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Die Calanques: Zwischen Himmel und Meer

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VON PIERRE VITTOZ, LAUSANNE

Mit 3 Bildern ( 64-66 ) Schon in unserer Kindheit hatte jede Jahreszeit ihre Spiele. Murmeln, Seilspringen, « Polizist und Dieb » waren auf geheimnisvolle Weise mit den ersten Blättern, der Kirschen- und der Apfelzeit verknüpft. Heute sind unsere verfeinerten und kostspieligeren Vergnügen nicht weniger an Erde und Sonne gebunden. Besonders dann, wenn die Tage schon länger, aber noch frisch sind, empfindet meine Familie das dringende Bedürfnis, « Camping, Klettern und Meer » zu spielen. Und jedes Jahr führt uns Ostern an die Steilküsten und die vom Mittelmeer gebildeten Schlupf häfen zwischen Nizza und Marseille zurück; genauer gesagt, verabreden wir mit unseren Freunden, uns in einem Camp nahe bei Cassis zu treffen, und das Auto, unsere Beine und ein Boot bringen uns ins Calanques-Mas-siv, wo Meer und Fels gemeinsam ein Miniaturparadies erschaffen haben.

Mit Hilfe von Photos von Gaston Rébuffat hat meine Phantasie die Calanques-Kletterpartien direkt ans Meer verlegt, über dem die Bergsteiger hängen und in das sie, ohne Schaden zu nehmen, fallen könnten, wenn sie aus Ungeschicklichkeit oder wegen der Temperatur abstürzen würden. In Wirklichkeit existieren wohl einige Routen direkt über dem Wasser, von einem Boot aus erreichbar; wir aber gehen unser erstes Kletterobjekt zu Fuss an. Es ist sogar, und das will für diese Gegend viel heissen, in einem öden und steinigen Tälchen versteckt, von wo aus man nicht einmal das Mittelmeer sehen kann.

Dennoch haben wir uns entschlossen, ins Rampes-Tal einzudringen, weil es uns auf grossen, zu beiden Seiten eines ausgetrockneten Flussbettes wie Blätter in die Höhe gerichteten Felsrampen elegante und ziemlich schwierige Gratklettereien verspricht. Das ist genau, was wir brauchen, um die Saison zu beginnen und einen der kleinen Calanques-Führer zu testen, welche die Sektion Provence des Französischen Alpenclubs herausgegeben hat.

Die meisten « Rampen » des kleinen Tales sind aber für unsern Geschmack etwas kurz, nur knapp zwei, drei Seillängen. Das ist der einzige Fehler der Calanques. Aber da ist eine, die mit ihrem Namen « Grat der acht Gendarmen » allerlei verspricht: fast ein Polizei-Defilee! Diese Herren, von denen die ersten recht imposant sind, überragen eine glatte, gewölbte Wand, die ihnen alle Ehre macht.

Drei Genfer haben mit der Gendarmerie schon ein Hühnchen zu rupfen. Von der ersten Wand abgeschreckt, lassen sie uns den Vortritt.

« Los! Es ist nur Schwierigkeitsgrad III. » Oha! Die Steilheit, die ungeschickten Finger, die Sohlen, die sich den kleinen Griffen nicht anvertrauen wollen, all das ist schuld, dass wir auf unwürdige Weise pfuschen.

Wenn der Führer dies Grad III nennt, können wir uns auf halber Höhe bei IV + auf etwas gefasst machen...

Von der zweiten Länge an finden wir jedoch unser Gleichgewicht wieder und damit auch die Freude am Klettern. Der Kalkstein bietet eine rauhe Oberfläche mit herrlich klaren und soliden Griffen. Oft ist der Fels von Wasserlöchern zernagt, so dass wir das Gefühl haben, ein Stück Käse anzufassen. Aber eigentlich ist es eher ein Reibeisen, und die Kanten um diese Löcher herum drohen unsere Gummisohlen zu zerschneiden und uns die Finger aufzureissen.

Die Route ist klar: es genügt, dem Grat zu folgen, während sich zu unserer Rechten das Nichts auftut. Vier aufeinanderfolgende Gendarmen offerieren uns gute, aufrechte Felsplatten, deren Erklettern ohne Spannung, aber von gleichbleibendem Interesse ist. Auf der viereckigen Kuppe des vierten Gendarmen erwarten mich meine Kameraden, um mir die Gratpassage zu zeigen, die ich mir reserviert habe und die sie mir anscheinend nicht streitig machen wollen.

