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Der Peutereygrat

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VON ROMY CHRISTOFFEL, RAPPERSWIL

Mit 3 Bildern ( 95-97 ) Peutereygrat, ein Zauberwort!

Es war in meinem ersten Bergsteigerlehrjahr, als ich diesen klangvollen Namen an einem trauten Hüttenabend in der Jenatschhütte von einem bergbegeisterten Kameraden hörte. Es war unsere erste und letzte gemeinsame Tour. Als Hans nicht mehr vom Piz Bernina zurückkehrte, wagte ich nicht mehr an so kühne Namen zu denken; aber etwas ist mir geblieben: die Begeisterung, die Liebe zu den Bergen.

Ich arbeitete unentwegt an mir selber, an meiner Schwäche und Unzulänglichkeit; ich begann die schnellen Abfahrtspisten, wo die schönen Silberbecher und Goldmedaillen winkten, zu meiden. Es zog mich immer mehr auf die stillen, einsamen Pfade des winterlichen Hochgebirges. Auf diesen Fahrten, die ich meistens allein unternahm, vollzog sich eine Wandlung in mir. Ich stellte mir unzählige Fragen und versuchte sie auch zu beantworten. Ich erkannte, dass es im Leben höhere Werte gibt als solche, die man in Zehntels- und Hundertstel-Sekunden errechnen kann. So ist im Laufe der Jahre doch noch ein beschränkt verwendbarer Berggänger aus mir geworden. Aber lernen muss jeder, solange es ihm vergönnt ist, die einzigartige Hochgebirgswelt zu betreten.

Ich sagte sofort voller Begeisterung zu, als zwei Winterthurer Kollegen den Peutereygrat zur Diskussion stellten. Viele Winterabende verbrachte ich mit dem Studium der alpinen Literatur. Im März begannen wir mit dem Training. Was noch alles in dieser Zeit bis zur Abfahrt geschah, war auch nicht gerade dazu angetan, uns die innere Ruhe und das Vertrauen für diese schwere Fahrt zu verschaffen. Besonders den Bergtod unseres Seilkameraden Kurt, der am Fleckistock so unglücklich ausglitt, konnten wir nur schwer verwinden. Ich fragte mich oft, ob es nicht vermessen sei, uns trotzdem an den Peutereygrat zu wagen. Die Berge sind eine harte Lebensschule. Wer dies nicht begreifen mag, lasse am besten die Hände davon!

Der Tag der grossen Reise rückte doch langsam näher. Als Vorbereitung waren uns zwei klassische Eistouren im Berner Oberland gelungen. Ich fand auch die innere Ruhe wieder, ohne die nicht an grosse Fahrten zu denken ist. An der Wetterhorn-Nordwand mussten wir zwar klein beigeben; doch auch das muss gelernt sein. Wir kommen wieder!

Am 20. Juli war es dann endlich soweit. Mit der gewohnten Zuverlässigkeit hatte Herbert im Zug zwei Plätze belegt und wartete geduldig, bis ein zweibeiniger « Lastesel » erschien. Die Begrüssung war herzlich, und da wir einander sehr viel zu erzählen hatten, waren wir « im Hui » in der Expostadt. Umsteigen - Martigny, abermals umsteigen. Von jetzt an war für mich alles neu. Mit einem blauen Car der italienischen Post ging es das schöne Vallée d' Entremont hinauf, dem Grossen St. Bernhard zu. Rechts oben konnten wir noch etwas von Champex erhaschen, aber ohne Bergseelein und Spiegeleier-Restaurant...! Tempi passati! Es war unsere erste Tour gewesen, der herrliche Granit der Aiguilles Dorées. Und jetzt, ein gutes Jahr später, das gemeinsame Werben um eine der längsten und grössten Fahrten in den Alpen!

Träumte ich die kilometerlangen Galerien zum neuen Tunneleingang hinauf«Passaporti! » O je, meiner lag gut aufbewahrt zu Hause! Auf Grund eines tolerierten Ausweises wurde mir ein drei- 13 Die Alpen- 1968 -Les Alpes193 tägiger Passierschein ausgestellt. Auf meine schüchterne Frage, ob die Einreise auch über Chamonix erfolgen könne, gab man mir zu verstehen, dass dies nicht gehe. Ich muss ziemlich ungeschickt dreingeschaut haben, denn der Zöllner fügte mit welschem Charme hinzu: « Si vous êtes là une fois, an verra! » Je weiter wir gegen Süden fuhren, desto mehr Gefallen fand ich an dieser Gegend, die mich an die Heimat meiner Mutter erinnerte. Aosta - tropische Hitze. Mit offenem Mund starrte man unsere « Einfamilienhäuser » an, die wir auf dem Rücken trugen. Im Bahnhofbuffet kauften wir uns eine aranciata, später noch einen köstlichen Birnensaft. Die Billette nach Pré St-Didier kosteten nur 300 Lire. Wir fühlten uns als « Signori » mit vierzehn neuen Millescheinen im Sack!

Nach einer romantischen Fahrt das Aostatal hinauf mit einem FS-Triebwagen erreichten wir die Endstation, von dort mit Autobus Courmayeur. Hier stiegen wir froh, aber zehn Minuten zu spät aus. Lange Gesichter; der Anschluss war verpasst! Der nächste Bus zwei Stunden später. Ein Taxi? 2500 Lire bis Visaille. Ich erschrak nicht einmal über diese astronomische Zahl, denn ich hoffte den Preis auf die Hälfte hinunterzudrücken. Aber oha! Feste Preise auf einer Preisliste. So etwas habe ich in Italien noch nie erlebt.

Auf der Fahrt ins Val Veni erklärte mir Herbert die Namen der kühnen Gipfel mit den schlanken, in den azurblauen Himmel hineinragenden Nadeln. Allein dieser Anblick ist die Reise wert. Auch den Grat, dem wir uns für die nächsten Tage verschrieben hatten, konnten wir zum Teil erkennen. Die Aiguille Blanche de Peuterey beeindruckte mich hauptsächlich. Ein Gedicht von C. F. Meyer kommt mir in den Sinn:

Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald, das ruft mich, das zieht mich, das tut mir Gewalt.

