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Das Tavetsch

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Von Walram Derichsweiler.

avetsch? Was ist das für ein eigentümlicher Name? Liegt das auch im Bündner Oberland? Tavetsch, romanisch Tujetsch, ist eine bündnerische Gemeinde des Bezirkes Vorderrhein im Kreise Disentis. Wer ist nicht schon einmal von Andermatt aus dem Urserental über den Oberalppass — die Tavetscher sagen « sur Quolm d' Ursera », in Abkürzung « sur Quolm » — nach Disentis ins Vorderrheintal gewandert oder umgekehrt? Dann kam er durch das ganze Tavetsch hindurch. Dort, wo der Bach der Val 1 ) Gierm ( romanisch = Grenztal ) von Süden in den Vorderrhein fliesst, durchschneidet die Talstrasse die östliche, und oben auf der Oberalppass-höhe beim Gasthaus zum Hospiz die westliche Grenzlinie der Gemeinde Tavetsch. Meist kurze, steile Täler laufen dazwischen von der Talsohle zum nördlichen Grenzkamm von Uri hinauf. Lange Täler ziehen nach Süden zum Tessiner Grenzkamm. Etwa 130 km2 umfasst, auf der Karte gemessen, das Gebiet dieser obersten Gemeinde des Bündner Oberlandes. Es weist zum grössten Teil unproduktiven Eis-, Fels- und Schuttboden auf. Daher beträgt die Bevölkerung da oben in 1400 bis 1600 m Höhe bloss etwa 830 Personen. Ständig bewohnt ist das Haupttal, die Seitentäler werden nur im kurzen Sommer mit Vieh bestossen, sind im Winter verlassen. Einen Ort Tavetsch gibt es nicht und hat es auch nie gegeben, obwohl alte Karten einige Häuser andeuten mit diesem Namen, obwohl alte Landes-beschreibungen einen solchen als Ortsnamen anführen und obwohl Resch sogar eine Stadt der Rätier an den Quellen des Rheins, Taxgaetium, die er bei Ptolomaeus ( 138 bis 161 n. Chr. ) fand, im Anhang zu seiner 1755 gezeichneten Karte Rätiens im 5. Jahrhundert als Tavetsch erklärt, was aber gar keine Berechtigung hat. Der Name Tavetsch umschliesst eine Gemeinde aus mehreren Ortschaften. Sedrun ist der Hauptort, ob der älteste Ort ist fraglich. In einer Urkunde von 1456 sind zwei Höfe Sor-und Sut-Dragun angegeben. Aus Sut-Dragun ( d.h. unterhalb des Drun = Wildbach ) ist dann der Name Sedrun entstanden, wie er 1555 vorkommt neben Sudragun. Ein Sur Sedrun ( Sedrun sura ) besteht noch. In Sedrun ( wenn nicht in Rueras ) dürfte wohl die älteste Talkirche gestanden haben, nach welcher der Ort auch romanisch S. Vigeli genannt wurde. Bei der Besetzung der Hauptämter der Gemeinde wechseln jetzt Bürger von Sedrun mit solchen der benachbarten Ortschaften Rueras und Camischolas ab. Ausser den genannten Ortschaften zählen noch folgende zur Gemeinde Tavetsch: Bugnei, Cavorgia, Gonda, Selva, Surrhein, Tschamut, Zarcuns und einige Höfe. Die hauptsächlichsten der dortigen Geschlechtsnamen sind: Berther, Deflorin, Monn, Cavegn, Venzin, Caduff, Curschellas, Soliva, Beer, Schmid, Riedi, Peder, viele schon in alten Urkunden und Rodeln genannt. Die Tavetscher sind ausschliesslich Rätoromanen und katholischen Glaubens. Was weiss man aus alten Zeiten von TavetschDa müssen wir weit ausholen. Die lange Scharte, welche die Alpen von Chur bis gegen Genf in einem Zuge durchreiset und welche nur stellenweise durch einige Gebirgsknoten leicht unterteilt ist, muss jedenfalls schon zu früher Zeit die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen haben. Da wanderte Volk in ihr hin und her. Schon unter dem Kaiser Augustus waren Wallis und Rätien zu einer einzigen römischen Provinz vereinigt. Gemäss einer im Arvetal ( Vallée de Chamonix ) aufgefundenen lateinischen Inschrift wurden um das Jahr 74 n. Chr. das südliche Ufer des Genfersees, das obere Rhonetal und Rätien von einem einzigen römischen Procurator verwaltet. Daraus darf mit Berechtigung der Schluss gezogen werden, dass sich zu jener Zeit schon ein für Krieger begehbarer Weg von den östlichen Bündnerpässen ab Italien über Chur, Oberalppass, Furka und durch das Wallis zum Genfersee hinzog. Ziehendem Kriegsvolk schlössen sich Händler an, teils des Handels mit dem Heere, teils des Schutzes wegen, den das Heer den Händlern bieten konnte. Aus dem Mittelalter haben sich Urkunden erhalten, welche erkennen lassen, dass ein reger Handelsverkehr mit Ochsenwagen, Eseln, Saumtieren und Trägern zwischen Sitten und Chur, also auch durch das Tavetsch, bestand. 1253 z.B. findet man in Sitten im Wallis als Zeugen einen Warnerus und einen Martinus, beide Säumer ( asinarii = Eseltreiber ) aus Chur, angegeben. Ein anhaltender Handelsverkehr zwischen Wallis und Chur geht auch aus einer Urkunde von 1420 aus Ursern hervor, in der es heisst: « als denne die von Kurwalchen ( Chur ) und die von Wallis durch unser tal farent und fil Wandlung ( Wanderung ) hant mit ir som ( Saum ) rossen. » So war Tavetsch zunächst ein Durchgangsgebiet für Kriegs- und wohl noch mehr für Handelsvolk. Um 614 wurde das Kloster Disentis gegründet. Die Überlieferung lässt dabei den Gründer, St. Sigisbert ( romanisch soing Zipert ) den Oberalppass überschreiten. Demgemäss sagt Muoth in seinem Gedicht « Igl Eremit S. Sigisbert »:

