauslöschli- che Eindrücke hinterlassen. Und für die, welche sich im VI. Grad etwas langweilen, sei erwähnt, dass wir bei der Erstbegehung mit vierzehn künstlichen Haltepunkten geradezu verschwenderisch umgegangen sind...5 Seit einigen Jahren klettert man mit dem Segen der UIAA nun auch im VII. Grad ( haben wir denn das nicht schon vorher getan ?). Dieser VII. Grad soll also die menschlichen Möglichkeiten nach oben abgrenzen. Sollte die Kletterei danach etwa übermenschlich oder gar unmenschlich werden?

5 Inzwischen ist diese Route ohne jegliche Verwendung von Haltepunkten ( ), durchstiegen worden, wodurch sich die Schwierigkeiten tatsächlich beträchtlich erhöht haben. Die Red.

Jhotos C und Y Remy * Wir erlauben uns, hierzu ein paar Überlegungen anzustellen: In gewissen Regionen schiessen die Routen im VII., ja VIII. Grad nur so ins Kraut, und bereits wird am IX. geritzt! Und doch werden diese Kletterwege so häufig begangen, dass man bereits anstehen muss... Verwirrend und beunruhigend, nicht wahr?

In anderen Gegenden wird bei der Erteilung des VII. Grades äusserste Zurückhaltung geübt, die Begehungsversuche sind selten, und noch seltener die Erfolge. Es gibt offenbar von Gebiet zu Gebiet beträchtliche Unterschiede in der Einstufung6, was beim ersten Kontakt zweifellos eine Unbekannte mehr mit ins Spiel bringt. So - und wir werten dies eigentlich po-sitiv- haben die Kletterer gegen eine mögliche Vereinheitlichung des Bewertungsmass-stabs reagiert.

Die Leistungen eines jeden stellen eben eine subjektive Wirklichkeit dar, und jeder empfindet die Schwierigkeit entsprechend seinen momentanen Möglichkeiten und seinem Erfahrungsstand. Für die einen heisst Freiklettern seilfreie Solobegehungen unter völligem Verzicht auf jegliche Hilfsmittel: Klettern ohne Magnesia, mit blossen Händen und Füssen! Andere benutzen Haken oder Klemmkeile als künstliche Griffe, lehnen aber Trittleitern ab, und betrachten dies als Freikletterei. Die Mehrheit unter uns nimmt allerdings ein gehöriges Mass an direkter oder indirekter materieller Hilfe in Anspruch, zu Sicherungszwecken jedenfalls.

Verwenden wir doch die Angaben über den Schwierigkeitsgrad im Bewusstsein, dass sie relativ sind, und lernen wir das, was wir tun, und das, womit wir uns messen, selbst besser einzuschätzen. Der unvergleichliche G. Livanos möge uns daran erinnern, was freies Klettern ist:

neben unsere Routen im Grimselgebiet. Die Skizze verlockt zu einer Begehung, und wir lassen uns nicht zweimal bitten.

An jenem Tag stimmt alles: wir klettern leicht, in einer ausgerüsteten, geradezu nar-rensicheren Route. Der ausgezeichnete, besonnte Granit ist ein gleissender Panzer. Wir suchen Stellen, wo er verwundbar ist. Die ( Bestie ) ist jedoch harmloser, als wir angenommen haben. Oder sind wir einfach eine Spitzenseilschaft in TopformNicht gar! Aber der in der Deutschschweiz übliche VII. Grad entspricht eben unserem VI.7 Wie dem auch sei, die Tatsache, dass wir eine Route dieser Währung so flüssig durchsteigen, deutet wohl doch auf eine gewisse Sicherheit hin.

Ich sehe mich schon friedlich nach Tiefenbach zum Auto zurückkehren, um ein wenig von Musik zu hören. Mein Bruder Yves aber zeigt sich unermüdlich und schlägt mir vor, noch durch die Nicotina zu turnen. Und so befinden wir uns schon bald wieder am Einstieg, im Schnee des Couloirs.

Die Nicotina ist eine unausgeglichene Route; dafür bietet sie eine mustergültige Ausstiegsverschneidung, einen traumhaften, unvergesslichen Finish.

Die angenehme Fortsetzung des Programms hat uns zudem erlaubt, ein paar verlockende Details in der Wand zu erspähen.

Voll Tatendrang sind wir anderntags wieder zur Stelle, diesmal mit Material, das unseren hochfliegenden Plänen entspricht. Mit einem Blick hat Yves, Führer unserer Seilschaft, die Situation beurteilt:

Diese Auffassung vom Klettern zu verstehen und ihr nachzuleben ist eben -wie das Beispiel dieser älteren SACler zeigt- keine Frage des Alters, sondern der Einstellung.