Wir überschreiten die wilde, schäumende und tosende Dorea Baltea auf schwankendem Steg. Den schweren, mittleren Betonpfeiler hat das Hochwasser aus den Angeln gehoben. Welche Wucht und Kraft so ein Wildbach entfalten kann, der noch nicht in ein künstliches Bett gezwungen, noch nicht in Kilowatt, Franken und Rappen umgewandelt ist! Bald betreten wir den würzigen Bergwald und kurz darauf den Weiler Freney. Ein paar zerfallene Hütten erinnern uns an die Vergänglichkeit alles Materiellen. Auch hier hat der Zug in die Stadt nicht haltgemacht. Mit Heubeeren, die direkt am Weg wachsen, holen wir uns den Appetit für das Nachtessen. Der Weg in die Gambahütte, für unsere Begriffe eine leichte Kletterei, ist steil und beschwerlich. Wir kommen trotz unsern aufsässigen « Begleitern » gut vorwärts. Kurz vor 20 Uhr erreichen wir die Hütte, eine Unterkunft, die selbst einem nicht verwöhnten Bergvagabunden armselig, nüchtern und luftig erscheinen muss. Kaum haben wir die Türe aufgestossen, ertönt, fast wie aus dem Jenseits, eine heisere Stimme: « Chiudete la porta! » Wir ziehen aber vor, unsere Mahlzeit im Grünen abzuhalten. Mein Bordkocher wird in Funktion gesetzt, und bald lässt der köstliche Duft des heissen Kaffees eine warme, heimelige Atmosphäre aufkommen. Wir essen tüchtig, trinken viel heissen Kaffee und sind voller Zuversicht.

Unser grosser Tag beginnt um Mitternacht. Selbst für unsere Westalpenfahrt eine sehr frühe Tagwache. Eine Türe knarrt, eine heisere Stimme ruft: « Sveglia! » und eine Karbidfunzel wird von unsichtbarer Hand auf den Tisch gestellt. Heute lassen wir uns nicht zweimal rufen. Schnell nehmen wir das Morgenessen ein und begleichen die Rechnung. Komfort will bezahlt sein! 0.30 Uhr: Wie zwei Kinder, die das erste Mal auf eine Schulreise dürfen, treten wir ins Freie. Das Wetter ist gut; der Hüttenwart wünscht uns « buona gita », und wir ziehen unter sternenübersätem Himmel von dannen. Auf dem Firnfeld unter dem Col d' Innominata schnallen wir die Steigeisen an, aber oben in den Felsen müssen wir sie wieder einpacken. In den nächsten Stunden üben wir das An und Ab noch einige Male.

Der Abstieg vom Col d' Innominata auf den Freneygletscher liegt noch im Mondschatten. Nach zweimaligem Abseilen im Dunkeln betreten wir den Freneygletscher. Es ist noch zu finster, um dieses Spaltenlabyrinth zu betreten. Nach etwa zwanzig Minuten erwacht fern im Osten der junge Tag. Die gewaltigen Konturen der Aiguille Noire de Peuterey, der Dames Anglaises, der Punta Gugliermina heben sich vom heller werdenden Himmel ab. Weiter oben sind die Aiguille Blanche und die 900 Meter hohe Fels- und Eiswand, die zum Gipfel des Mont Blanc de Courmayeur leitet, von einem zarten rosa Schein überzogen. Ein unbeschreibliches Bild. Alles scheint so nah, dass ich mich zu der Hoffnung verleiten lasse, in vier bis fünf Stunden dort oben stehen zu dürfen. An Enttäuschungen muss ich mich noch gewöhnen in den Westalpen! Inzwischen ist die Finsternis auch bei uns in tieferen Regionen der Dämmerung gewichen, und wir beginnen mit der Traversierung des Freneygletschers. An dunklen Spalten vorbei, deren Tiefe man nur ahnen kann, auf schmalen Gesimsen, zwischen gewaltigen Eistürmen und Séracs suchen wir einen Durchgang. Diese unheimlichen Eisgebilde stehen wie betrunkene Gesellen umher, bereit, jeden Moment umzukippen. Jeder von uns spürt es: Hier ist Leben, gefährliches Leben! Wir beeilen uns sehr und erreichen die andere Seite. Aber auch da gibt es kein Verweilen! Die Felsflanke scheint oft von Steinschlag heimgesucht zu werden. Noch schlimmer ist es um die steile Schnee- und Eisrinne, die zur Brèche Nord führt, bestellt. Der Steinschlag hat hier unmissverständliche Spuren hinterlassen. Ich tröste mich damit, dass wir in einer halben Stunde den Grat erreichen. Wir brauchen aber zwei! Ich habe jedes Gefühl für Zeit und Distanz verloren! Ohne Zwischenfall erreichen wir den Grat. Fern, unwirklich fern ist unterdessen die Sonne als feuriger Ball über dem Aostatal aufgegangen. Wir umgehen die Punta Gugliermina auf der Ostflanke, um später wieder den Grat zu erreichen. Zirka um 9 Uhr rasten wir auf den letzten Felsen vor der Aiguille Blanche. Über uns schwingt sich ein schöner Firngrat zu einem Vorgipfel hinauf.

Während wir mit gutem Appetit das zweite Morgenessen einnehmen, schweifen unsere Blicke hinaus in die Weite. Wir befinden uns auf rund 4000 Meter. Links, 3000 Meter unter uns, das Aostatal in einem leichten Dunst, in der Mitte das sattgrüne Val Veni, weiter rechts die grossen Moränen und das Ende des Miagegletschers mit dem gleichnamigen Seelein. Als nähere Umgebung haben wir links den wilden Brenvagletscher, in der Mitte unter uns die Aiguille Noire de Peuterey, rechts den Freneygletscher, der auf zwei Kilometer Länge fast ebensoviel Höhendifferenz aufweist: ein zu Eis erstarrter Wasserfall! Mehr rechts haben wir noch den Innominatagrat mit dem gleichnamigen Col. Dahinter sehen wir weiter unten die winzig kleine Gambahütte.