« Dal cuolm d'Ursera si camina spert Il venerabel pader Sigisbert 1 ). » ( Über den Oberalppass kam hurtig des Weges der ehrwürdige Pater Sigisbert. ) Und in einem Liede des Geistlichen Blumengartens von 1685 heisst es:

« Sant Sigisbert vom Papst gesandt, Verliesse sein Gespanen. Von Ursern kam in dises landt, Zu predigen Christi namen. » Schon im 12. Jahrhundert stand das ganze Gebiet von Tavetsch unter dem Kloster Disentis, dessen Grundherrschaft sich sogar über das Ursem-tal erstreckte, weshalb beide Landstriche auf eine verwandte Geschichte zurückschauen können. Gatschet ist der Ansicht, Tavetsch und Tujetsch kämen beide von dem mundartlichen Wort tigia = tegia = Sennhütte und der Endung -etia her, hätten also die Bedeutung « Tal mit Sennhütten ». Diese Namendeutung des Tales durch seine ersten spärlichen Bestosser erscheint natürlich. Diese dürften im Tavetsch Oberländer gewesen sein, wie aus alten Familiennamen ( de Medel, Soliva ) erkennbar ist. Im Urserental hatten sich Walser aus dem Wallis angesiedelt, deren sprachlicher Einfluss über den Pass ins Tavetsch zeitweise vordrang, findet man doch auch Familien- und Ortsnamen deutschen Stammes. Die rege Verbindung zwischen dem Wallis und Chur beweisen auch die Tatsachen, dass Bischof Friedrich I. von Chur mit dem Bischof Peter von Sitten 1282 ein Schutzbündnis abschloss und im Verein mit dem Abt Simon von Disentis 1288 in Vsera ( Ursern ) ein solches mit fünf Walliser Herren.

Den Namen Tavetsch findet man zuerst in einer Urkunde von 1285. 1325 zeichnen die Tavetscher eine Urkunde als « vicini de Tuvez », also als Gemeindebürger. Um diese Zeit muss sich daher die Gemeinde gebildet haben. Die älteste Urkunde mit einem Tavetscher Gemeindesiegel, die ich fand, stammt aus dem Jahre 1681, obwohl schon früher ein solches bestanden haben dürfte. 1380 heisst es aber noch: « won wir lüten von Thyfetz aigner insiglen nit han. » Das jetzt in Gebrauch befindliche Gemeindesiegel von Tavetsch ( siehe Initiale ) zeigt St. Vigilius 1 ), den Bischof von Trient, mit der Märtyrer-palme in der Hand und einer Kirche auf dem Arm. Die Inschrift lautet: « SIGILLUM COMUNITATIS AETHUATIENSIS»Siegel der aethua-tischen Gemeinde ). Diese Inschrift beweist, dass dieses Siegel nicht vor 1560 entstanden sein kann, denn in diesem Jahre erfolgte zuerst die Bezeichnung der Tavetscher als Aethuatier. Gilg Tschudi, der Geschichtsschreiber von Glarus, schrieb nämlich 1560: « Die ersten so ob alle voelkern by dem Rhin wonendt / sind die Etuatiker / denë der vrsprung des Rhins nach ist in dê berg Adula / schrybt Strabo. Disen namen habend noch die oeberste bysessen by dem vordem Rhin behalten / werdendt vhs verboeserung nach grobheyt yetziger art der spraach / Tauetier / oder Tauetscher genannt /. » Allerdings schrieb Strabo: « Am Rhein als die ersten von allen wohnen die Aethuatier. » Aber aus dem darauf folgenden Originaltext ist deutlich erkennbar, dass Strabo hier den Hinterrhein meint und nicht den Vorderrhein, denn er weist auf die Nähe der Adda hin, die in den larischen See, den Comersee, fliesse. Das « vordem » hat also Tschudi eigenmächtig und irrtümlich eingefügt. Auch Campell 1571, Guler 1616, Scheuchzer 1716, sogar der Geschichtsschreiber Joh. von Müller bringen Tschudis etymologisches Märchen, die Tavetscher seien Nachkommen der Aethuatier und hätten von diesen ihren Namen.

Wandern wir einmal an einem schönen Tage in Disentis die Hauptstrasse hinauf, am hochragenden Kloster vorbei, unterhalb der Klosterwiese durch, auf der im Laufe der Jahre mancher stürmige cuminLands-gemeinde ) abgehalten wurde, so kommen wir bald an eine Strassenscheide, die nach Ansicht einiger Historiker dem Ort den Namen auch gegeben haben könnte. Den ältesten Versuch, den Namen Disentis etymologisch zu deuten, finden wir in einer Urkunde von 846 selbst, in der es heisst: « Desertinense, a vicinitate alpium deserti vocabulum tenens ( Disentis, von der Nachbarschaft der Alpen den Namen einer Einöde besitzend ). Nach der oben angedeuteten Ableitung würde der Name aber nicht vom lateinischen desertinumEinöde ) herkommen, sondern von den romanischen Wörtern disauseinander ) und sendaPfad ). Das bedeute also die Stelle einer wichtigen Wegscheide. Hier fällt nun ein Weg nach links ab, um jenseits des jungen Rheins zum Lukmanier aufzusteigen und sich ins Tessin zu senken, während nach rechts die Strasse weiter ansteigt zum Oberalppass, um dann ins Urnerland abzufallen. Beide Wege verfolgen alte Saumpfade. 20 km zählt man bis zur Lukmanierpasshöhe und 21 km bis zur Oberalppasshöhe.