Es handelt sich darum, von der Scharte aus, über der wir stehen, eine senkrechte, 6 Meter hohe Wand zu bezwingen. Berger bleibt auf dem Gendarmen, um mich mit einem der Seile zu sichern, während mein Sohn mir in die Scharte hinein folgt. Langsam steige ich den ersten Meter, taste mit der Sohle oder der Hand alle Griffe, alle erreichbaren Ausbuchtungen lange ab, während ich mit dem Auge die nächsten Bewegungen erwäge. Endlich entschliesse ich mich, ziehe mich auf eine Platte, richte mich an der glatten Wand, die mich fast aus dem Gleichgewicht bringt, auf, befestige in aller Eile einen Karabiner an einem schlecht gesetzten Haken und schwindle mich mit einigen kleinen Griffen hinauf.

Uff! War das eine Anstrengung! Wenn es diese Herren den Alten nachmachen wollen, mögen sie es tun.

Leider erreichen sie mich nacheinander ganz leicht und wundern sich, dass ich so lange gebraucht habe. Die Jugend ist undankbar. Aber unsere Moral ist gestiegen, über die erreichte Höhe hinaus: das IV+ der Calanques kann uns nicht mehr erschrecken.

Der Grat verläuft nun horizontal und beschert uns einen lavendelduftenden « Spaziergang » zwischen Felsblöcken und Gebüschen hindurch. Dann steigt er wieder an, und wir klettern eine ganz nette Spalte hinauf. Endlich führt uns eine grossartige, in die gleichmässigen Kalkschichten gehauene Treppe... auf den Gipfel? Nein, auf ein weites, steiniges Plateau. Die Calanques sind wirklich etwas « verkehrte » Berge, bei denen sich die ebene Fläche mit den Wegen oben, die Felsen und Schwierigkeiten dagegen unten befinden.

Um die Calanques von der richtigen Seite mit ihren aufragenden Köpfen zu sehen, muss man sie vom Meer aus angehen. Das ist schöner und auch weniger mühsam.

Die Schiffer des kleinen Hafens von Cassis kennen die Gattung der Bergsteiger gut, und sie passen ihnen gern ihre Zeit und Routen, wenn auch weniger ihre Preise an. Was ihren Ankerplatz betrifft, so kennen wir ihn aus dem Film, seit Marius und Monsieur Brun ihr schmales Boot mit der riesigen Schiffsschraube hindurchsteuerten. Aber heute entspricht die Grösse des Schiffes unseren gesamten Familien, und die Sicherheit wird durch ein ruhiges Meer garantiert.

Bei der Ausfahrt aus der Reede erhebt sich links plötzlich die ungeheure, rote, aus gefährlichem, unzugänglichem Fels bestehende Steilküste der Soubeyrannes. Rechts hingegen schweift das Auge trotz der Wunde eines Steinbruchs mit Entzücken von den letzten Villen von Cassis zu den von weissen Felsen durchsetzten Olivenhainen.

Auf einmal bemerken wir, dass wir einer Halbinsel entlang fahren, und entdecken an ihrer Spitze die Einbuchtung von Port-Miou, die so eng und kompliziert ist wie ein Fjord.

Fünf Minuten später gibt es eine neue Überraschung: während wir einer kleineren Steilwand entlanggleiten, entdecken wir an ihrem Ende plötzlich einen versteinerten Wald. Es ist der Schlupf hafen von En Vau, der berühmteste von allen, in dem die Erosion aus dem Fels unzählige Erker, Sporen, Säulen, Finger und Nadeln geschnitten hat. Eine unglaubliche Fülle von Formen, deren Höhe und leuchtende Weisse noch durch Piniengebüsch und grüne Eichen unterstrichen wird.

Als wahren Klettergarten kann man En Vau in allen Richtungen durchkämmen: da steigt jemand singend auf die « Waschmaschine », ein anderer klettert auf den « Ohnesorg-Grat », ein dritter ruft seinen Freunden vom « Gottesfinger » aus zu. Rasch gesellen wir uns zu diesem kleinen Karussell, und bald vermischt sich das Lachen unserer Familien-Seilschaften mit dem Echo von der Felsküste und seinen Varianten von den Wänden der « Grossen Nadel » und des « Dreitouren-Grates ». Von unten gesehen, sind diese Partien sehr kurz, aber ihre Steilheit macht sie respektabel, sobald man den Fuss daraufsetzt.

Doch die Fahrt mit dem Motorboot ist in En Vau noch nicht zu Ende. Sie geht in Richtung Marseille weiter, immer 20 Meter von der Felsenküste entfernt oder etwas weiter weg, damit man die ganze Linie besser betrachten kann. Die Felsen ziehen in der Sonne vorbei, ihr Weiss leuchtet in dem Rahmen, den Himmel und Meer für sie bilden. Durch ihre Mannigfaltigkeit, unterbrochen von kleinen Tälern, Buchten und Gebüschgruppen, scheint sich ihre Zahl zu verzehnfachen. Wie recht hatte Mistral, seinen Helden Calendal hineinzuversetzen zwischen die Felsen rot und blank, die im Mondschein bilden die Calanques, die Stirn im Herzen des Midi und die Füsse im Meer...