Frisch gestärkt gehen wir weiter. Ungefähr um 10.30 Uhr stehen wir auf der Aiguille Blanche. Wir setzen unsern Weg über die messerscharfe Firnschneide fort und seilen dann mehrmals bis zum Col de Peuterey ab. Von hier haben wir einen guten Überblick auf die folgende 400 Meter hohe Felswand. Die ersten Nebelschwaden schleichen um die höchsten Gipfel und Grate, der Himmel ist im Süden bewölkt, das sichere Wetter der letzten Tage scheint vorbei, und während wir uns einen stärkenden Kaffee brauen, versteckt sich die Sonne schon zeitweise hinter Wolken. Der Schnee hat sich grau verfärbt. Linkerhand fallen ununterbrochen Stein- und Schneelawinen, mit Sturzbächen vermischt, in die Tiefe; ein unfreundlicher Wind kommt auf. Wir packen hastig zusammen, der « Führer » wird nochmals konsultiert: Zwei bis vier Stunden hinauf zum Pilier d' Angle, sechs bis zwölf Stunden für die Eiswand zum Mont Blanc de Courmayeur! Nach einem steiler werdenden Schneehang passieren wir den heiklen Bergschrund und gelangen in steile Felsen, die direkt zum Pilier d' Angle führen. Hier befindet sich ein feudaler Biwakplatz ( 4243 ). Wir denken aber nicht daran, hier zu bleiben. Vom Col de Peuterey bis hieher haben wir nur eineinhalb Stunden gebraucht. Das Wetter verschlechtert sich zusehends. Der Nebel quillt nun auch aus den Tälern herauf und nimmt uns bald jede Sicht. Morgen wird das Wetter schlecht sein, und es könnte zudem noch viel Schnee fallen! Für uns gibt es nur einen Weg: hinauf, heute noch hinauf aus dieser Mausefalle.Vom Biwakplatz umgehen wir den Gendarmen rechts. Von hier aus schwingt sich ein Eisgrat, anfangs in mehreren Steilstufen als fein geschwungene Linie, später sich in eine steile Firnwand verlierend, noch 500 Meter zum Gipfel hinauf. Die Luft ist merklich dünner geworden; wir können aber unser bisheriges Tempo einhalten. Ich freue mich über unsere gute Verfassung, die wir hier wirklich gut gebrauchen können. Im stillen danke ich meinem Seilgefährten Herbert für jede Kniebeuge und jeden Liegestütz, die er zu Hause mit mir geübt hat.

Wir gehen - gehen - gehen. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Endlos ist der « Weg », der aus dem grauen Nichts kommt und sich im eintönigen Grau wieder verliert. Die Eiswand ist so verfirnt, dass wir meistens, ohne Tritte hacken zu müssen, auf den Frontzacken der Steigeisen gehen können. Wir rücken beide gleichzeitig vor. Die einzige Sicherung ist das Vertrauen zum andern. Ein kurzes Nachlassen der Konzentration, ein Fehltritt hätte hier bedenkliche Folgen. Bei schönem Wetter mag es hier ein wunderbares Steigen sein, ein Gehen wie auf einer Himmelsleiter, aber beim Nebel wird es ein Treten an Ort. Der Höhenmesser wird öfters konsultiert; jedesmal versorgt ihn Herbert mit enttäuschtem Gesicht. Nie zeigt er an, was wir von ihm erhoffen. Es wird dunkel. Ein Blick auf die Uhr: es ist erst 18 Uhr. Das Grollen eines rasch näherkommenden Gewitters lässt uns aufhorchen. Seit Stunden gehen wir auf den Frontzacken, bei einer Neigung von etwa 50 Grad. Das Gewitter kommt rasch näher; vergeblich suchen meine schmerzenden Augen nach einem Unterschlupf, während ein unheimliches Summen die Luft erfüllt. Wir schauen uns an; jeder weiss, was das zu bedeuten hat. Sofort alles Eisen weg! heisst es im « Büchlein », und was machen wir? Das Surren wird stärker, die ersten Graupeln fallen; Augenblicke später kommen uns ganze Lawinen entgegen. Plötzlich blendet uns ein greller Schein, gleichzeitig trifft uns ein heftiger Schlag und wirft uns beinahe aus dem Stand. Wir sind in die Hölle eines Hochgewitters geraten! Ein ohrenbetäubender Lärm bricht über uns herein. Ich schaue nach Herbert; zum Glück erkenne ich seine Umrisse in dieser grauen Masse.

Ich habe nur einen Gedanken: hinauf, irgendwo müssen wir unterkommen; sonst ist es aus! Ein paar Schritte, ein greller Schein... Ist das Dein Wille, muss das so sein?