Über der Medelserschlucht ragt die Scopigruppe auf wie ein einziger Berg. Rechts davon grüsst das alte, sehenswürdige Kirchlein Sontga Gada und das aussichtsreiche Dörflein Mompé Medel, das Gegenstück zum gegenüberliegenden Mompé Tavetsch. ( Mompé = pede montis = am Fusse des Berges gelegen. ) Oberhalb der alten Pfarrkirche St. Johann ( 1400 in campo = auf dem Felde genannt ), führt die Strasse durch das Schlachtfeld von 1799, wo die Kämpfe der Oberländer gegen die Franzosen stattfanden. Vom Kirchhof drüben sandten die Bündner Schützen ihr tödliches Blei. Allerorts auf dem folgenden Wege werden Erinnerungen an die « Franzosenzeit » wach, von der die Alten heute noch reden, weshalb hier kurz auf diese Ereignisse eingegangen werden soll. Das war zur Zeit der Bildung der helvetischen Republik. Da standen sich im Bündnerland zwei Parteien gegenüber, die französisch gesinnten Patrioten und die österreichisch gesinnten Aristokraten. Letztere riefen die Österreicher zur Hilfe, und im Oktober 1798 erschien der österreichische General Auffenberg « zum Schutze des Landes ». Das hatte nun einen französisch-österreichischen Kampf auf bündnerischem Boden zur Folge. Der französische Feldherr Massena drang mit seinem Heere über die Luziensteig ein, und der französische General Demont stieg mit Truppen über den Kunkelspass. Auffenberg musste sich ergeben und Bünden der helvetischen Republik beitreten. Von Ursern her war der französische General Loison in das Tavetsch eingedrungen und hatte die Österreicher zurückgedrängt. Durch Ermordung und Quälung von Tavetschern, durch Räubereien und Verhöhnungen gereizt, erhoben sich die Oberländer unter Caprez und Castelberg und schlugen die Franzosen. Loison zog sich nach Ursern zurück, aber Demont drang von Osten hinauf. Er schonte die Oberländer. Loison löste Demont ab und belegte das Kloster mit schwerer Geldbusse. Es gährte wieder im Volke. Am 1. Mai 1799 erhoben sich die Tavetscher. Am folgenden Tag eilten die Medelser nach Disentis hinab und nahmen die französische Besetzung gefangen. Die Gefangenen wurden rheinab gegen Truns geführt. Ausserhalb Disentis aber erschlugen die Medelser ihre Gefangenen. Dann jagte der Oberländer Landsturm, durch die Lungnezer verstärkt, die Franzosen Chur zu. Plötzlich erschien General Menard über die Luziensteig, schlug den schon gelockerten und im Veltliner schwel-genden Oberländer Landsturm in der « battaglia della pun Rehanau » ( Brücke zu Reichenau ) in die Flucht und drang gegen Disentis vor. Das Dorf und das Kloster mit dem wertvollen Archiv und der Bibliothek wurden verbrannt. Am 14. Mai jedoch stürmte der österreichische General Hotze die Luziensteig. Die Franzosen zogen ab, und die Österreicher führten nun das Regiment im Bündnerland. Das ist heute noch den Bündnern wohlbekannt, aber manchem Nichtbündner mögen diese Angaben willkommen sein, da auch jetzt noch im Tavetsch vom Franzosenkrieg gesprochen wird.

Schreiten wir nach diesem historischen Rückblick die Oberalpstrasse weiter hinan. Das Geleise der streckenweise für das Zahnrad ausgerüsteten Bahn wird mehrfach über- und unterschritten. Hier berühren sich die verschiedensten Zeiten, denn noch sind vergraste Überreste des alten, stein-gepflasterten und steinbegrenzten Säumerweges erkennbar. Rechts am dunklen Tannenwald, überkrönt von dem von hier klotzig erscheinenden Piz Cavardiras 1 ), von der Scharte des Brunnipasses und von dem Zahn des Piz d' Acletta, leuchtet ein weisses Kirchlein herüber. Das gehört zu Acletta ( kleines Landgut ) und ist berühmt durch sein Madonnenbild, welches der spanische Maler Murillo ( 1617—1682 ) in Sevilla nach der Safierin Maria Juon gemalt habe, deren Gemahl Hauptmann der Schweizergarde dort gewesen sein soll. Auch wenn dies nicht beurkundet ist, so zeigt das Bild jedenfalls südländischen Einfluss und ist von hervorragender Schönheit. Von der Kapelle hat man einen schönen Überblick über die Disentisermulde, so dass sich ein Gang dem alten Wege nach über Acletta und Segnes lohnt. Aber auch auf der Strasse bekommt man bei der Kehre unterhalb Mompé Tavetsch einen guten Rückblick auf die Disentisermulde.

Schon tauchen Szenerien des Tavetsch auf. Immer mehr kommt es zum Vorschein. Geradeaus sieht man die Stadel von Milez hoch oben liegen. Nun geht es unter dem idyllischen Bugnei durch, wo vor sechzig Jahren der Sep Anton Deragisch die Töpferei betrieb. Das Kloster Disentis besitzt noch eine Sammlung der Kunsterzeugnisse aus tiara-cotga, die Sep Anton in einer Tschiffera auf dem Rücken tragend in den Dörfern zwischen Oberalp und Ilanz selbst vertrieb. Ist man an dem hohen Viadukt der Bahn vorbei, dann wird bei einem Rank plötzlich Sedrun in der Nähe sichtbar, der Hauptort des Tavetsch, seit 1926 Station der Oberalpbahn.

