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Der Säntis-Altmann

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Von Adolf Reich

Ein Berebrief Mit 1 Bild ( 96Bühler, Appenzell A. Rh. ) Lieber Vater Altmann!

Glaubst Du wohl, ich hätte Dich vergessen oder ich sei müde geworden, Dich zu besuchen? Zwar ist es schon recht lange her seit unserer letzten Zwiesprache, sechs lange Monate. Aber meine Gedanken weilten oft bei Dir, meinem Lieblingsberg. Weisst Du eigentlich, dass ich mich weit unten im Flachlande befinde - dort, wo die wilden Bergwasser ruhig dahinfliessen, ihren Übermut verloren haben und erwachsen geworden sind? Nur selten kann ich an einem klaren Morgen die Umrisse meiner heimatlichen Gipfel schwach erkennen. Dann aber geht mein Sehnen zu Dir, meinem alten mächtigen Freund dort oben im Säntismassiv.

Sicher haben Dich seither Zahllose aufgesucht, die meisten Dir fremd, mit hastiger, lärmiger Betriebsamkeit. Du liessest sie gewähren und hülltest Dich in den Mantel des Schweigens. Nun wollen wir zwei alten Freunde wieder einmal zusammen plaudern. Es wird uns sicher beiden Freude bereiten.

Weisst Du noch, als der Knabe zum ersten Male zu Dir kam, voller Angst vor der gewaltigen Natur? Doch Du hast ihn gleich bezaubert durch Deine Erhabenheit und Grösse. Über die Normalroute erkletterten wir auf leisen Sohlen Deinen Gipfel. Welch eine Wunderwelt tat sich da auf einmal vor mir auf! Noch jagten mir Deine schroffen Felsformen Schrecken ein. Gibt es Menschen, welche diese senkrechten Wände durchsteigen und über diese messerscharfen Grate turnen? fragte ich mich. Aber wie bald fand auch ich dies schreckhaft schön!

Unter Deiner Obhut, Vater Altmann, habe auch ich allmählich meine Berufung zum Bergsteiger erkannt. Unzählige Male kam ich zu Dir in die hohe Schule des Kletterns. Du hast mich mit gütiger, aber fester Hand geformt und mir gezeigt, worauf es ankommt. Wie manchen Samstagabend fuhr ich müde durch das Toggenburg zu Dir hinauf! Im Flüren-tobel ob Wildhaus, bevor ich Dich noch sah, spürte ich schon Deine Nähe. Mächtig rauschte Dein Atem talwärts und schien, mich bedrängend, mir den Zutritt zur höchsten Zinne verwehren zu wollen. Aber ich vergass meine geplagten Glieder und arbeitete mich trotzig zur Kraialp hinauf.

Der frühe Sonntagmorgen fand uns tatenfroh Deinen silbergrauen Felsen zustreben. Neu war mir alles im Schaffhauser Kamin, den wir als Zugang wählten. Die zwei kurzen Wändchen im untern Teil erweckten in mir grösste Freude. Nachher galt es nur noch, behutsam über loses Gestein emporzusteigen. Du belohntest uns mit einer prachtvollen Rundsicht. Zu unseren Fussen leuchtete, eingebettet in Fels und grüne Matten, der dunkle Fählensee. Über die Hügel des Appenzellerländchens hinweg glitt der Blick zur weiten Fläche des Bodensees und zum Schwarzwald. Während wir südöstlich an der Suvretta vorbei in weiter Ferne die Bernina-Gruppe erblickten, stieg ein Wunsch in uns auf, welcher sich später in herrlichster Weise erfüllte: Bernina und Piz Palü. Die nahen Churfirsten, Piz Soi und Spitzmeilen erinnerten uns an manche rassige Abfahrt in stiebendem Pulverschnee oder führigem Sulzschnee. Als mächtiger Wächter des Glarnerlandes grösste der Tödi, mit welchem ich später auch Freundschaft Schloss.

Im nächsten Jahr kam die Südroute mit ihrem plattigen Einstieg an die Reihe. Weit zieht sich der schräge Kamin durch die Wand hinauf: zum Spreizen oder Stemmen eine Wonne 1 An einem Regensonn tag liessest Du ein munteres Bächlein durch diesen Kamin sprudeln. Das war für uns gerade ideal. Auf Schritt und Tritt konnten wir unsere Becher füllen: eine feuchtfröhliche Tour, aber im ehrlichen, reinen Sinne des Wortes!

