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Das war kein Heldenstück, Oktavio !

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Hugo Schweingruber, Bern

Kein Meister, auch im Bergsteigen nicht, ist vom Himmel gefallen; aber selbst Meister können von den Wänden fallen - oder auch in Spalten. Das aber erst recht, wenn man kein Meister ist! Ein jeder Alpinist hat schon Fehler und Unvorsichtigkeiten begangen und damit wertvolle Erfahrungen für sich gesammelt, und gar mancher hat sich in Erinnerung rufen müssen, dass die Gefahr in den Bergen oft gerade dort am grössten ist, wo sie am kleinsten zu sein scheint. Viele Fehler wirken sich verhängnisvoll aus. Glücklicherweise verläuft aber doch die Mehrzahl der dadurch heraufbeschworenen Erlebnisse in Minne. Alles bleibt dann mehr oder weniger im Verborgenen. Aber Respekt auch vor der einfachen Bergfahrt flösst das heimlich Durchgemachte doch immer wieder ein, und das ist ganz gut so!

Drückend heiss sind bisweilen Juli- und Augusttage. Schwer können sie auch auf einem Bergsteigergemüt lasten. Oft scheinen sie sogar mit kommenden Ereignissen in einem gewissen Zusammenhang zu stehen - sagt man sich dann nachher. Oftmals scheint aber auch irgendein Gipfel für einen Bergsteiger geradezu prädestiniert zu sein, jedesmal, wenn er ihn angeht, ganz Besonderes zu bieten, und zwar vorwiegend Unangenehmes. Andere pflegen von Schicksalsber-gen zu sprechen. Für mich scheint es das Doldenhorn zu sein. Bei dessen erster Besteigung leistete ich mir als Knabe eine unfreiwillige Rutschpartie den apern Gletscher hinunter. Von der zweiten Begegnung erzählt der vorliegende Bericht. Auch beim dritten Mal, einer Besteigung von der Fründenhütte aus, konnte ich helfend beispringen, um darauf zwei Jahre später am Galletgrat selber der vielleicht grössten Gefahr gegenüberzustehen, die in den Bergen bisher an mich herangekommen ist ' .Alles geschehen am Doldenhorn... i Vgl. « Die Alpen » 1945, 225

1 1 Das heutige Bergerlebnis - noch glimpflich abgelaufen - stammt aus meinen ersten Bergsteigerjahren. Ich war damals noch nicht volljährig. Mein damaliger regelmässiger Begleiter, der etwas älter war als ich, war mein Bruder Edwin. Ich zögere nicht, meine alten Aufzeichnungen aufzugreifen, da sie immerhin lehrreich sein und auch heute noch auf einiges Interesse stossen könnten.

Geborgen erwarteten wir beide an einem schwülen Sommerabend vor dem gastlichen Dol-denhornhüttlein ( 1915 m ) das wundervolle Schauspiel eines herannahenden Berggewitters. Die schweren gelben Wolken zogen scheinbar weit unter uns durchs Frutigtal heran. Wild ballten sie sich an der uns gegenüberliegenden Birre-wand zusammen und entluden feuerspeiend und krachend ihr köstliches Nass.

Bis Mitternacht hatte sich das Unwetter verzogen. Sehr früh verliessen wir die Hütte in Richtung auf die übliche Doldenhornroute. Hier, wo ich als Sechzehnjähriger den Spürsinn eines Bergführers bewundert hatte, galt es nun beim Laternenschein das Weglein selber zu finden und sorgsam im Auge zu behalten. Kurz vor dem grossen Graben wandten wir uns über Schutt und Geröll nach rechts dem Biberggletscher zu und überquerten diesen. Der Schnee, noch reichlich vorhanden, war vollständig aufgeweicht und erlaubte nur langsames, mühevolles Vorwärtskommen. Unser Ziel war das Doldenhorn über den Bibergpass. Wohl schien es uns, dass die Biberg-felsen gegen das Klein Doldenhorn zu leichter zu ersteigen wären ( der uns unbekannte Bibergpass geht in der Tat dort durch ), aber in unserem jugendlichen Eifer nahmen wir ganz einfach an, ein Passübergang müsse doch auf dem kürzesten Wege zu erreichen sein. Aber der kürzeste Weg ist bekanntlich nicht immer der beste. So erwartete uns auf unserem Fehlgang ein ausserordentlich harter Brocken. Verschwunden war auf einmal der weiche Schnee auf dem Gletscher, und blankes Eis nötigte uns zu zeitraubendem Stufenschlagen. Das Gewitter hatte das Eis regelrecht poliert.