Der Drun, der Wildbach, der Drache ( dragum ), welcher beim Ausgang der Val Strim vom Cuolm de Vi herabbricht, ist ein wüster Geselle, der bei schlechtem Wetter sehr rabiat werden kann und viel Schlamm und Geröll mitreisst, was man nun von der Brücke gefahrlos betrachten kann. 1557 klagten die Leute von Gonda und Salins gegen die von Camischolas und gegen alle, « so nebett dem Dragun uff guter hendt », dass der Drun ihnen den Weg weggenommen habe, dass sie « nit wegen noch pfaren mögendt ». Er ist auch schuld, dass die Sedruner 1691 das Schiff ihrer Kirche auf die andere Seite des stolzen Turmes verlegen mussten, ansonst es gefährdet worden wäre, wie die St. Antoniuskapelle von 1679 da drüben in Surrhein, die 1927 vom Rheine weiter weg verlegt werden musste. Der schlanke, romanische Kirchturm in Sedrun mit seinem neueren, spitzen, mit Walliser Schieferplatten belegten Dach weist auf der Frontseite ein schönes, grosses St. Georgbild auf, welches vom Maler Felice Diogg herrührt. Dieser stammte aus einem alten Bürgergeschlecht der italienischen Val Formazza. Sein Vater hatte eine Catrina Deflorin von Tschamut zur Frau, zog mit seiner Habe, als ihm 1766 sein Haus in Andermatt abbrannte, nach Tschamut hinüber auf ein Bauerngut seiner Frau. Gegen 1785 malte Felice den S. Gieri am Turm zu Sedrun. Diogg ist bekannt als guter Porträtist, er malte u.a. Kaspar Hirzel und Johannes von Müller. Er starb 1834 in Rapperswil. Sein Werk an der Sedruner Kirche, nun über 130 Jahre dem Wetter ausgesetzt, ist noch deutlich erkennbar, sollte aber fachmännisch restauriert werden, ansonst es verblasst. In einem noch im Archiv von Sedrun befindlichen Jahrzehnten-buch aus dem 15. Jahrhundert steht, die erste Kirche zu Sedrun sei 1205 eingeweiht worden. Auch enthält dasselbe die Nachricht, dass 1338 im Tavetsch ein rector war, also auch eine Kirche. Placidus a Spescha, der 1812—1814 Kaplan in Sedrun war, sagt, der Abt Thuringus ( 1334—1353 ) habe den Zehnten der Kirche St. Vigili in Ordnung gebracht. 1491 waren die Kirchen von Tavetsch und Andermatt dem Stifte Disentis einverleibt.

Ehe wir ins Dorf hineinkommen, sehen wir rechts eine kleine Kapelle, die 1925 vergrössert und verschönt wurde. Das ist das « sontget dils Gedius»Judenkapellchen ). Eine Sehenswürdigkeit. Vier personengrosse Holzfiguren umschliesst der Raum. Der alte Gion Antoni Curschellas aus Bugnei und der Sep Antoni Caviezel aus Sedrun sahen in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf einer Wallfahrt nach Einsiedeln ( Nossadunnaun ) das Original dieser Gruppe als Station eines Kreuzganges am Hakenpass. Dies machte auf die beiden Tavetscher Wallfahrer einen solch tiefen Eindruck, dass sie durch den Disentiser Bildhauer Gion Batt. Andreoli eine genaue Nachbildung machen und bemalen liessen. 1837 wurde die Skulptur nach Sedrun gebracht und einstweilen in einem Zimmer des Pfarrhauses aufgestellt, das deshalb noch jetzt « Stiva dils Gedius»Judenstube ) genannt wird.

Sedrun ist jetzt auch Wintersportplatz. Das hat es der Oberalpbahn zu verdanken, die im Winter bis Sedrun fährt. Weihnachten 1925 musste ich noch mit einem offenen Leiterschlitten dorthin fahren und war der einzige Wintergast. Doch noch ein anderer Fremdling war da und schlich mir um die Beine. Ein zahmes Füchslein, das mit dem Jagdhund und der Katze einen Völkerbund abgeschlossen hatte, wobei alle gleichzeitig aus demselben Napf frassen, ein Beweis für die verträgliche Luft da oben. Dem Füchslein ging es aber später schlecht. Man hatte ihm ein Glöcklein umgebunden.

Als es aber, herangewachsen, ausrückte, da wollte deshalb seine Sippe nichts von ihm wissen, und Wild konnte es auch nicht mehr erschleichen. So erfasste es die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen des Gasthauses zur « Krone ». Es hatte sich wohl gemerkt, wo die Wirtsleute ihre Hennen haben. Dort brach es nachts ein. Das Glöcklein verriet aber den Dieb, und er fiel einer Kugel zum Opfer.

Nun wollen wir uns die 1400 m hoch liegende untere Tavetschermulde und ihre Umrahmung einmal genauer ansehen. Das können wir am besten, wenn wir zum Punkt 2257, Piz Tgom genannt, hinaufsteigen. Über die Brücke, am Drun vorbei — wo noch ein alter fallunBleuelpoche ) steht, in dem im Herbst der Flachs durch mächtige Holzstössel gebrochen wird — gehen wir zur Rheinbrücke hinab und verfolgen kurze Zeit den durch Wald nach links aufsteigenden Weg nach Surrhein, der Pforte des Nalpstales. Vor diesem aber weist bald ein Wegweiser zu einem nach rechts steil im Wald ansteigenden Pfad, der zur Alp Tgom ( romanisch tumma = Bergkuppe ) hinaufführt. In der oberen Hütte, nur wenig unter dem Punkt 2572, waltet der Schafhirt, der Herrscher über mehr als 1500 Schafe, mit seinem Hunde, der so pflichteifrig ist, dass er auch Wanderer gegen die Waden stösst, um sie zu schnellerem Anstieg aufzumuntern. In etwa zwei Stunden hat man den Aussichtspunkt von Sedrun aus leicht erreicht.

Tief unten auf dem Talboden schlängelt sich das weisse Strassenband von Sedrun über Camischolas, Zarcuns, Rueras, Dieni, macht dann einen grossen Bogen, führt an der der irischen St. Brida, der Beschützerin der Viehherden, geweihten Kapelle vorbei und zieht oberhalb Selva durch nach Tschamut in eine obere Tavetschermulde. Deutlich ist auch der zwischen Dieni und dem Wald am Rank abzweigende Fussweg erkennbar, den der Blick über Scharinas verfolgen kann, bis er vor dem Calmot nach Norden in die Val Val abbiegt.