Wir entdeckten den Ostgrat. Um diesen zu meistern, musste mein Freund schon Vaters Feuerwehrseil heimlich in den Rucksack packen. Ein Glück, dass Samstag/Sonntag nie ein Brand ausbrach! Auch hier gefiel mir die untere Hälfte am besten. Schöne Risse laufen zu einem Felszahn hinauf. Mancher hätte dort erleichtert aufgeatmet, derin die grössten Schwierigkeiten sind zu Ende. Doch uns schien diese Kletterei nur zu kurz.

Schliesslich folgte als Krönung jener verlockendste Weg, den Du uns zu bieten hast und den Du Deinen besonderen Günstlingen vorbehältst: Der « West ». Noch heute, wo ich auf viele andere schöne Klettereien zurückblicken darf, scheint mir dieser Grat der herrlichste von allen. Noch einmal erlebe ich die bangen Minuten des Anfängers, der zum erstenmal beim Spreizschritt, der eigentlichen Schlüsselstelle, steht und sich zweifelnd fragt, wie das weitergehen soll. Wohl kann man auch von ganz unten in den « West » einsteigen, doch dazu braucht es schon etwas Werkzeug. Das Queren und Erklimmen des anschliessenden Wändchens bis zum nächsten Sicherungsplatz liess unsere Herzen deutlich rascher schlagen. Seillänge um Seillänge folgte in schönster Abwechslung bis zum Gratbüchlein. Du weisst, dass dort eines meiner Lieblingsplätzchen ist, wo ich schon manchmal geträumt oder Pläne für weitere Bergfahrten geschmiedet habe. Ausgeruht erklommen wir ein weiteres Wändchen. Jeder seiner drei Risse hat seinen besondern Reiz. Wer das nötige Fingerspitzengefühl hat, darf es ruhig über den Grat wagen. Noch ein paar zahmere Seillängen, und Dein Gipfel kam in Sicht. Zufrieden und froh liessen wir das Seil im Rucksack verschwinden.

Wie Du mir so Dein Wesen und Deine Eigenart offenbartest, gewann ich Dich immer lieber; wir wurden alte Vertraute. Aber Du lehrtest mich auch kämpfen, ja kämpfen ums Leben. Mein Freund und ich, beide noch junge Stürmer, kamen an einem Regensonntag an Deine Ostflanke. Der Himmel zeigte eine verdriessliche Miene, weshalb einige Kameraden uns nur von ferne aus der Wohlgeborgenheit ihrer Zelte grüssten. Doch wir zögerten keinen Augenblick, schlüpften in die Finken und ins Seil. Wir waren offensichtlich zu ungestüm; aber unser Blut drängte nach oben, himmelwärts, wie das eines jungen Adlers. Du dachtest Dir: diesmal soll euch der Weg schwer werden, ihr sollt um meinen Gipfel mit dem ganzen Einsatz eures jungen Lebens kämpfen müssen. Der Himmel schickte Schnee; immer höher häufte sich der weisse Flaum, und verzweifelt schlüpfrig wurde der Fels. Manchmal streckte sich das steif gewordene Seil in bedrohlicher Weise, doch ich hatte guten Stand. Immer härter wurden unsere Gesichtszüge. Der Sturm liess uns erschauern, und unsere Finger wurden weiss und gefühllos. Langsam klommen wir Meter um Meter höher. Ein kräftiger Händedruck und ein froher Blick aus des Seilgefährten Auge entschädigte uns reichlich für die Anstrengungen. Das Toben der entfesselten Elemente um uns war vergessen. Wir dankten auch Dir, lieber Altmann, für das, was Du uns in diesen zwei Stunden mit väterlicher Strenge beigebracht hast.

Ein andermal kletterte ich abseits des Westgrates im Neuland einiger Platten und Risse umher. Immer mehr verstieg ich mich. Die Kraft meiner Arme liess bedenklich nach, und meine Füsse fingen an, auf schmaler Felsleiste zu zittern. In höchster Not und Ausweglosigkeit botest Du mir einen rettenden Griff. Auch diese gnädig erteilte Lehre habe ich nicht vergessen.