Noch einmal sind wir davongekommen Herbert ruft mir etwas zu und deutet nach oben. Angestrengt schaue ich hinauf und erahne einen graubraunen Fleck. Es könnte ein Stein, ein Fels sein. Ob dieser 20 oder 200 Meter entfernt ist, kann ich nicht schätzen! Resigniert schüttle ich den Kopf. Werden wir den schützenden Felsen noch erreichen, bevor es uns zum drittenmal trifft? Ich kann es nicht glauben, aber versuchen müssen wir es doch. Der graubraune Fleck nimmt Gestalt an. Ja, es ist wirklich ein Fels, etwa fünf Meter von der Gratschneide entfernt. Noch eine heikle Traverse, und dann habe ich ihn erreicht. Geduckt krieche ich unter das schützende Dach. Bevor ich mich in dieser ungemütlichen Lage umdrehen kann, um Herbert nachzunehmen, muss ich den Rucksack ablegen. Herbert ist schon bis zur Traverse gefolgt. Die ganze Wand scheint nach unten zu fliessen. Doch endlich sind wir beide beim Stein vereint. Es ist nicht gerade gemütlich, ein Adlerhorst wäre ein Exerzierfeld dagegen. Die Hauptsache aber ist, dass wir uns geborgen fühlen. Langsam zieht das Gewitter ab, und wir gehen weiter. Nach sechs bis acht Seillängen wird der Grat steiler, fast senkrecht. Plötzlich sehe ich oben die waagrechte Begrenzung der Gipfelwächte; nach ein paar Schritten stehen wir oben. Ein eiskalter Sturmwind faucht uns an und dicker Nebel versperrt jede Sicht. Rechts von uns ist die Wächte ganz schwach zu erkennen; links davon müssen wir vorsichtig gegen NNW dem Grat folgen. Ich versuche die Karte herauszunehmen, aber es ist fast unmöglich bei diesem Sturmwind und mit den pickelhart gefrorenen Handschuhen. Kleider, Schuhe, alles ist vor Kälte erstarrt. « Eingra- ben, biwakieren, » denke ich, « bevor wir halb erfroren sind !» - « Romy, lueg det! » - Ich springe zu Herbert hinauf: Es hat den Nebel zerrissen! Aus Angst, er könne uns bald wieder einen Streich spielen, setzen wir zum Endspurt an. Durch eine Mulde, etwa 400 Meter vom Gipfel getrennt, haben wir den Mont-Blanc-Gipfel erkannt. Kurze Zeit später stehen wir auf dem höchsten Punkt, auf 4807 Meter. Es ist 20 Uhr, ein wunderbarer Abend bricht an, der Nebel ist verschwunden, und es ist beinahe windstill. Still wird es auch in unseren Herzen. Die Spannung der letzten neunzehn Stunden legt sich. Ein kräftiger Händedruck sagt mehr als viele Worte. Fern im Westen sendet uns die Sonne einen letzten Gruss, während im Osten der Mond schon aufgegangen ist. In den tiefen Tälern zu unsern Füssen hat sich die Dämmerung ausgebreitet, steigt immer höher, die ersten Lichter blinken auf als erster, sichtbarer Gruss aus einer andern Welt. Wir geniessen noch einen Augenblick diesen Frieden, diese unendliche Stille, von der M. Oechslin schreibt:

Je höher der Berge Gipfel steigen, um so grosser wird die Stille um sie. Das, was wir Leben nennen, bleibt zurück. Um so stärker aber wird das Lebendige der Stille, die seit Ewigkeiten in dieser Hochwelt waltet und denen Stärkung gibt, die sie still und ehrfürchtig betreten.

Nach einem letzten Blick in die Runde machen wir uns an den Abstieg.

Kurze Zeit später stossen wir die Türe der Vallothütte auf ( 4362 m u. M. ). Aber in diesem furchtbar dreckigen « Kühlschrank » würden wir eine ungemütliche Nacht verbringen, und alles in uns verlangt doch nach einem warmen Hort, nach warmen Wolldecken und viel, viel Schlaf. An das alles wäre hier nicht zu denken. Ich mache den Vorschlag, bis zum Refuge du Goûter abzusteigen. Wir raffen uns auf. Im Halbschlaf setzen wir einen Fuss vor den andern. Nach einer speziellen Einlage, die uns aus dem Dämmerungszustand aufwachen lässt, erreichen wir das langersehnte Refuge ( 3817 m ü. M. ), dies eineinhalb Stunden, nachdem wir den Gipfel des Mont Blanc verlassen haben.

Der Hüttenwart empfängt uns nicht gerade freundlich. Er wollte ins Bett; dennoch kocht er uns einen heissen Kaffee, dann legen auch wir uns todmüde, aber glücklich und zufrieden aufs Ohr. Als wir uns um 7 Uhr aus dem warmen Wollknäuel schälen, um nach dem Wetter zu sehen, ist alle Müdigkeit weg. Das Wetter ist unfreundlich und rauh; so fällt es uns nicht schwer, einen Ruhetag einzuschalten. Er schmeckt nach « dolce far niente » und Ausschlafen. Aber wir haben den ganzen Tag zu tun: die Ausrüstung instandstellen und trocknen, Karten schreiben, essen usw. Plötzlich ist es Abend. Am andern Morgen nehmen wir beizeiten den Abstieg unter die Füsse, bei etwa zehn Zentimeter Neuschnee. So macht es uns nichts aus, heimwärts zu ziehen. In St-Gervais kaufen wir uns zwei Pariserbrote, Käse und Birnen, die wir auf der Fahrt nach Chamonix verzehren. Inzwischen ist es wieder wärmer geworden, die Sonne bricht durch. In Chamonix gibt 's eine Stunde Aufenthalt. Wir flanieren durch die mit Feriengästen aller Nationen verstopften Strassen, amüsieren uns über kitschige Souvenirläden und trinken zur Feier des Tages einen Doppelliter Pastmilch. Dann geht es der Heimat zu. Nun fängt es an zu regnen. « Wenn nur schon die Passkontrolle vorbei wäre! » denke ich. Herbert meint auch noch « föppeln » zu müssen!

Die Passkontrolle war jedoch bald vorbei und somit auch die letzte Hürde genommen. Wer kann es uns verargen, dass wir im Speisewagen ein feudales Nachtessen einnahmen mit verschiedenen « en passant » und einem guten Tropfen? Nur zu schnell waren wir in Zürich, wo sich unsere Wege leider für längere Zeit trennten. Damit fand für uns eine der grössten und längsten Fahrten in den Alpen ihren Abschluss. In Gedanken werden wir zwei noch oft am Peuterey verweilen. Es war und ist für uns die grosse Fahrt der Bewährung im doppelten Sinn geworden. Das Schönste daran ist, dass wir nicht als Sieger oder Bezwinger des Peutereygrates heimkehrten, sondern als zwei kleine, bescheidene Menschlein, die sich voll bewusst sind, was aus uns in dieser entfesselten Natur geworden wäre, wenn uns nicht die Hand einer höheren Macht gnädig beschützt hätte.