Hinter dem Talgrund und der Strasse sieht man das Gebirge mit breiten, durch steile Täler — Strim, Milar, Giuf und Val — gegliederten Sockeln zum vergletscherten Grenzkamm zwischen dem Tavetsch und dem Urnerland aufsteigen. Im Osten steht der Piz Giendusas 2982 m, der 1855 von Theobald mit M. Betemps zuerst erstiegen wurde, seinen Nordgrat erkletterten 1903 P. Schucan und Fr. Weber. Den leichteren Aufstieg von Sedrun aus kann man von hier vollständig überblicken. Breit riegelt sein Südgrat mit dem Cuolm de Vi ( Berg des Lebens ) und dem eine wunderbare Rundsicht bietenden Plaun grond ( grosse Ebene ) die Tavetschermulde gegen die Disentisermulde ab. Grell leuchtet in seiner Flanke das verästelte Absturzgebiet des Drun. Etwas verdeckt wird der Piz Giendusas durch einen zackigen, eine schöne Kletterei bietenden Felsgrat, dem P. Schucan und Fr. Weber den ersten Besuch 1913 machten und den sie Strimspitzen nannten. Von den Tavetschern wird die ganze Gegend mit Oberalpstock und Piz Giendusas noch Piz Tgietschen genannt. Gewaltig überragt wird der Piz Giendusas von dem westlich von ihm erscheinenden Hauptgipfel des Tavetsch, dem Oberalpstock 3330 m, Piz Tgietschen oder Piz Cotschen ( Rotstock ) von den Tavetschern genannt. Heute braucht man nicht mehr sieben Stunden zu ihm durch die Val Strim aufzusteigen, man hat es leichter, denn die neue, 1928 eingeweihte Cavardirashütte der Sektion Winterthur liegt nur 625 m unter dem Gipfel an der Cavardiraslüeke. So ist der Oberalpstock nun auch im Winter vom Vorderrheintal aus besteigbar, wie zuerst der Disentiser Skiklub 1928 bewiesen hat. Das hätte Placidus a Spescha wohl niemals gedacht, als er 1792 ( nicht 1799, wie im Clubführer steht ) mit dem Tiroler Josef Senoner den als unbesteigbar geltenden Berg als Erster über den Brunnipass bestieg. Als dabei Senoner in eine Spalte fiel und ausrief: « Heiliger Antonius! » meinte Spescha: « Lass den heiligen Antonius jetzt beiseite und hilf dir selbst aus dem Spalt! » Es muss dem Bergpater sehr gut da oben gefallen haben, denn zwei Jahre später stieg er mit dem Pfarrer Hetz nochmals hinauf, ja 1812 zum drittenmal mit einem zwölfjährigen Buben und seinem Hündchen.

Tief schneidet die rauhe Val Strim, von der Oberalpstocklücke überkrönt, in den Gebirgsriegel ein, der Zugang zum Krüzlipass 2350 m, der durch die Krüzlistöcke verdeckt wird, während seine rechte Begrenzung, der zweigipfelige Weitenalpstock, als Felspyramide gut sichtbar ist. Dessen Südgipfel, 3009 m, bestieg J. Sowerby 1866 zuerst, während der Nordgipfel, 3015 m, erst 1902 von P. Schucan und Fr. Weber erobert wurde. Mit breitem Vorbau fällt die Gegend der Krüzlistöcke über durch Seelein unterbrochenen Fels und Schutt, Chischlè genannt ( chischar = Käsen ), und die Alp gleichen Namens ins Tal ab gegen Rueras. Diese Gegend da oben bietet einen sehr schönen Ausblick.

Oberhalb Londadusa 1 ) liegt eine grosse Steinplatte, la piatta dil barlot, welche früher der Tanzplatz der Hexen war. An einem Seidenfaden hatten die Hexen sie vom Badus hierher getragen. Giachen Biart, ein Sedruner und Pfarrer daselbst, stieg der Sage nach hinauf und weihte die Platte. Dadurch wurden die Hexen vertrieben. Sie sannen auf Rache. Weil er aber seine Stola um hatte, konnten ihm auch nachgesandte Steine nichts anhaben. Als er aber 1749 den Lawinenverschütteten in Rueras mit Männern von Sedrun zu Hilfe eilen wollte, hatte er in der Eile vergessen, seine Stola umzulegen. Das sahen die Hexen und lösten am Chischlè eine neue Lawine los. Biart wollte sich hinter einem Stall in Zarcuns sichern. Aber die Lawine warf den Stall um, und Biart wurde erdrückt. Es zeigt dies, wie Sagen auch in verhältnismässig neuerer Zeit auf Grund historischer Tatsachen entstehen können. Das Volk gedenkt des Pfarrers als « Sur Giachen della Lavina ».

Westlich wird das Chischlègebiet von der breiteren Val Milar begrenzt, welche oben in die Mittelplatten ausläuft, einem alten Seitenübergang zum Krüzlipass und ins Etzlital. A. Escher von der Linth und J. F. Cavegn überschritten den Grenzkamm 1840 hier. Dann schliesst sich nach links das Hauptschaustück des Tavetsch an, die Pyramide des Piz Ner ( Schwarzberg ), 3059 m, mit seinen Trabanten, dem Mutsch ( Steinhaufen ), 2792 m, und dem Culmatsch ( grosser Berg ), 2896 m. Der Mutsch wurde 1839 von Zeller-Horner mit Tresch bestiegen und der Culmatsch 1904 von P. Schucan und Fr. Weber, welche an fast allen Gipfeln dieser Gegend neue Kletteranstiege fanden.

