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Der Elferturm

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Von Hans Schwanda

( Wien ) Frei und kühn als ragende Zinne steht der Elferturm im Blickfeld der alten Zsygmondihütte. Er steht als vorspringender westlicher Eckpfeiler des Elferkofels mit seiner wildesten Seite der Hütte zugewendet. Zwei Felsmauern treffen sich zu einem spitzen Winkel und bilden die herrlich schneidige Nordwestkante. Wie der schnittige Bug eines Piratenschiffes hebt sich ihr Felsleib aus der steinernen Brandungswelle heraus. Ich kann es verstehen, warum die Kante zum Inbegriff der zünftigen Bergfahrt geworden ist. Ihre Begehung ist die Befreiung aller alten Hemmungen vor Luftigkeit und Ausgesetztheit, ist der Sieg der jungen Bergsteigergeneration, die der Schwerkraft zum Trotz zur lichten Höhe klimmt. Sie ist das Ideal einer Wegführung und doch zugleich ruhender Pol und Anziehungspunkt im Betrachten eines Bergmassivs, weil sie sich als der steilste und unwahrscheinlichste Weg dem Beschauer präsentiert. Wer klettert heute noch in finsteren, düsteren Schluchten, wer hackt sich heute noch mühsam durch schmutzige Eis- und Steilrinnen, wenn dort die luftige Kante lockt? Die Jugend von heute hat Sinn für die Kühnheit des Weges, für die Gerade der Linie, für die Ästhetik der Bewegung; darin liegt Rhythmus und Ausdruckswille. Für die Ausgesetztheit eines Weges, für die Wucht eines Berges fehlen uns jede Vergleichsmöglichkeiten, weil das Dach einer Kirche, die Höhe eines Hauses Zwergverhältnisse gegen die Dimensionen der Berge sind. Wir sitzen am Fusse der Kante und versuchen die ersten drei Seillängen zu verfolgen, doch die Steil- und Geschlossenheit der Felsen gestattet kein weites Erfassen, mauerglatt türmt sich das Gestein vor uns auf. Als Erstbegeher zeichnen Hans Steger und Paula Wiesinger, die die Fahrt als äusserst kühn, landschaftlich grossartig und ungemein schwierig bezeichnen. Was Steger, der ungekrönte Dolomitenkönig, als äusserst kühn bezeichnet, liegt tatsächlich an der Grenze des Möglichen. Eine einzige Seilschaft hatte die Tour wiederholt, Mathias Auckenthaler, der bekannte Innsbrucker Bergsteiger, mit einem Gefährten.

Nun: wir wenden momentan unser Interesse zwei Paar « Landjägern » zu, die Freund Fritz aus dem Rucksack zieht. « Landjäger » sind geräucherte, flache Würste, die ich für mein Leben gern esse, auch der lange Fritz Demuth besitzt anscheinend dieselben Geschmacksnerven, und so geben wir uns in konzentrierter Form ganz dem Genüsse dieser Leckerbissen hin. Im Schatten der Nordwand sitzen wir auf einem weichen Grasplätzchen, das sich wie eine Oase in der Steinwüste verirrt zu haben scheint, und verbinden die Vorfreude des Kletterns mit dem Genüsse des Gaumens. Von der « Julie », der einstigen Küchenperle der alten Zinnenhütte, haben wir noch jeder eine Handvoll getrockneter Aprikosen bekommen; die lassen wir uns jetzt gut schmecken. Dann zieht Fritz zwei Zündhölzer aus der Tasche, köpft eines davon und lässt mich ziehen, wer von uns die erste Seillänge führen soll. Ich erwische das kurze, also soll Fritz beginnen.

Bedächtig legt er Hand an den Fels. Er gleicht einer Spinne, so leicht und ausgeglichen sind seine Bewegungen, nirgends ein Ruck oder jäher Zug, sondern überall vorsichtiges Stemmen und Höherspreizen, Ja, Fritz nimmt die brüchige Rinne, in der einige Blöcke bedenklich hangen, auf seine eigene Art. Wer hat aber auch so lange Arme und Beine, dass er eine Grätsche von zwei Metern Spannweite spreizen kann? Bei ihm erscheint das Klimmen an steiler Wand fast mühelos. Nach Erreichung des vorgelagerten Turmes wechseln wir die Führung. Aus der graugelben Verschneidung, die nun ansetzt, grüsst zehn Meter oberhalb ein Haken zu mir herab. Die Kante trumpft mit der « richtigen Dicken » auf, aber mit listigem Gegenstemmen und anderen Zunftgeheimnissen ist ihr schon beizukommen. Die Belohnung, ein kleiner Standplatz, ermöglicht ein kurzes Verweilen.

« Vier Meter rechts der Kante unter dem weissgelben Überhang zu einer Steindaube », heisst es in der Originalbeschreibung. Und richtig: in einer Nische steht ein zierlicher Steinmann, wie von einem Heinzelmännchen erbaut. Er ist ein kleines Kunstwerk, mit viel Sinn für Ordnung und Symmetrie zusammengefügt. Wer ihn wohl erbaut hat? Ich tippe auf Paula; der weibliche Sinn für Schönheit und Ebenmass ist selbst in dieser rauhen Felswildnis unverkennbar. Er wirkt wie ein Gruss für die Nachfolger, wie eine Aufmunterung für die folgenden Schwierigkeiten.