Abenteuer in den Ten Peaks

VON AD. ZELLWEGER, BURNS LAKE, CANADA, SAC RHEIN Mit 6 Bildern ( 98-103 ) Der Gebirgszug der Ten Peaks bildet ein kleines Stück weit die Grenze zwischen den beiden kanadischen Provinzen British Columbia und Alberta und durchzieht die Rocky Mountains etwa 12 Kilomer südwestlich des berühmten Trans-Canada-Highways. Von Lake Louise aus, das zu den grössten Wintersportplätzen Kanadas zählt, erreicht man nach einer halbstündigen Autofahrt den Campingplatz am Moraine Lake Von hier aus werden die meisten Bergtouren in diese oft recht einsame Bergwelt unternommen Bevor man sich aber auf eine Bergtour begibt - und führe sie auch nur auf einer leichten Route zum Gipfel -, muss man sich erst beim « Park ranger » des betreffenden Nationalparkes registrieren lassen. Für einen Schweizer mag das ein bisschen ungewohnt sein, weil er in seiner Heimat nichts anderes kannte, als jeden Berg, den er liebt und dessen Besteigung er sich gewachsen fühlt, zu erklimmen.

Schon seit dem Frühjahr planten wir eine Überschreitung des ganzen Gebirgszuges der Ten Peaks von West nach Ost. Nun, Mitte September, war es dann endlich soweit! Nach dreizehnstündiger Autofahrt, von Vancouver aus über den Rogers Pass, schlugen mein Kamerad Jerg und ich am Freitagabend beim Einnachten unser Zelt am Moraine Lake, 1880 Meter, auf. Leider hielten uns ein paar Schlechtwettertage im « Camp ground » unten fest. Am Sonntag benützten wir eine kurze Aufhellung, um einen kleinen Abstecher ins Consolation Valley zu unternehmen; denn eine Auskundschaftung der dortigen Abstiegsmöglichkeiten konnte nur von Nutzen sein. Nach stürmischen Regenschauern in der Nacht auf den Montag und Neuschnee bis unter die 2500-Meter-Grenze besserte sich das Wetter allmählich. Obschon wir wussten, dass unser Unternehmen in Anbetracht des Neuschnees und der späten Jahreszeit auf « wackligen Füssen » stand, liessen wir uns nicht entmutigen und trafen noch am gleichen Tag unsere « Reisevorbereitungen ».

Tags darauf schulterten wir bereits um 4 Uhr unsere schweren Säcke, die nicht nur Kletter- und Biwakmaterial für 3000 Meter Höhe in sich bargen, sondern auch Verpflegung für mindestens fünf Tage.

Unter einem herrlichen Sternenhimmel marschierte ich hinter Jerg, den spärlichen Schein seiner Taschenlampe ausnützend, durch lockeren Lärchenwald dem Wenkchemna Pass, 2600 Meter, zu. Als sich eben die Sonne blutrot über den Horizont erhob, erreichten wir den Übergang, wo uns ein heftiger Westwind den Treibschnee ins Gesicht blies. Eine kalte Morgendusche- und bestimmt kein gutes Wetterzeichen! Über ein steiles Firnfeld gelangten wir auf den Nordwestgrat des Neptuak Mountain ( Peak IX ). Von da aus führte ein gefährlicher Anstieg über Geröllhalden und brüchige Felsbänder, die durch das Schmelzwasser des Vortages mit einem harten Eispanzer überzogen waren, dem Gipfel zu. Schlechtwetter und lange Vorhänge von Eiszapfen an der Gipfelwand liessen uns kaum 150 Meter unterhalb des ersten Etappenzieles den Rückzug antreten. Nachmittags um halb 5 Uhr erreichten wir wieder den Pass und wollten uns auf keinen Fall jetzt schon geschlagen geben, denn das Wetter konnte sich bis zum nächsten Morgen wieder bessern. Jerg machte mir den Vorschlag, ins Prospektors Valley abzusteigen; eventuell liesse sich von Süden her ein besserer Anstieg finden. Sofort stimmte ich zu. Beim Dämmerschein schlüpften wir am rauschenden Tokumm Creek in unsere Biwaksäcke, während ein knisterndes Feuerchen uns nicht nur wärmen, sondern auch die Bären vom Leibe halten sollte, von denen noch viele in dieser einsamen Gegend hausen.

Am Morgen lachte die Sonne vom wolkenlosen Himmel, als wollte sie uns wegen des gestrigen Rückzuges necken. Durch unwegsames Dickicht und über spärliche Wiesen suchten wir uns den Weg in südöstlicher Richtung. Rote und weisse Calluna waren unsere Begleiter, und oft lachte uns auch ein blaues Alpenasterchen entgegen. Gegen Nachmittag erreichten wir den Kaufmann Lake und beschlossen, trotz der frühen Stunde hier in dieser verträumten, unberührten Natur unser Nachtlager herzurichten.

Schon beim ersten Morgengrauen wühlten wir uns eine steile Geröllrinne Richtung Mt. Allen ( Peak VI ) empor, was uns manchen Schweisstropfen kostete und dann und wann einen Kraftausdruck entlockte. In knapp 3000 Meter Höhe überredete ich meinen Seilgefährten, uns zum Rückzug zu entschliessen, da sämtliche Aufstiegsrouten von Stein- und Eisschlag bedroht waren. Wir stiegen schweren Herzens zurück und querten auf Felsbändern und Geröllhalden Richtung Ost mit dem Ziel«Fay Hut ». Das hätte eine kleine Hütte sein sollen, die aber wegen des verfallenen Weges und der schlechten Karte nicht zu finden war. So quälten wir uns unter der heissen Nachmittagssonne erst durch eine Moränenlandschaft und später über den South Glacier hinauf zur Biwakschachtel.

Die Bivouac Hut « Graham Cooper Memorial » gehört dem Calgary Mountain Club und ist einem seiner Mitglieder gewidmet, welches nach Errichtung der Hütte im Jahre 1963 beim Abstieg zu Tode stürzte. Die Hütte steht zwischen den Peak III und IV in einer Höhe von 3000 Metern, oberhalb der markanten Eisrinne, die sehr viel als Aufstiegsroute benützt wird. Wie ein Vogelnest thront sie auf einem luftigen Podest, das fast senkrecht zum Moraine Lake abfällt, und bietet neun Bergsteigern Unterkunft. Von ihrem Standort aus geniesst man einen phantastischen Tiefblick auf den See und in das Tal der Ten Peaks. Obschon die Hütte mit starken Drahtseilen verankert ist, muss man ein verwegener Optimist sein, um bei einem Sturm ruhig unter ihrem Dach schlafen zu können.