Auch in die Val Giuf ( giuv = Joch ) kann man von hier blicken. Deutlich erkennt man, wie der Giufbach bei Mulinatsch ( mulin = Mühle ) durch den den Wald Tschupina ( tschupi = Kranz ) tragenden Querriegel umgezwungen wird. Dieser Riegel trennt die grössere untere von der kleineren oberen Tavetschermulde. Der gipfelreiche Felsabschluss der Val Giuf ist von der Urnerseite her, von dem Etzli- und dem Fellital aus, zuerst bekannt, benannt und bestiegen worden. Auf beiden Seiten des Kammes gibt es verschiedene Namen für die gleichen Gipfel. Halb durch den Culmatsch verdeckt, ist noch ein Teil des vom Piz Ner zum Piz Giuf führenden, in der Nerlücke, 2890 m, überschreitbaren Hälsigrates sichtbar, welche Lücke sicheren Skifahrern bei lawinenfreiem Wetter eine Abfahrt durch die Val Giuf bis zur Oberalpstrasse ermöglicht. Der Piz Giuf, von den Urnern Schattig Wichel genannt, erscheint mit seinem Nachbar, dem Roten Wichel, 3085 m, von hier aus zahmer als von der Urnerseite. Der Giuf wurde zuerst von Placidus a Spescha 1804 erstiegen, der Rote Wichel 1897 durch J. Mercier und Fr. Weber. Alle diese kristallreichen Berge bieten schöne, teils leichte, teils schwierige Klettereien. In Dieni erinnert ein Kreuz an einen Strahler Cavegn aus Rueras, der 1872 in der Val Giuf abstürzte. Neben dem Roten Wichel, über dem westlichen Giufgletscher, erblickt man die Giuflücke, 2960 m, als breiten Sattel: ein Übergang ins Fellital. Scharf heben sich westlich der Giuflücke die Zacken der Giufstöckli vom Horizont ab, welche hauptsächlich von Fr. Weber 1898 bis 1902 erstiegen wurden. Dann schneidet die Crispaltlücke, 2960 m, ein, welche aber schon in dem die Val Giuf westlich begrenzenden Grat liegt und daher zur Val Val hinüberführt. Die ganze Gegend lässt sich nur schwer mit der Darstellung im Siegfriedatlas in Einklang bringen. In seiner ganzen Länge steht der scharfgeschnittene, fast horizontale Crispaltkamm ( cresta aulta = hoher Kamm ) mit seinen schroffen, runsen-durchzogenen Seitenhängen vor uns, eine eigenartige Erscheinung, die auch den Alten schon auffiel, weshalb sie die Gegend des Oberalppasses nach ihm, z.B. 1563 den Crispalgerberg nannten. Seine beiden durch eine Scharte getrennten Gipfel, 3080 m und 3022 m, erscheinen von hier gleich-hoch. Der aussichtsreiche Crispait 1 ) wurde von Placidus a Spescha zuerst bestiegen, er nennt ihn Denterglatschars ( zwischen den Gletschern ). Der ganze Kamm ist überkletterbar. Mit einer breiten Tatze, dem Cuolm Val ob Tschamut, greift er ins Tal hinein.

Nun wollen wir wieder nach Sedrun hinunter. Als wir einmal an einem Sonntag in die « Krone » daselbst kamen, lag auf einem Tisch der hinteren Stube ein Bündel Wäsche, was ich mir nicht erklären konnte, besonders weil am runden Tisch eine Gesellschaft mit dem Pfarrer und dem Kaplan ein Mittagessen mit einer guten Flasche Wein einnahm. Bald fing aber das Bündel an, sich zu bewegen, und siehe da, es steckte ein frischbekehrter Täufling darin. In Sedrun herrscht nämlich noch die uralte Sitte, dass der Täufling, gleichgültig ob es ein buob oder eine buoba ist, direkt aus der Kirche ins Gasthaus getragen und mit einem Schleier verdeckt auf einen Tisch gelegt wird, während der Vater ( il bab ), der Götti ( il padrun ), die Götta ( la madretscha ), der Pfarrer ( il plevon ) und der Kaplan ( il caplon ) an einem Nebentisch ein gutes Taufmahl zu sich nehmen, das der Götti und die Götta spenden. Nach Vollendung desselben wird dann der Sprössling von seinem ersten Gasthausbesuch der Mutter ( 1a mumma ) wieder zugetragen. Dass Handlungen mit der Leistung eines Mahles verdankt wurden, war im Mittelalter eine allgemeine Sitte. Wurde der Zins bezahlt, gab es ein ordentliches Mahl. Als 1866 der Lehenszins der Alpen Val und Juff von 850 Pfund fettem Käs ( Tavetscherkäsum 7650 Franken losgekauft wurde, musste das dabei übliche Martinimahl mit 2000 Franken vom Kloster abgelöst werden.

Kaum 15 Minuten von Sedrun entfernt liegt Camischolas ( im Romanischen im Gegensatz zum Siegfriedatlas mit zwei 1 geschrieben ), dessen Name ausser von campicellus = kleines Feld, von casa und Michol ( Michel ) abgeleitet wird. Nach der Schutzpatronin seiner Kirche wird es auch St. Anna genannt. Camischolas ist ein typisches, aus einer Gasse bestehendes Bündnerdorf mit Ställen, die auf gemauerten Geschossen überragende Block-holzscheunen tragen.

Im Winter sitzen die Tavetscher tief im Schnee. Da braucht man sich nicht über die riesigen Holzbeigen bei den Häusern zu wundern, die bis ans Dach reichen. Die sind für den Holzfresser, den grossen Tavetscherofen aus Lavezstein, um den sich eine Bank zieht. Und da sitzt dann die tatta und erzählt ihren Enkeln Märchen. « Ina gada er ei in retg Es war einmal ein König » Und am Ende heisst es genau wie im deutschsprachigen Märchen « e sch'el ei ca morts, sche viv'el euncund wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch. » Aber lieber haben die Buben, wenn der tat ( Grossvater ) erzählt. Der hat einen lustigeren, urchigen Schluss. Er lässt die Märchen immer mit einem grossen Schmaus enden und erzählt: « Jeu vevel purtau 1a suppa et a mi han ei dau in pei el tgil, ch'jeu sun sgulaus tochen encheu. » ( Ich habe die Suppe aufgetragen und dann hat man mir einen Tritt gegen den Allerwertesten gegeben, dass ich hier unter euch geflogen bin. ) Interessant ist in Camischolas auch das Postgebäude mit seinen reichen Holzverzierungen und Butzenscheiben. Das Datum 1825 ist das einer Renovation nach dem Brande von 1822. Auch das Geschlecht der Berther dürfte aus Camischolas stammen. 1300 wird es schon ( Berchter ) genannt. Martin und Duri Berther von Camischolas bauten 1860 bis 1864 das Stück der Oberalpstrasse zwischen Disentis und S. Brida sowie dasjenige von der Urnergrenze bis zur zweiten Kehre ob Andermatt, noch « Berthers Kehr » genannt.