Verteufelt! der gelbe Riss ist nicht ohne! Die Kante klafft hier mit einer tiefen Wunde auseinander. Das Hineinkommen in den überhängenden Teil ist mehr « Himmel » als Erde. Da arbeitet sich die rechte Körperhälfte höher, die Schulter bohrt und windet sich, und die geballte Faust verkeilt sich in dem engen Spalt. Sie muss den Halt geben, sonst fahren wir lotrecht ins Jenseits. Ist das ein Pusten und Stöhnen. « Ergib dich, feiger Schuft! Ich komme ja doch nach oben! » knirsche ich wutentbrannt, doch der Riss ist schwerhörig und umgibt sich mit einem dickwamsigen Wulst und ergibt sich nicht. « Schlag'einen Haken », mahnt der Freund, doch ich will die Stelle ehrlich bezwingen und kämpfe verbissen weiter. Immer näher komme ich zu seiner schwachen Stelle, und dann sprenge ich das erste Tor, das uns den Weg zum Glück versperren will. Ein « Stehplatz » erster Klasse mit herrlicher Sicht ist mein Gewinn.

Langsam versinkt die Tiefe. Mit jedem neuen Klimmzug, mit jedem Schritt wird die vor uns liegende Höhe geringer. Doch wer achtet bei intensiver Kletterarbeit auf die zurückgelegte Strecke? Wer sieht prüfend in den Abgrund und schätzt die Meter zum Kar, wenn wir, wie zwei lodernde Flammen, die sich vereinigen, nur dem einem Gesetz dienen, dem Gesetz der Begeisterung und der Bewegung? Ist das noch Erdenschwere? Dieser Gang über die grosse, abgespaltene Platte, die uns der Berg wie einen sich schützenden, prallen Schild entgegenhält? Nicht einmal aufhalten kann er uns, so stürmen wir an seiner stärksten Wehr vorüber!

« Bei dem weissen Fleck muss ein Haken steckenI » rufe ich zu Fritz hinauf, der schon wieder an der senkrechten Kantenmauer steht und geschmeidig zu den angegebenen Orientierungszeichen turnt. « Penkl » macht der Karabiner, und schon schlängelt sich wieder das Seil weiter, der Haken hat gar keinen Eindruck auf ihn gemacht. Der Fels ist hier ein eigenwilliges Aufbäumen, ein einziges Sehnen nach Licht. Die Kante hat nur ein herausfordern-des « Wagt es nur, mich anzugreifen! » Doch wir werfen ihr verächtlich den Fehdehandschuh hin und kämpfen weiter.

Fritz schwingt sich um eine böse Ecke, und nur an dem langsamen Abgleiten des übrigen Seiles kann ich die Schwierigkeiten ermessen. Als ich nachkomme, sitzt er bereits in einer gelben Nische und erwartet mich grinsend. Er freut sich wahrscheinlich über meine Verblüfftheit, über die Aussichtslosigkeit des Weiterweges. Wir sitzen unter dem riesigen Bug unseres Piratenschiffes und beraten: « Wie kommen wir weiter? » Die Beschreibung von Steger gibt eindeutigen Aufschluss. « Jetzt ein ungemein ausgesetzter Quergang nach links um die Kante. » Ein fingerbreites Gesims verliert sich in der Wand unter dräuenden Überhängen und erbarmungsloser Haltlosigkeit...

Der Freund verkeilt sich in der Nische, stemmt die Füsse gegen einen Felsbuckel und fasst das Seil fester. Sein aufmunterndes Augenblitzen sagt, « mach 's gut! » — und ich klettere mit dem Gefühl absoluter Sicherheit in die freie Wand hinaus. Was liegt doch für ein festes gegenseitiges Vertrauen in dem Zusammenspiel einer Seilschaft, was gibt doch die Sicherung durch den Zweiten dem Führenden für eine moralische Festigkeit, die ihn befähigt, auch die gewagteste und gefährlichste Stelle anzugehen I Die treibende Kraft des Wagens ist aber nicht das Seil allein, das uns mit dem Gefährten verbindet, sondern im Vertrauen liegt der gegenseitige Halt, der den Gedanken an einen Sturz gar nicht aufkommen lässt. An diesem Tage geht alles glatt, ohne aufregendes Erlebnis, kein Abweichen von der Route, kein Stocken oder längeres Verweilen, kein ärgerliches Seilmanöver und kein fallender Stein. Alles im metronomartigen Gleichmass vollständiger Sicherheit.

Nach dem Schärtchen, das wir durch eine kurze Rinne erreichen, legt sich die Kante gutmütig zurück, ihr Trotz ist gebrochen. Nach einem kanzelartigen Vorbau schwingt sie sich noch einmal keck in die Höhe, um dann ganz zahm auf dem Gipfel zu enden. Wir haben heute viel Zeit. Nach allen Richtungen ist der Himmel rein, kein Wölkchen trübt den fast südlichen Himmel, und wir sitzen an der äussersten Spitze unseres Turmes und schauen in das Gewirr von Gipfeln und Zacken. Wunschloses Träumen, seliges Glück. 0 könnte ich diese Stimmung mit in die Stadt nehmen!

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