Um unsere Diasammlung noch um ein paar Aufnahmen zu bereichern, erklettern wir einen etwa vierzig Meter hohen Felsbuckel in der Nähe der Hütte.

Und nun stehe ich hier auf diesem luftigen Aussichtspunkt und beobachte die untergehende Sonne, wie sie mit ihren letzten Strahlen die frischverschneiten Berggipfel in ein zartes Rot taucht. Doch von hier aus kann man nur einen kleinen Einblick in die riesige Gebirgswelt der Rocky Mountains erhaschen, die sich in einer Länge von über 800 Kilometern durch Kanada ziehen.

Inzwischen hat Jerg den Benzinkocher in Betrieb gesetzt, und bereits brodelt das Nachtessen darauf. Heute legen wir uns früh auf die Pritschen, denn morgen wollen wir endlich den ersten Gipfelsieg in den Ten Peaks feiern.

Früh um 5 Uhr wird Tagwache « geblasen ». Wir queren den South Glacier in südöstlicher Richtung, überklettern eine Felsrippe und suchen unsern Weg über Spalten und gefährliche Schneebrücken bis an den Fuss des Mt. Little. Dort gewinnen wir auf steilem, aber hartem Firn rasch an Höhe. Obschon wir uns meistens nur auf den Vorderzacken bewegen können, hoffen wir doch ohne Zwischenfall den NW-Grat zu erreichen. Aber kaum eine Seillänge unterhalb der Felsen finden die Steigeisen in dem nun auftretenden Wassereis keinen Halt mehr. Jerg schlägt in mühsamer Arbeit Stufe um Stufe, in denen ich als zweiter mühelos nachsteigen kann. Oben auf einem guten Standplatz werden Steigeisen und Pickel abgelegt, und wir turnen über den brüchigen und luftigen Grat dem Gipfel zu. Der Mt. Little ( Peak II ) ist zwar mit 3140 Metern einer der niedrigsten der zehn Gipfel, aber unsere Freude ist deshalb nicht geringer, haben wir doch drei Tage lang auf den ersten Gipfelsieg warten müssen. Wieder geniesst man eine herrlich klare Aussicht in die weite Bergwelt, und in der Ferne lockt da und dort ein weisser Schneegipfel, von dem man gerne den Namen wüsste. Köstlich amüsieren wir uns über den Steinmann, den ein paar Humoristen vor dem Auseinanderfallen retteten, indem sie ihm eine Reepschnur um den Bauch gebunden haben. Nur ungern scheiden wir von dieser hohen Warte, aber wenn wir heute noch einen Gipfel buchen wollen, müssen wir uns beeilen. Rasch steigen wir über den Grat und unsere Stufenleiter zum North Glacier ab.

Jerg erklärt mir, dass er auch den Mt. Bowlen von Norden anpacken wolle. Ich bin einverstanden, denn er hat in Sachen Eis doch mehr Erfahrung als ich. Durch lockeren Pulverschnee spurt er der Nordflanke zu und beginnt bald wieder seine Stufenarbeit. Wird uns also auch hier das « verflixte » Wassereis aufhalten? Die Eisschollen fliegen, fahren über den steilen Gletscher ab, springen über den Gletscherabbruch hinaus und schlagen sicher erst nach langem Flug unten auf einer Geröllhalde am Moraine Lake auf. Damit uns nicht das gleiche Schicksal ereilt, sichern wir uns mit Eisschrauben. Wettersorgen müssen wir wenigstens keine haben: Langsam zieht die Sonne ihre Bahn am wolkenlosen Himmel und verschwindet nun hinter dem Gipfel. Durch die lange Warterei hier in der schattigen Nordwand friere ich allerdings erbärmlich. Endlich lässt mich Jerg nachkommen. Nach einer Stufenleiter von gut 150 « Sprossen » steigen wir in die Felsen aus, die über und über mit Eis und Schnee bedeckt sind. Die Steigeisen werden weiter verwendet, damit wir wenigstens noch ein bisschen Halt haben. Was nicht zusammengefroren ist, ist unheimlich brüchig. Ich schimpfe über den Bruchhaufen, der überhaupt keine vernünftige Sicherung zulässt, denn wenn einer stürzte, könnte ihn der andere unmöglich halten, und nach einer kurzen Rutschpartie auf dem Gletscher würde man in freiem Fall gut 800 Meter bis zum Fuss der Nordwand abstürzen. Langsam, mit äusserster Vorsicht tasten wir uns höher und erreichen nach einer guten Stunde trockenen, gesunden Fels. Nach kurzer Kletterei stehen wir auf dem Ostgrat, wo der Gipfel schon zum Greifen nahe ist. Freudestrahlend und glücklich reichen wir uns auf dem höchsten Punkt die Hände, haben wir doch nicht weniger als vier Stunden um diesen Gipfel gekämpft. Das ist eine lange Zeit, wenn man sie mit dem Höhenunterschied vergleicht, der von der Hütte aus nur gut 400 Meter beträgt. Da der Mt. Bowlen ( Peak III ) den Mt. Little um fast 250 Meter überragt, ist die Aussicht hier noch imposanter.

Obschon unser Hunger hin und wieder mit Dörrfrüchten beschwichtigt wurde, treibt uns jetzt doch der Gedanke an etwas Warmes wieder der Hütte zu. In grossen Sprüngen fahren wir durch eine Geröllrinne bis auf den South Glacier ab und erreichen nach zwanzig Minuten die Biwakschachtel. Müde, aber glücklich rollen wir uns heute abend in die Wolldecken.