Nun geht es über den Strimbach, und bald sind wir in Zarcuns ( hängt vielleicht mit schar, tschar = Wildbach, zusammen oder sogar mit acer = Ahorn ), dessen spitzes gotisches Glockentürmchen, mit Monden verziert, schon von Camischolas sichtbar ist. Auch das ist mit seinen Caschnes ( Korn-galgen ) ein echt bündnerisches Dörfchen. Das weisse Wallfahrtskirchlein, Maria zum Schnee, die Stiftung eines Gionet Beer von Giuf aus dem Jahre 1622 ( dargestellt im Deckengemälde ), hat einen hölzernen Vorbau erhalten. In demselben hängt ein altes Ölgemälde, welches die Feuersbrunst von Camischolas 1822 darstellt.

Der Spaziergang bringt uns nach Rueras ( 1380 Révères, 1645 Raweras = Rüfe ). Es wurde nach seinem Schutzpatron auch S. Giachen genannt. Die alte Kirche aus dem Jahre 1491 stand auf Resten einer noch älteren Kapelle. 1730 wurde die Kirche umgebaut, wobei Mauerspuren zum Vorschein kamen. Vielleicht stand hier das älteste Gotteshaus des Tavetsch. 1928 wurde auf der Ostseite der Kirche ein schöner Turm aus gehauenen Granitsteinen mit gülden, scheckig schimmerndem Kupferdach erbaut. Die grosse Glocke stammt aus dem Jahr 1490. Von Rueras, das schöne, alte Holzhäuser aufweist, geht ein Weg zur Brücke über den Rhein und lenkt durch schattigen Wald nach Surrhein und Sedrun zurück.

Verfolgen wir aber die Strasse weiter, so kommen wir nach dem kleinen Dieni, 1555 Döny, Tönishof genannt. Dort steht an der Strasse das Elternhaus des P. Baseli Berther, dessen zahlreiche romanische Werke über das Tavetsch in dem beigefügten Literaturverzeichnis angegeben sind. Eine Übersetzung derselben ins Deutsche würde von Nichtromanen begrüsst werden, geben sie doch viel Aufschluss über Geschichte und Volkstum des Tavetsch. Über Dieni und den Bahnviadukt leuchtet eine Kapelle hinab, umgeben von einigen Ställen. Das ist S. Bistgaun ( St. Sebastian ) des einstigen Ortes Giuf, früher von Bedeutung, gab er doch der Val, dem Gletscher und dem Piz seinen Namen, waren doch die Alpen von Juf mit die besten des ganzen Tavetsch. Noch sind Urkunden über die Alprechte der Alp Giuf von 1380 erhalten. 1768 hatte der Ort noch 22 Einwohner. Nun ist das letzte Wohnhaus nach Tschamut versetzt worden, und das Kirchlein steht allein da. Da ist P. Berthers Frage berechtigt: « Sas era nua Giuf ei? Weisst du, wo Giuf liegt? » Auch hier hängt verlassen ein Glöcklein von Walpen.

Unterhalb Dieni, zwischen der Strasse und dem Rhein, steht eine Ruine, bald nur noch ein grosser Schutthaufen. Das ist die Ruine Pontaningen ( Pultingen ) des gleichnamigen adeligen Geschlechtes. 1252 verlieh der Abt von Disentis einem Wilhelm von Bultingen die Burg Castliun ob Somvix. 1300 wurde eine Urkunde « vor der Burg Pultingen » ausgefertigt, die also damals noch bestand. Die bekannteste Persönlichkeit dieses Geschlechtes war aber der Abt Peter, welcher am 16. März 1424 zu Truns den oberen Bund mitgründete.

Bei der nun folgenden Kehre blicken wir mit Genuss zurück auf die untere Mulde. Auch die Bahn muss hier den Querriegel umfahren und läuft streckenweise parallel zu der Strasse, nur wenig höher als sie. Bei der Kapelle St. Brida eröffnet sich der Blick in die obere Tavetschermulde. Hoch oben rechts zieht die Strasse dahin, höher das Bahngeleise, und links tief unten fliesst, Fälle bildend bei Carmihut und Surrhein, der junge Rhein. Auf breiter Platte, an den Hang lehnend, liegen Selva, auch St. Jakob genannt, und seine Winterkolonie Sut Crestasunter dem Hügel ), wo Kapelle, Kaplanwohnung und Schulraum unter einem Dach vereinigt sind. Über Selva erblickt man die Kapelle St. Nikolaus mit ihrem Reitertürmchen, deren altes Schindeldach leider durch ein Blechdach ersetzt wurde. Ganz hinten schliesst die Baduskette bis zum Piz Nurschallas das Bild ab. Selva, dessen NameWald ) erkennen lässt, dass sich hier früher Wald befand, ward, als derselbe geschlagen war, von beiden Seiten von Lawinen bedroht. 1808 wurden 42 Personen, 37 Stück Grossvieh und etwa 200 Stück Kleinvieh verschüttet. 17 Personen konnten gerettet werden. Über das Lawinen- unglück von 1809 hat Placidus a Spescha eingehend berichtet, der bis 1812 hier Kaplan war. Angeregt durch Kaplan Gion Giusep Deplaz, dessen Leben der rätoromanische Dichter P. Maurus Carnot in seiner Geschichte « Der Kaplan von Selva » ergreifend erzählt hat, wurde 1852 Sut Crestas als Winter-zufluchtsort gegründet. In den Jahren 1892 bis 1899 schuf man bei Selva grosse Lawinenverbauungen mit 485 m3 Mauerwerk und 16,400 Holzpfählen.