Die Bucht von Sugiton mit ihrem von einem felsigen Inselchen markierten Eingang ist das Ziel unserer Fahrt. Der Bootsmann lässt uns am Strand aussteigen und wird uns hier am Nachmittag wieder abholen. Das Wasser ist kalt und voller Seeigel, aber die Sonne verlockt uns, von allen geeigneten Felsen herab zu tauchen. Dann erkennt man bei uns Alter und Geschmack an der Wahl gewisser Dinge: Sandschaufel, Bikini oder Seil und Karabiner.

Es ist die Aiguille de Sugiton und ihre marmorne Weisse, die uns anziehen. Man könnte meinen, sie sei ein Dinosaurier mit ihrem runden Rücken und ihren regelmässigen, 60 bis 100 Meter hohen Flanken, die auf der einen Seite die Bucht, auf der anderen die hohe See überragen. Der Glanz von Sonne, Meer und Fels, der Geruch des Salzwassers und des Föhrenwaldes sind mindestens so aufregend wie die überraschenden, senkrecht aufragenden Silhouetten des von den Unwettern zerfressenen Kalksteins. Trotz unserer kurzen Hosen ist uns so heiss, dass wir den Schatten auf der Nordseite zu schätzen wissen. Da verheisst uns der Pilier du Vallon eine Fülle von Platten und geraden Spalten. Um uns herum herrscht vollständige Leere, und als wir uns auf dem Gipfel niederlassen, haben wir eher den Eindruck, Wachtposten im Ausguck eines grossen Mastes zu sein: die Wellen glitzern in der Sonne, die Brandung schlägt dumpf gegen die Klippen, eine Möwe dreht und wendet sich kreischend, ein Postboot fährt vorbei. Das ist die Macht des Mittelmeers, seiner übergoldeten Melancholie und seiner Gewalttätigkeit.

400 Meter über uns erhebt sich ein gewaltiger Obelisk auf einem Sockel von übereinandergeschichteten Kalkfelsen. Von unten und von weitem gesehen, scheint er unzugänglich in seiner Kühnheit und Steilheit. Man kann sich eines Schauders nicht erwehren, wenn man sich das Erklettern des dünnen Grates vorstellt, der dort zwischen zwei glatten Wänden emporsteigt. Es ist die Grande Candelle mit ihrem Marseiller Grat, das Schönste dieser wunderbar reichen Calanques. Heute wollen wir von unserer Nadel absteigen und auf einer anderen Seite wieder hinauf, wir wollen uns im Föhrenwald, auf dem Wasser und im Zelt amüsieren - aber unsere Gedanken sind schon bei dieser Candelle, nach der morgen unsere Finger gierig greifen werden.

Vom Col de la Gineste, wo wir den Wagen am Rande einer der in dieser Gegend am stärksten befahrenen Strassen stehenlassen, gehen wir südwärts durch die steinigen Hügel. Sobald man über den ersten Kamm gestiegen ist und den Autolärm vergessen hat, wähnt man sich in einer mexikanischen oder kalifornischen Wüste: verlorene kleine Täler, hinterhältige Schluchten, Dornensträucher, wie ausgefeilt geformte Felsen - ein richtiges Wildwest-Gelände. Es scheint übrigens, dass man hier Cowboy-Filme gedreht hat. Nichts fehlt dazu, nicht einmal ein verlassener Ziehbrunnen.

« Nach der Karte müssen wir den grünen Zeichen in diesem Tal folgen. » « Eine Stunde Aufstieg in dieser brennenden Sonne ?» Doch in weniger als 20 Minuten sind wir da. Es ist nicht das erste Mal, dass wir die Distanzen stark überschätzen; ist es, weil hier die Luft viel weniger durchsichtig ist als in den Alpen und uns der Mee-resdunst einen weiteren Raum vorspiegelt? Eher scheint uns, es seien die Bäume, die uns täuschen. Der ausgetrocknete und magere Boden hat ihnen kein normales Wachstum erlaubt. So scheinen die von Zwergbäumen, kleinen Eichen und verkrüppelten Erlen bestandenen Hügel dreimal höher, als sie es in Wirklichkeit sind. Und darum hat man das angenehme Gefühl, ein Wettläufer zu sein, während man bloss mit Kurzsichtigkeit geschlagen ist. Bald erreichen wir auf 560 Metern Höhe den steinigen Rücken des Mont Puget, den höchsten Punkt der Calanques.