Unser Ausstieg verläuft nicht durch die markante Verschneidung rechts der klassischen Route. Nach einem Versuch stellen wir 7 Vgl. dazu nochmals Anm.6. Die Red.

fest, dass der untere Teil nur mit künstlicher Kletterei zu schaffen wäre, und im übrigen drohen lose Felsschuppen jeden Moment hinabzustürzen. Schliesslich können wir unmittelbar links neben der Nicotina-Verschneidung problemlos weitersteigen. Auch hier lassen sich auf den letzten Metern drei Schritte A1, die einzigen allerdings, nicht umgehen: als Tritte dienen uns dabei drei Haken, die wir stecken lassen. Die Ausrüstung der Route ist uns also billig zu stehen gekommen! Übrigens, wir haben sie nach einer wirklich hörenswer-ten Hard-Rock-Band Accept getauft.

Die jungfräulichen Aufschwünge der Grauen Wand haben es uns angetan: noch dreimal werden wir hierhin zurückkommen und unsere Spuren in dieser Südwand hinterlassen.

Selten kehren wir enttäuscht von unseren Unternehmungen zurück: selbst in einer eher wenig interessanten Route stecken ein Körnchen Abenteuer und ein Stück Erfahrung. Übrigens, etwas Würze verleihen manchmal auch ungünstige Witterungsbedingungen, und wir halten es mit dem berühmten englischen Kletterer Ron Fawcett: ( Klettern bei jedem Wetter und in jedem Fels !) Die freien, nur mit Hilfe von Klemmkeilen abgesicherten Begehungen haben den grossen Vorteil, sauber und natürlich zu bleiben, solange wenigstens, als dieser Stil respektiert wird. Auch der sehr direkte, subtile Kontakt mit dem Fels und die elegant-harmonischen Bewegungen sprechen für diese Technik.

Kennen Sie das Gross-Bielenhorn, diesen an sich unbedeutenden Gipfel unweit des Furkapasses? Nur Eingeweihte wissen, dass es in seiner Südwestwand lohnende Routen in bestem Granit gibt. Einziger Schönheitsfehler ist ihre eher geringe Länge... So durchsteigen wir auch mühelos in einem Zug ihre ( klassische ) Führe. Im unteren Teil folgt diese der Niedermann-Route ( schon wieder eine !), dann verläuft sie weiter rechts, entlang einer ausgeprägten Verschneidung. Wir setzen unser Programm gleichentags fort mit der neuen, nicht weniger reizvollen Route von Starkl. Nebenbei nutzen wir die Gelegenheit, die noch unbegangenen Wandteile in Gedanken an den kommenden Tag auszukundschaften.

Ohne eigentliche Schwierigkeiten und ohne einen Hammerschlag eröffnen wir glücklich die Voodoo, rechts der Niedermann-Route:

Zu Beginn folgt sie einem geradezu raffinierten Riss, dann geht 's weiter frei und nur mittels Klemmkeilen über einen schönen Sporn, was bedeutend angenehmer, rascher und weniger arbeitsintensiv ist als mit Haken.

Im Verlauf dieser phantastischen Saison 1983 werden wir noch mehrmals die Chance haben, Routen zu eröffnen.

Graue Wand ( Urner Alpen ): In der sehr schönen Route Den Portalet sehen und... den Schock seines Lebens erleiden!

( Was wollt ihr noch ins Yosemite, geht zum Petit Clocher des Portalet !) So äusserte sich Marco Pedrini im Sommer 1983 bei seiner Rückkehr von der Zweitbegehung der Route Etat de Choc.

Im Laufe der Jahre und mit zunehmender Erfahrung ändern wir unseren Stil und unser Empfinden. Auch die Regeln, die wir uns auferlegen, sind einem steten Wandel unterworfen, und grundsätzlich ist alles, was wir im alpinen Bereich ausprobieren, faszinierend und vielfältig. Gegenwärtig gilt für zahlreiche Kletterer das Prinzip des Freikletterns, und sie sehen darin eine eigentliche Kunst. Von vollendeter Schönheit ist dabei das offene, ehrliche

Gewiss ist nicht alles spielerisch und unbeschwert in diesen Wänden, wo wir oft Mühsal und Leiden erfahren. Aber zurück bleibt letztlich nur ein Gefühl: das der Befreiung.

1972 bestiegen wir beide die Nordwand des Petit Clocher am Portalet im Trient-Massiv. In Erinnerung bleibt uns eine harte Tour in prächtigem rötlichen Granit. Auf den langen, noch unbezwungenen Riss in der linken Flanke der Wand hatten wir wohl ein paar sehnsüchtige Blicke geworfen, denn damals schon versuchten wir uns ab und zu an etwas Neuem. Aber bei der zum Teil selbstgebastelten Ausrüstung und vor allem in Anbetracht unseres technischen Ungenügens hatten wir bald eingesehen, dass sich an diesem Riss messen nach den Sternen greifen hiesse.

Ein paar Jahre später sagte man uns dann, der Riss sei bezwungen worden. Doch unser Freund René Buémi, als Sohn des früheren Hüttenwarts der Trienthütte ein Kenner des Gebiets, überzeugte uns vom Gegenteil: noch keiner sei dort durchgekommen.

Er hatte recht. Immerhin waren schon zahlreiche Versuche unternommen worden, davon zeugten die verrosteten Haken und Bohrhaken, faulende Holzkeile, ein grosser Klemmkeil gar, der offenbar erst wenige Tage vor unserem Besuch dort plaziert worden war.