Bald haben wir Tschamut erreicht, den obersten Winterort an der Oberalpstrasse. Dort stand früher für die Reisenden ein Hospiz des Klosters. Trotz der Höhe von 1650 m wächst noch Korn da oben, was schon die vielen Caschnés anzeigen, auf denen das unreife Korn in der Sonne zum Reifwerden aufgehängt wird. Der Bahnhof liegt ein gut Stück höher.

Weiter wandern wir die Strasse aufwärts. Von rechts fliesst der Gämmerrhein herab. Hoch oben ist der Übergang der Bahn, darunter der der Strasse, unter diesem ein Holzsteg über den Gämmerrhein und ganz unten die erste Holzbrücke über den Vorderrhein, genau noch wie L. Bleuler die Gegend gezeichnet hat. Vier Übergänge der verschiedensten Zeitalter, alle noch in Gebrauch. Links öffnet sich das Maigelstal. Meine Angabe von 1917, dass dieser Name daher rühre, weil das Tal im Mai ( maig ) mit Vieh bestossen werde, halte ich nicht mehr aufrecht, denn zu der Zeit liegt noch zu viel Schnee dort. Placidus a Spescha schreibt, die Urner sagten « Mogis ». Scheuchzer schreibt 1716 Mugelsalp, und Gruner gibt sogar einen Berg Mugels an. Das hängt wohl alles zusammen mit mugia = weibliches Rind, mugera = Galtkuh, also Galtviehtal. Heute führt von dem unteren Beginn der Oberalpkehren eine Militärstrasse an den gestaffelten Hütten von Milez vorbei bis zu denen von Tgetlems, wodurch der Aufstieg ins Maigelsertal bedeutend erleichtert wird. Vom Oberalphospiz führt ein neuer, bequemer Weg bis zum Tomasee, der Quelle des Vorderrheins.

Das Maigelstal mit seinen Bergen würde sich ausgezeichnet zum Skifahren eignen, wenn eine Unterkunft in demselben wäre. Diese müsste aber neu gebaut werden, denn die bestehenden Hütten sind zu baufällig und undicht. Auf dem Punkt 2274 beim Maigeisersee, beim Kreuz und Steinmann, wäre ein ideales, lawinensicheres Plätzchen für eine Skihütte. Warnen möchte ich aber vor einem Abstieg über die Alp Piatta und durch die Val Cornera nach Tschamut, namentlich im Winter. Vor kurzem hat diese rauhe Gegend wieder ein mit dem Gelände nicht vertrautes und wohl im Kartenlesen nicht ganz geübtes Opfer gefordert. Auch der Übergang vom Maigelstal über den Passo Bornengo zur Cadlimohütte sollte im Winter nicht versucht werden1 ).

So, nun sind wir oben auf der Passhöhe angelangt, wo sich die höchste Wohnstätte des Tavetsch und des Bündner Oberlandes befindet, das Gasthaus zur Passhöhe, Oberalphospiz, 2084 m. Hart an der Grenze, dicht bei den Militärbaracken, steht es auf einem Riegel, der dem auf Urnergebiet liegenden Oberalpsee den Abfluss ins Bündnerland hindert. Es ist ein gutes Turistenheim.

Ja, das Gebiet zwischen Sedrun und Andermatt hat noch eine Zukunft als Skiland vor sich, wenn erst einmal der Winterbetrieb der Bahn zwischen Sedrun und Nätschen ermöglicht ist, wozu wohl noch weitere Lawinenverbauungen bei Selva, Tschamut, Oberalpsee und Rüfenen zu bauen sind. Dann wird wohl auch der « Club de Skiturs Tujetsch » vor neue Aufgaben gestellt werden.

Benutzte und empfehlenswerte Literatur.

( Ausser der im Jahrbuch 52/1917 schon angegebenen. ) 1560 Gilg Tschudi: Grundtliche vnd warhaffte Beschreibung der vralten Alpischen Rhetie. Basel.

1716 J. J. Scheuchzer: Helvetiae Stoicheiographia. Zürich. 1755 Josef Resch: Annales Ecclesiae Sabionensis nunc Brixinensis. Augustae Vindeli- corum. Tomus I.

1760 G. S. Grüner: Die Eisgebirge des Schweizerlandes. Bern. 1792 K. Hirzel: Diogg der Mahler. Zürich.

1853 Th. v. Mohr: Regesten der Benediktiner Abtei Disentis. Chur. 1865 Gatschet: Ortsetymologische Forschungen. Bern. 1896 P. Baseli Berther: Sas era nua Giuf ei? Decurtins Chrestomathie. 1904 P. Baseli Berther: Sin Cadruvi. Solothurn. 1907 R. Hoppeler: Die Rechtsverhältnisse der Talschaft Ursern im Mittelalter. Jahrb.

f. schw. Geschichte. Zürich.

1909 P. Baseli Berther: Selva avon 100 onns. Muster. 1909 R. Hoppeler: Die Ereignisse im Bündner Oberlande in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

1911P. Baseli Berther: Il Cumin della Cadi de 1656 e Mistral Giachen Berther. Muster.

1912R. Hoppeler: Studien zur Geschichte des Stiftes Disentis im Mittelalter. Jahresb.

d.h.ist. antiquar. Ges. Graubündens.

1915 P. Notker Curti: Alte Kirchen im Oberland. Bündner Monatsblatt, Chur. 1917 P. Baseli Berther: A Camischolas. Ingenbohl.

1922 G. B. Venzin: Felice Diog, il pictur de Tschamut. Calender Romontsch. Muster. 1924 P. Notker Curti: Die Wappen der Äbte von Disentis seit 1500. Disentis. 1924 P. Baseli Berther: Baselgias, Capluttas e Spiritualsser de Tujetsch. Ingenbohl. 1928 P. Baseli Berther: Avon onns. Muster.

1928Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz. Neuenburg.

1929P. Notker Curti: La fabrica de vischalla de tiara cotga a Bugnei. Igl Glogn, Calender romontsch.

1929 W. Lehmann: Zur Landschaftskunde des Tavetsch. Mitt. d. geogr.ethnograph. Ges. Zürich, Bd. 29.

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