Auch die Felsen waren bedeutend schwieriger, als wir uns vorgestellt hatten. Umkehren - das hatten wir noch nicht gelernt. Der Geologe hätte sicher an der beinahe vertikal verlaufenden Gesteinsschichtung seine helle Freude gehabt. Wir waren aber keine Geologen und brachten schnaufend die ersten 20 Meter in einer Stunde hinter uns, und für die Kletterei bis zur « Passhöhe » benötigten wir gar deren drei. Für diese erste Hochtour des Sommers waren wir wenig eingeübt, weshalb unsere Kräfte, vor allem Arme und Finger, schon jetzt gelitten hatten. Nun allerdings schien die Schwierigkeit der Fahrt hinter uns zu liegen. Aufatmend liessen wir uns daher zu einer ersten längeren Rast nieder. Wie wohlig und einschläfernd eine derartige Frühstücksrast auf einen einwirkt, wird begreifen, wer des Tages Hauptarbeit bei Nacht und Kälte hinter sich gebracht hat -oder dies wenigstens annimmt. Da unten die nasskalte, überwundene Wand und hier gleich Schnee und Sonne vereint...

Beinahe wäre ich eingeschlummert. Ein Blick auf die Uhr. Donnerwetter, schon 7Uhr! Jetzt heisst 's sich sputen! Rasch über das Schneefeld, hinüber zu jenen Felsen am Klein Doldenhorn! Schlafen können wir späterWir ergriffen Rucksäcke und Pickel, jeder von uns rasch einen Teil unseres 25-Meter-Seils in die Hand - und im Eiltempo versuchten wir die — wie uns schien -versäumte Zeit einzuholen. Haltet an, ihr jugendlichen Stürmer! Ihr seid unvorsichtig! Der Berg erheischt Vorsicht zu jeder Stunde, sonst straft er. Uns bestrafte er jedenfalls prompt. Das Unheil nahte in Form einer Gletscherspalte, die auch das geübte Auge von oben kaum erkannt hätte. Unser « Schneefeld », auf der Karte immerhin mit Faulen Gletscher benannt, war heute bei dem tiefen, vollständig durchweichten Schnee besonders faul. Urplötzlich sank mein Gefährte nieder und verschwand gleich vom Erdboden, die unseligen verflixten Seilschlingen aus der Hand fahren lassend. Zwei, drei Sprünge rückwärts, das war alles, was ich ohne Überlegung zu tun vermochte. Besonders kräftig war der Ruck nicht. Es gelang mir daher, mich im nächsten Moment auf meinen Pickel zu werfen und das Seil darumzu-schlingen. Es spannte sich nochmals und schnitt bei der kleinen, kaum sichtbaren Einbruchstelle vor mir tief in den Schnee ein.