Auch am nächsten Tag machen wir uns in aller Frühe « reisefertig ». Über uns wölbt sich ein klarer, blauschwarzer Morgenhimmel, an dem noch die letzten Sterne funkeln. Auf unserem heutigen Programm steht der Mt. Fay, der die lange Gipfelreihe der Ten Peaks anführt. Über den South Glacier leicht absteigend, erreichen wir nach einem einstündigen Marsch den Südfuss. des Peak I, wie er auch genannt wird. Rasch sind die warmen Kleidungsstücke ausgezogen und die Steigeisen an den Schuhen festgeschnallt, denn auch hier weist uns ein steiles Schneefeld die Route bis in Gipfelnähe. Anfangs müssen wir noch Spalten umgehen, doch sie halten uns kaum auf. Nur die letzte und breiteste von allen will uns den Weg versperren. Bald findet Jerg eine Schneebrücke, die zwar dünn und schmal ist, aber doch hart genug gefroren, um uns zu tragen, und wir balancieren wie Seiltänzer darüber. Unsere Steigeisen greifen gut im hartgefrorenen Schnee. Durch eine steile, ausgeaperte Rinne steigen wir aus in die Felsen und klettern dem Westgrat zu. Auch hier, wie überall in den Ten Peaks, sind die Felsen sehr brüchig, und oft löst sich mit lautem Gepolter ein Steinschlag. Um die achte Morgenstunde stehe ich mit meinem Kameraden bereits auf dem 3230 Meter hohen Gipfel des Mt. Fay, und wie immer fasziniert mich zuerst die grossartige Rundsicht.

Gerade vor uns, in nördlicher Richtung, erhebt sich, kaum 100 Meter niedriger als unser Standort, der Mt. Babel. Links von ihm, auf der andern Talseite, steht majestätisch der Mt. Temple. Mit Recht trägt er seinen Namen, denn sein Aufbau gleicht mit den vielen Felsterrassen wirklich einem Tempel. Weiter links folgt der Pinnacle-Mountain, ein hübscher Kletterberg mit vielen Zacken und Türmen; dann der Eiffel Peak, den wir uns nächste Woche noch genauer ansehen wollen. Zu seinen Füssen glitzert der Eiffel Lake wie unzählige Kristalle. Im Hintergrund gucken drei vergletscherte Riesen hervor: der Mt. Victoria, der Mt. Huber und der Mt. Lefroy. Rechts vom Wenkchemna Pass grüssen die zwei kühnen Gipfel des Ringrose Peak und des Hungabee-Mountain, wobei der letztere als mächtige Felspyramide dem Matterhorn ähnlich sieht. Dann folgt gegen Westen der lange Grat der Ten Peaks, der uns so viele Schweisstropfen gekostet hat, ohne dass wir zu unserem geplanten Ziel gelangt sind. Im Süden reihen sich dann Gipfel an Gipfel, zu deren Bestimmung uns leider die Karte fehlt. Irgendwo in der Ferne, in südöstlicher Richtung, muss der Mt.Assiniboine sein, als « Matterhorn der Canadian Rockies » bekannt. In gleicher Richtung, nur viel näher, erhebt sich der Chimney Peak. Auch er steht, wie die ganze Kette der Ten Peaks und ihre Fortsetzung bis zum Mt. Victoria, wie schon früher erwähnt, auf der Grenze zwischen British Columbia und Alberta. Im Osten vollenden der Mt. Quadra mit seinen vier Gipfeln und der Bident-Mountain den Grat, der dann zum Consolation Pass, einem weglosen Übergang, abfällt. Unsere Rundsicht beschliesst der breite Rücken des Panorama Ridges, der sich rechts vom Mt. Babel, direkt über den zwei hübschen Consolation Lakes, erhebt. Dann aber senken wir unsern Blick und sehen ein Bild, das uns zwar schon lange vertraut ist, das aber stets von neuem fesselt: den Moraine Lake! Er liegt wie immer tiefblau und verträumt zu Füssen der Ten Peaks. Oft schaukelt ein Kanu oder ein Ruderboot auf seinen Wellen, auf der Suche nach romantischen Plätzchen an seinen Ufern. Ein unvergesslicher Tiefblick! Vor allem jetzt, wo die Lärchen in ihrem gelben Herbstkleid als helle Flecken aus dem dunkelgrünen Tannenwald herausleuchten. Darüber thronen die zum Teil weissverschneiten Dreitausender wie Könige.Von unserer freistehenden Kuppe aus glaubt man in ein Märchenland zu schauen.

Ja, wir stehen wirklich an einem luftigen Ort! Vor uns fällt der Mt. Fay in einem riesigen Überhang aus brüchigem Fels und Hängegletschern zum North Glacier ab, und erst jetzt bemerken wir den faustbreiten Spalt im Geröll, der etwa 8 Meter hinter uns in einem Halbbogen von einem Grat zum andern führt; vor lauter Naturschönheiten haben wir ihn gar nicht bemerkt. Uns werden die Knie weich beim Gedanken, mit einem Teil des Gipfels über die Nordwand abzustürzen. Jetzt aber rasch zurück, denn für so ein Vergnügen hat keiner von uns Interesse! Früher oder später wird diese Spitze einmal abbrechen; der Mt. Fay wird um ein paar Meter niedriger sein und einen neuen Steinmann verlangen. Nach ausgiebiger Gipfelrast und einer Dose Ananas als Durststiller treten wir den Abstieg an. Die Sonne hat bereits den Schnee aufgeweicht, doch im Schatten lässt uns der noch harte Firn rasch absteigen. Oft pfeift uns ein einzelner Stein um die Ohren, der uns zur Eile mahnt. Kurz vor der Schneebrücke schreckt uns ein Steinschlag auf, dem wir im letzten Moment ausweichen können. Mit ein paar Sätzen sind wir aus der Gefahrenzone und wandern gemütlich unserem Weekend-Häuschen zu. Dort wird, allerdings noch etwas früh, das Mittagessen gekocht. Ein Blick auf die Speisekarte: Griessbrei mit Sultaninen! Viel mehr haben wir nicht mehr dabei, aber es reicht, denn heute wollen wir ja noch zum Moraine Lake absteigen.