« Wo ist denn nun die berühmte Candelle? Es ist doch wohl nicht dieser Steinhaufen? » « Wart ein bisschen! Zuerst müssen wir zu ihr hinuntersteigen. » Die Blicke richten sich gegen das Meer und ebenso die Schritte. Als der Hang steiler wird, hält der erste von uns an und bald auch die andern. Wir zischeln uns zu, wie wenn ein schönes Mädchen vorbeigeht: « Ist er nicht herrlich, dieser Marseiller Grat! Kann man sich schlankere und kühnere Linien vorstellen! » Sein Fuss ist von einem Vorsprung verdeckt, und der Grat scheint direkt dem Meer zu entsteigen; der erste Gendarm sieht aus wie eine zylindrische, senkrecht aufgerichtete Rakete, die in einen Spitzbogen ausmündet. Über einer wie von einem Säbelhieb eingehauenen Scharte steigt eine einzige riesige Felsplatte in fünf Aufschwüngen gegen den Gipfel; und je höher man steigt, um so dünner werden die Absätze und um so grösser die Aufschwünge bis zu schwindelnder Höhe empor. Die Sonne fällt auf die Plattenschneide und zeichnet darauf eine weisse Litze oberhalb der senkrechten oder überhängenden Schattenwand, die uns davon trennt Dahinter sehen wir trotz unserer erhöhten Lage weder Terrasse noch Aussichtspunkte, noch das Ufer, nur das im Dunst spiegelnde Meer.

In einigen Augenblicken stossen wir bis zum Fuss des Grates vor. Der raketenförmige Gendarm ist kompakt. Auf der Meerseite muss man die Rinne suchen, welche die Verbindung zwischen dem Gendarmen und der Grande Candelle herstellt. Mit Begeisterung und Haken ausgerüstet, gehe ich in den Durchgang hinein. Dort habe ich mich vor einem Dutzend Jahren abgemüht, und ich muss mir unbedingt beweisen, dass ich seither jünger geworden bin! Aber, Donnerwetter! Nach einigen Metern entpuppt sich das Couloir als enges Kamin, gerade recht für einen Kaminfeger, dann als Überhang, wo man sich in einen japanischen Akrobaten verwandeln muss, um sich auf einer dicken Nadel am Anfang einer glatten Verschneidung einzurichten. Meine Arme haben bald genug, und ich lasse Berger gern an einer senkrechten Wand bis zur Spitze der Rakete weitergehen. Der Calanques-Führer ist noch bescheiden, wenn er dieser Athletenpassage nur ein lakonisches IV + zuschreibt.

Das Weitere ist ein einziges Entzücken, und alles macht uns Spass. Der Fels vor allem, ein milch-farbener, rauher und solider Kalkstein, liefert uns überall kleine, klare Griffe. Die Schwierigkeit, die konstant, aber nie sehr gross ist, hält das Interesse wach, ohne es zu stark zu beschränken. So scharf wie Pfeffer ist die Lage, die unsere Sinne jedesmal erregt, wenn wir Fuss oder Auge an die linke Wand heften müssen. Die Sonne verleiht jeder Platte und jeder Bewegung einen festlichen Glanz. Auch das Meer ist, trotz der 400 Meter leeren Raumes, die uns davon trennen, ein wichtiger Bestandteil unseres Tages und scheint uns mit jeder Welle und jeder Spiegelung zuzuzwinkern.

In dieser Atmosphäre klettern wir. Ein Spreizschritt, nicht gross, aber luftig, und schon befindet man sich auf dem Bug eines Schiffes, der ringsum überhängt, und muss auf den Damm springen. Dann kommt über der grossen Senkrechten eine rissige Wand, wo ich zum Glück einen Haken finde, was mich etwas beruhigt. Der Grat wird flacher, und auf langen Felssplittern gehen wir dem Kamm entlang. Mit einem kleinen Griff hier, einem dort, mit der Feinarbeit für die Fusssohlen ist das Klettern eine wahre Lust. Wir sind in Ferienstimmung, und wir treffen uns an den Standplätzen wieder, um die Reihenfolge unserer Dreierseilschaft umzukehren und einander vergnügt beim Klettern zuzuschauen. Eine Platte, die Paillon, ist schwierig; aber jetzt steigen wir in unserer Begeisterung mit dem gleichen Elan wie der Grat, immer leichter, je höher er sich in das Himmelsblau wölbt. Die beiden letzten, fast senkrechten Längen werden im Sturm genommen, in einem Ausbruch von Freude und Sonne.

Der Marseiller Grat hat uns in den Mittelmeer-Himmel hinaufgeschwungen, in diesen harten und klaren Himmel, der - merkwürdigerweise und genau wie der Fels - gleichzeitig Ausdruck der Gewalt und der Ungebundenheit der Ferien ist.Übersetzung: E. Busenhart )

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