Wer immer sich dem Nordabsturz des Portalet nähert, den schlägt dieser einzigartige, geheimnisvoll zum Himmel weisende Pfeil in seinen Bann. Wieviel Reinheit liegt doch in dieser unvergleichlichen Linie! Auch wir zeigen uns beeindruckt: der Riss scheint stellenweise überhängend zu sein.

Wir erreichen den Einstieg am frühen Nachmittag und haben die Absicht, den unteren Teil der Route zu erkunden und Material zu deponieren. Aber nur zu leicht erliegen wir der Versuchung des Kletterspiels. Nach dem Vorbau gehen wir mit unverhohlenem Vergnügen in die ersten extremen Seillängen: Risse sind nämlich unsere Spezialität, und obwohl wir stellenweise kaum vom Fleck kommen, lassen wir unserer überschäumenden Freude freien Lauf und jauchzen und johlen. Die Route verläuft in ausgezeichnetem, senkrecht abfallendem Granit, Fels, wie er steiler und kompakter nicht sein könnte.

Plötzlich hält Yves inne und bittet mich freudestrahlend, ihm am Hilfsseil einen grossen Klemmkeil mit verstellbarem Durchmesser hinaufzuschicken. Er hat just die passende Verwendungsmöglichkeit für diesen gefunden. Die wenigen Sicherungs- bzw. Fortbewegungspunkte für eine ziemlich heikle -Passage sind bald mit Felshaken oder grosskalibrigen Bohrhaken ( M 10 ) ausgerüstet. Wir plazieren sie nach bestem Wissen und Gewissen, damit die Route künftig frei begehbar wird.

Wir sind höher gekommen als vorgesehen, die Stunden sind nur so zerronnen. Für die Nacht steigen wir ab zur schönen und komfortablen Orny-Hütte, wo sich der Hüttenwart trotz vorgerückter Stunde und Grossandrang bereit erklärt, unser Abendessen zuzubereiten. Seine Herzlichkeit ist grenzenlos, als er uns tags darauf bei unserer Rückkehr darum bittet, uns ins Goldene Buch der Hütte einzutragen!

Früh am nächsten Morgen befinden wir uns, winzig und verloren, in der weiten, grossartigen Felsgeometrie des Petit Clocher du Portalet. Schon zum zweiten Mal scheuchen wir eine Dohlenfamilie auf. Mit ein paar Flügelschlägen suchen die Alten sichtlich verärgert 8 Eh bien si, elle existe, chez nous, la compétition. ) P. Allain in seinem Buch ( Alpinisme et compétition ), neue Ausgabe 1978, Seite 15.

Aus dem französischsprachigen Teil. Übersetzt von Christoph Rohr, Bern das Weite. Die Jungen, noch nicht flügge, beobachten uns spöttisch und warten dann brav ab. Noch ein paarmal schmerzhaftes Verkeilen mit der Faust, und wir verlassen die Unwirtlichkeit der Wand, erreichen den Gipfel. Unsere innere Bewegtheit, ein Empfinden, das für uns einzigartig ist, lässt sich weder ausdrücken, noch beschreiben. So ist es unser höchstpersönlicher Schatz, aber auch ein Schatz, den wir mit Gleichgesinnten teilen.

Um die Gesamtschwierigkeit dieser Erstbegehung von Etat de choc anzugeben, haben wir zwischen AS- und AS geschwankt. Wenn wir uns schliesslich doch für AS entschieden haben, so wegen des erforderlichen Durch-stehvermögens und dem hohen Mass an Exponiertheit. Die wenigen belassenen Sicherungshaken dürften für die folgenden freien Begehungen kaum etwas an unserer Einstufung ändern.

8 Der Wettkampf ist uralt und hat schon lange vor dem Klettern bestanden: er ist dem Menschen sozusagen angeboren. Was das Klettern betrifft, tritt er gegenwärtig sehr ausgeprägt in Erscheinung. Unzweifelhaft erfordert es ein tägliches Training mit langfristigem Aufbau und spezifischen Übungen, will man die höchsten Schwierigkeiten anpacken.

Die gegenwärtige Form des Wettkampfs scheint uns gesund und anregend zu sein. Sie lässt jedem die freie Wahl und fördert den persönlichen Unternehmungsgeist. Falls man einer finanziellen Unterstützung bedarf, kann man sie ohne allzu grosse Mühe erhalten, sei es in Form eines Sponsorbeitrags oder durch eine Arbeit im Bereich des Bergsports, etwa als technischer Berater oder als Mitarbeiter von Fachzeitschriften. Überdies leben wir in einer privilegierten Gesellschaft, welche die Tätigkeit des Spitzensportlers erleichtert. Allerdings, wollte man unserem Sport einen auch nur beschränkt offiziellen Rahmen geben, würde das unserem Freiheitsbedürfnis direkt zuwiderlaufen. So wünschen wir, der Wettkampf möge nie in dieser, von gewissen Kreisen leider angestrebten Richtung weitergetrieben werden.

Feedback