In meiner Erinnerung durch die Jahrzehnte hindurch ist diese Gletscherspalte sonderbarerweise bedeutend tiefer geworden, als sie effektiv war. Aber ich möchte mich pickelhart auf meine damaligen Tagebuchnotizen stützen: Edwin konnte kaum tiefer als sechs Meter gefallen sein, was unter diesen Umständen schlimm genug für uns sein konnte. Ich rief- nein, ich schrieHerr-gott, waren das nicht dumpfe Laute aus der Tiefe? Seil gerissen? Nein, es hält, ist ja belastet! Kein Wort konnte ich verstehen. Spalteneinbruch zu zweit! Da haben wir 's, wenn man immer zu zweit gehen will. Jetzt ist guter Rat teuer -jetzt bist du ganz allein auf dich angewiesen! Meine ganze Bergsteigererfahrung bestand aus ein wenig Theorie, ein wenig alpiner Literatur, dann aber auch aus einer Anzahl bereits selbständig durchgeführter Touren. Dazu kam damals eine unbändige Leidenschaft fürs Bergsteigen, die uns antrieb, unseren Mann zu stellen. Nun aber erinnerte ich mich genau, dass gerade die Literatur unsern Fall, den Spalteneinbruch zu zweit, beinahe als hoffnungslos bezeichnet. Seil verankern und Hilfe holen, solange du noch kannst! Aber Hilfe - hier? Über die Fisistöcke nach Kandersteg hinunter sind es viele Stunden. Ich konnte rennen, aber hinauf rannte mir niemand. Solche Gedanken stürzten in wenigen Sekunden in meinem vom Fieber erfassten Kopf durcheinander. Weit und breit war niemand unterwegs. Das Gebiet war allzu abgelegen. In der Tiefe drunten aber - gluckste es! War mein Bruder gar in WassernötenVerflucht noch einmal! Ich ziehe - ziehe, was das Zeug hält, um den Eingebrochenen wenigstens dem eisigen Gletscherwasser zu entreissen. Gegenüber meinem geringen Körpergewicht waren meine Kräfte gewiss recht ansehnlich. Aber was vorauszusehen war, trat ein: Das Seil schnitt an der Einbruch- stelle meterweise in den Schnee ein - und fertig war 's mit meiner Muskelkraft. Wohl sah ich Edwins wild zerzaustes Haar, einmal auch sein schneenasses Gesicht auftauchen und kurz darauf wieder verschwinden. Meine Hände mussten aber schon jetzt das nasse, schlüpfrige Seil kraftlos gleiten lassen. Immerhin war eine rasche Verständigung möglich gewesen. Die Spalte war offenbar in Sturztiefe mit Wasser gefüllt, sicherlich ein ganz seltener Fall. An den glatten, senkrechten Eiswänden vermochte mein Gefährte sich einigermassen zu verstemmen, um nicht ganz im Wasser zu stecken oder im Seil zu hangen. Erst jetzt - nach unserem ersten Misserfolg - stiessen meine Gedanken auf unser neugekauftes zweites Seil, das wir nach langer Beratung als Reserveseil mitgenommen hatten. Ein gütiges Geschick muss dabei über uns gewaltet haben, war es doch das erste Mal, dass uns als Zweierpartie gleich zwei Bergseile zur Verfügung standen! Ein Reserveseil wird auf dem Gletscher vom Hintermann getragen. Zu unserem Glück war wenigstens dieses Gebot von uns befolgt worden. Auch der Zufall war uns noch wohlgesinnt: Mitten über der Spalte, knapp neben der Durchbruchstelle, stak der Pickel des Eingebrochenen. Mit einer Seilschlinge vermochte ich ihn zu erreichen und mit Hilfe des neuen Seils eine doppelte Sicherung herzustellen. Aus irgendeinem Grunde versagte aber nachher die uns schon damals bekannte Steigbügeltechnik, abwechslungsweise das eine Seil zu belasten und das andere nachzuziehen. Das Manöver scheiterte im Moment, wo der Eisspaltenrand erreicht war, also dort, wo nachher erst Hartschnee und schliesslich der weiche, durchnässte Schnee folgten. Das starke Einschneiden darin konnten wir nicht verhindern. Nachträglich mussten wir staunen, dass wir auch dabei nicht die Zuversicht verloren hatten. An ein Hilfeholen dachten wir schon gar nicht mehr, hatten vorläufig auch gar keine Zeit dazu; denn auch mein Bruder war keineswegs müssig geblieben. Das wertvollste Resultat seiner Arbeit und seines Nachdenkens war aber doch sein Rat, ihm von oben herab eine tüchtige Dusche zu verschaffen, damit endlich die Spalte richtig freigelegt würde. Ich musste vorsichtig vorgehen. Aber auch durch Unterlegen eines Kleidungsstückes, sogar eines Pickels, kamen wir nicht viel weiter. Meine Hände waren blutig. Mit Gewalt war dieser vertrackten Spalte nicht beizukommen. Köstlich berührt nachträglich die Tatsache, dass wir auch jetzt noch an unseren wenigen irdischen Gütern festhielten und weder Rucksack samt schwerem Photoapparat noch Steigeisen opfern wollten...