Von den vielen Stunden meiner Freizeit, die ich in Deiner Nähe verbrachte, bleibt mir jener kurze Urlaub ebenfalls in unauslöschlicher Erinnerung. Tiefer Schnee lag noch zu Deinen Fussen. Mühsam stapfte ich gegen Deinen Ostgrat. Da! ein dumpfes Geräusch, und der ganze Hang geriet in Bewegung. In rasender Fahrt flogen Gedanken und Bilder durch meinen Sinn. Wenn ich nun einsam hier oben vom Schnee zugedeckt würde, schlimmer als eingesperrt wie ein Gefangener in seiner Zelle? Nur Du wärest Zeuge gewesen meines letzten Kampfes. Meine Abwehrkräfte, so winzig sie gegen diese Naturgewalt scheinen mochten, regten sich. Um jeden Preis sich oben halten, sagte ich mir. In wilder Fahrt riss mich die Lawine über kleine Felsbänder hinab. Um mich drehte sich nichts als ein weisser Wirbel. Wie lange noch? Ich wusste nur zu meiner Beruhigung, dass der lebendig gewordene Hang ohne grössere Stufe in der Alp unten ausläuft. Vollkommene Stille herrschte auf dem Gipfel. Nur eine feine Spur war in Deinen Schneemantel gezeichnet, an einer Stelle von einem dunklen, sich nach unten verbreiternden Schatten unterbrochen. Damals habe ich die ganze übermächtige Gewalt der Berge erfahren. Was für Dich eine kleine, alltägliche Begebenheit war, wurde für mich zum tiefen Erlebnis.

Wie oft sangen und jauchzten wir dann wieder bei strahlendem Sonnenschein auf Deinen luftigen Zinnen, in Deinen glitzernden Wänden und Kaminen. Herrlich, herrlich war 's! Ich möchte Dir heute noch zujubeln, wenn ich daran denke. Warst Du wohl erstaunt, als mein Freund, meine Schwester und ich Dich an einem 1. August aus dem Schlaf schreckten? Oder hörtest Du von weitem schon unsere vertrauten Schritte und sähest das geisterhafte Funkeln unseres Laternchens? Es war Mitternacht, als wir müde, aber glücklich auf Deinem Gipfel sassen und den weichen Klängen eines Alphorns aus den Tiefen lauschten. Sicher warst Du stolz, als das Höhenfeuer von Deinem ehrwürdigen Haupt in die Nacht hinaus-zündete zu Ehren des Geburtstages unserer schönen Heimat.

Auch an einem Silvesterabend haben wir Dich aufgesucht. In einem einfachen Hüttlein zu Deinen Fussen feierten wir den Jahreswechsel. Es war kein glänzendes Fest mit Ball-flitter, Champagner und Tanz; aber eine schlichte und deshalb um so echtere Feier im Bergsteigerkreis. Das Feuer vermochte das Hütteninnere nicht zu erwärmen, so dass wir uns nahe um die Glut scharten. Brot und Wurst schmorten an den Spiessen. Kleine, lustige Zwischenfälle gab 's, wenn so ein gut duftendes Stück in die Asche fiel und mit viel Geschick wieder herausgefischt werden musste.Vernahmst Du wohl auch unsere Lieder, vielleicht nicht so klangrein, aber dafür von Herzen kommend? Unsere Gläser sangen beim Anstossen mit, und wir liessen das Jahr mit einem frohen Gedenken an die vielen schönen Bergerlebnisse und auf das Wohl unserer Freunde von nah und fern enden; Bald werde ich wieder zu Dir kommen und mich in Deinen warmen Felsen zu Hause fühlen. Wie flimmert und summt die durchsonnte Luft! Dohlen segeln um Wände und Gräte. Wunschlos glücklich werde ich auf einem kleinen Felsgesims oder beim Steinmannli am Westgrat sitzen, während weisse Wolkenschiffe am blauen Himmel über Dich hinwegziehen. Ganz allein mit Dir darf ich dann sein, wie dies unter alten Freunden der Brauch ist, und der Lärm der Massenbesucher dringt von Deinem Gipfel nicht zu mir herüber.

Halte treue Wacht über unser Tal bis in alle Zeiten! Ich aber weiss, dass ich bei Dir immer willkommen sein werde, sei es in später Stunde, bei Nebel, Schnee oder im lachenden Sonnenschein. Durch den Wind sende ich Dir von ferne viele frohe Jauchzer und Grüsse!

Dein alter Freund

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