Nach kurzem Mittagsschlaf starten wir um 1 Uhr zum Peak IV. Da er kaum 500 Meter südwestlich der Hütte steht, lässt er sich vor der Rückkehr ins Tal noch mühelos « mitnehmen ». Über ein Schneefeld aufsteigend, erreichen wir nach kurzer Zeit die Felsen. Steigeisen, Seil und Pickel werden in der Randkluft deponiert, da uns eine leichte Kletterroute zum Gipfel führen wird. Es ist hier so brüchig, dass ich diesen Aufstieg mit « überhängender Geröllhalde » betiteln möchte. Alles, was man anpackt, kommt einem entgegen. Oft poltern ganze Steinlawinen nieder und verschwinden krachend in der Randkluft. Zwischendurch sind dann wieder ein paar Meter fest, und dann erfreuen wir uns ganz besonders der hübschen Kletterstellen. Von der Scharte aus, die den Peak IV in zwei Felsköpfe teilt, tasten wir uns über einen äusserst brüchigen Grat dem Nordgipfel zu. Jedesmal stockt unser Atem, wenn sich das Gestein wieder bis zu einem Meter tief bewegt und zittert. Es kommt mir vor wie eine Trockenmauer, die schlecht aufeinandergestapelt wurde. Beim Steinmann atmen wir erleichtert auf und bezeugen mit einem Handschlag unsern Erfolg. Nachdem wir uns im Gipfelbuch verewigt haben, balancieren wir mit allen möglichen Gewichtsverlagerungen den Grat hinunter und erreichen zum Glück ohne Rutschpartie unser Materialdepot. Schnell ist der Rucksack gepackt, und los geht 's, das Schneefeld hinab, anfangs noch zaghaft, dann aber in grossen Sprüngen! Pflichtgetreu wird die Bivouac Hut aufgeräumt und verschlossen.

Um halb 3 Uhr stehen wir bereits an der Rinne, die im Führer als Auf- und Abstieg kurz erwähnt, aber nicht beschrieben ist. Zwischen brüchigen Felsabstürzen gähnen ausgeaperte Eisrinnen. Uns graust vor diesem Rückzug! In Erinnerung der Bergsteiger, die hier in dieser Schlucht zu Tode gestürzt sind, fassen wir den Entschluss, lieber den fünfmal längeren Umweg über den Consolation Pass anzutreten und noch ein kaltes Biwak in Kauf zu nehmen, als hier Kopf und Kragen zu riskieren. Nun beginnt ein Wettlauf mit der Sonne, der sich aber zu unseren Gunsten entscheidet.

Auf der gleichen Route wie am Morgen stapfen wir durch schuhtiefen Schneematsch und übersteigen in der Nähe des Mt. Fay einen hohen Felsgrat. Den Weiterweg weist uns der North Glacier des Mt. Quadra. Doch wir haben uns vergeblich gefreut, heute noch das Tal zu erreichen, denn lächerliche anderthalb Seillängen vor den Felsen, die uns einen mühelosen Abstieg versprechen, versperrt uns ein senkrechter Gletscherabbruch den Weg. Er müsste in horizontaler Richtung gequert werden, was uns zu gefährlich und zu zeitraubend erscheint. Meine Uhr zeigt bereits halb 6. Der Wille, noch vor dem Einnachten einen bequemen Biwakplatz zu finden, treibt uns zur Eile an. Über riesige Spalten und Schneebrücken, von denen eine so gross ist, dass sie eine Höhle bildet, in die man bequem hätte ein Einfamilienhaus hineinstellen können, sucht Jerg den Aufstieg zur Scharte zwischen Bident-Mountain und Mt.Quadra. Gegen Süden « fahren » wir auf Schnee- und Geröllhalden ab, und auf einer Felsterrasse eilen wir dem Consolation Pass zu. Bereits dämmert es, und oft stolpert man nicht nur über Steine, sondern auch über die eigenen Füsse. Wir sind hundemüde! Von weitem grüsst der Übergang, der sicher unter ähnlichen Bedingungen seinen Namen bekommen hat, bedeutet doch das Wort « Consolation » auf deutsch nichts anderes als « Trost ». Soll auch er uns wenigstens den Trost bringen, dass wir diese Nacht schon wieder in einem warmen Schlafsack unter dem schützenden Zeltdach verbringenIn einer Höhe von 2500 Metern finden wir einen Rasenfleck, auf dem wir unser letztes Biwak aufschlagen wollen. Aus einem Haferflockenrest und dreckigem Schnee kocht Jerg unser Abendessen. Dann ziehen wir alle verfügbaren Kleidungsstücke an und schlüpfen in den Biwaksack.

In der Nacht rüttelt uns oft die Kälte wach. Morgens um 4 Uhr habe ich genug vom ständigen Zähneklappern und koche einen Tee, der uns wieder ein bisschen belebt. Frierend packen wir unsere vom Reif gefrorenen und schneeweissen Sachen zusammen und steigen zum Pass hoch. Steile Schuttbänder, Geröllhalden und brüchige Felswände lassen uns ins Consolation Valley absteigen.

Unten erfreuen wir uns an einem glasklaren Bergsee, in dem sich gerade der Mt.Temple in seinem Morgenrot spiegelt. Lärchengruppen, deren Herbstkleid in der Morgensonne golden leuchtet, bilden einen phantastischen Kontrast zu den dunkelgrünen Matten, durch die ein schäumender Bergbach rauscht. An den Gräsern funkeln Tautropfen wie Perlen und verwandeln die einsame Berglandschaft in ein farbenfrohes Paradies. Hin und wieder werfe ich einen Blick zurück, hinauf zum Bident-Mountain, wo wir gestern abend unsern letzten Rückzug haben antreten müssen. Aber schon eilen unsere Gedanken wieder hinunter zum Camp ground - zu einem guten Essen und einem kühlen Bier. Nach fünfeinhalb Tagen Vagabundenleben in den Bergen sehnt man sich wieder ins Tal, nicht nur wegen guten Essens und Trinkens; nein, oft verlangt man noch nach etwas ganz anderem - nach einem Stück Seife!

Glücklich und voller Freude erreichen wir den Moraine Lake, obschon in den letzten Tagen nicht alles nach Wunsch und Plan verlaufen ist.

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