Die Rettung glückte endlich auf die folgende Art - aber unser Manöver hätte wohl auch zu unser beider Verderben führen können. Knapp neben der Spalte begann ich in mühsamer Arbeit eine kleine Grube im Schnee zu graben und deren Rand zu pressen. So wurde es mir möglich, mich darin niederzuducken, ja sogar mit dem Oberkörper über die Spalte hinauszulehnen. Zwischen den Knien rammte ich den einen Pickel ein, den ich kurz vorher dem Eingebrochenen « geliehen » hatte, damit er knapp unterhalb des Eisrandes für sich eine kleine Stufe hacken konnte. Mit vereinten Kräften ging 's nun nochmals auf die Höhe dieser Stufe, wo mein Bruder sich für einen Augenblick irgendwie festzuhalten vermochte. Rasch lehnte ich mich, den eingerammten Pickel zwischen den Knien, über den Spaltenrand hinunter. Wir konnten einander knapp erreichen. Noch ein gegenseitiger « Ruck » - und Vaters Mili-täreeinturon von altem Schrot und Korn, mit dem sich der Eingebrochene zu gürten pflegte, bot meiner Hand einen Griff, der nun doch hielt. Die eingeschnittenen Seile liessen wir fahren; Edwin fasste mich vielmehr mit gefalteten Händen um den Nacken. Wie ich das Gleichgewicht bewahren konnte, wie ich rückwärtskriechend meine Grube erreichte und mein Bruder buchstäblich über mich emporkroch, klingt schon nach « Münchhausen ». Aber es ist tatsächlich so geschehen! Atemlos, von Schnee und Schweiss durchnässt, aber glücklich, lagen wir nebeneinander im Schnee...

Sollten wir die weitere Besteigung nun abbrechen, wo doch alles so gut abgelaufen war? Abgesehen von meinen blutverschmierten Händen und einem zerbrochenen Uhrenglas, war ja alles in Ordnung. Nach einem zweiten Frühstück war das « Flämmchen » bereits wieder entfacht. Also weiter! Mit einem respektvollen Bogen umgingen wir den zertretenen Schauplatz unseres Kampfes. Die stundenlange Spurarbeit war uns nun direkt ein Vergnügen. Wie ist es doch schön in den Bergen! Und schön, am Leben zu sein! Zu später Nachmittagsstunde war unser Gipfel erreicht.

Dieses ernste Bergerlebnis ist kein Heldenstücklein. Wir waren beide jung, haben geleistet, was uns damals möglich war, und waren dabei auch ein wenig vom Glück begünstigt. Wenn ich stark auf Einzelheiten eingetreten bin, so geschah dies deshalb, weil gerade sie dem Alpinisten öfters wertvoll erscheinen. Der Bergsteiger hat die Schwäche unseres Unternehmens längst herausgefunden: Auf verschneitem Gletscher nimmt man keine Seilschlingen lose in die Hand, vor allem nicht der Vorausgehende! Das ist unverantwortlich und verträgt keine Entschuldigung. Dafür empfiehlt sich eine feste Seilschlinge in richtigem Abstand vom Körper. Ich muss auch heute noch staunen, dass unser Seilmanöver, das im Prinzip wohl richtig war, ziemlich versagte. Es gibt nun aber Verhältnisse, in denen auch die raffinierteste Technik versagen kann. Unser Vorgehen war zwar keineswegs raffiniert, wenigstens nicht, was die Seilbedienung anbelangt. Heute, nach so vielen Jahren, will es auch mir scheinen, dass sich die Rettung vielleicht besser hätte bewerkstelligen lassen. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob die Sache übungshalber vor sich geht oder ob es ernst gilt und ums Leben geht! Wenn man nur zu zweit ist, wird die Rettung immer problematisch. Nun - frage ich mich schliesslich, was uns eigentlich gerettet habe, so muss ich antworten: das Reserveseil und damit das Schicksal einerseits - und anderseits der Umstand, dass zwei Zwanzigjährige mit ihrem gerin- gen selbsterlernten theoretischen und praktischen Können durchhielten, ohne nur einen Augenblick zu verzweifeln. Das Nachlassen auch nur des einen hätte die selbständige Rettung verunmöglicht. Im übrigen haben wir zwei Beteiligte uns nachher hin und wieder über die Frage gestritten, welcher von uns beiden damals die beneidenswertere und angenehmere Rolle gespielt habe. Wir sind uns jedoch bis heute darüber nicht einig geworden. Immerhin wird jenes « Schneefeld » von uns übereinstimmend nicht mehr als « Gletscherlein », sondern richtigerweise als Faulen Gletscher bezeichnet. Klein und ehrfürchtig wird der Mensch vor der Grosse der Natur und ihrer oft verkannten Gewalt.

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