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Die Erschliessungsgeschichte der dinarischen Berge

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VON MIRKO MARKOVIC, ZAGREB

Mit 1 Kartenskizze und 3 Bildern ( 55-57 ) Die Gebirgssysteme der Balkanhalbinsel, die Dinariden, sind wegen ihrer Karstnatur weit über die Grenzen Jugoslawiens hinaus bekannt. Diese Berglandschaft nimmt eine Gesamtfläche von rund 50000 Quadratkilometer ein. Sie erstreckt sich parallel zur ostadriatischen Küste, und zwar von Istrien bis Nordalbanien, in einer Länge von 650 Kilometer. Die Leser der « Alpen » haben über dieses Gebirge bereits eine ausgezeichnete geographisch-geologische Übersicht aus der Feder des bekannten Schweizer Geologen Herrn M. Blumenthal erhalten ( « Die Alpen », Quartalheft 2, 1964, S. 81-100 ). Deshalb will ich nicht die Geographie des dinarischen Gebirges wiederholen, sondern einen Blick auf die Vergangenheit, die Erschliessung der dinarischen Berge werfen.

Das dinarische Gebirge war schon in der Vorzeit bevölkert; seine Ureinwohner waren illyrische Stämme: Japoden, Liburnen, Dindaren, Delmaten, Sardejer, Ardejer u.a. Sehr früh, vermutlich schon tausend Jahre vor Christus, kamen die illyrischen Ureinwohner in Berührung mit den griechischen Seefahrern. Wie gut die alten Griechen im 5. Jahrhundert vor Christus das Adriatische Meer und sein Hinterland gekannt haben, ist aus dem Werk von Herodot ( Historia ree. IV, 33, 6; V, 9, 12 ) ersichtlich. Reliefanlagen der Balkanhalbinsel führt Herodot von Haemus, Orbelus und Rodope an. Diese Namen wiederholen sich bei späteren griechischen und römischen Geographen öfters. Was Orbelus und Rodope betrifft, ist klar, dass die alten Geographen darunter Rila und Rodopen in Bulgarien gemeint haben. Für die Lage des Haemus gibt es keine einheitliche Auffassung. Ob es sich dabei um den Berg Balkan in Bulgarien, den Sar-Berg in Mazedonien, die nordalbanischen Alpen ( Prokletije ) oder sogar den Durmitor in Montenegro handelt, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Auch Livius hat Haemus erwähnt ( Cap. XL, 22, 23; Ed. 1884 ). Er berichtet über den Aufstieg des mazedonischen Königs Philipp III. im Jahre 181 vor Christus auf den Gipfel dieses Berges, von dem aus sich eine bessere Übersicht über sein Königreich geboten hat. Wegen dieser Tatsache waren spätere Schriftsteller der Meinung, dass König Philipp auf dem Gipfel des Ljuboten am Sar-Berg war, weil von dort aus die Aussicht wirklich weit und umfassend ist.

Von römischen Geographen hat Strabon ( Geographica VII, 5, 2; Ed. 1907 ) die vollkommenste Beschreibung des dinarischen Gebirges gegeben. In seiner Orotoponomastik ( =Gebirgsnamenge-bung ) Illyriens finden sich einzeln die Berge M. Carusadius ( Kras ), M. Albius ol. Albanus ( SnjeS-nik ), M. Bebii ( Velebit oder Dinara ), M. Aureus ( Mosor ) und M. Adrius ( Biokovo ) vermerkt. Beachtenswert ist, wie Strabon die Struktur des dinarischen Gebirges schildert. Er behauptet, dass sich « die Länder südlich der Donau in zwei Hälften teilen, weil sich die illyrischen, peonischen und thrakischen Berge in gleicher Richtung und fast parallel zur Donau vom Adriatischen bis zum Schwarzen Meer erstrecken » ( Geogr. VII, 5,1 ). An einer anderen Stelle stellt Strabon die Richtung der dinarischen Bergkämme genauer dar, indem er behauptet: « Die Berge Bertiscus ( Prokletije ), Scardus ( Sar-Berg ), Orbelus ( Rila ), Rodope und Haemus beginnen sich von der Küste des Adriatischen Meeres zu reihen und furchen sich in gerader Linie bis zu den Ufern des Pontus, wo sie im Süden die grosse Halbinsel absperren, welche die Länder Thrakien, Mazedonien, Epirus und Achaia umfasst » ( Geogr. VII, 10 ).

Eine noch realere Darstellung des dinarischen Gebirges finden wir im Atlas des Ptolemäus. Da sind auf derfünften Tafel die illyrisch-pannonischen Länder zwischen dem Adriatischen Meer und der Donau dargestellt. Das dinarische Gebirge sieht man als einreihige Folge stilisierter Maulwurfshügel, welche sich vom einen bis zum anderen Rand der Karte erstrecken. Aus dieser Gebirgsreihe ragen zwei Gebirgsgruppen hervor. Als höchster Gipfel des dinarischen Gebirges ist Bebii Montes gekennzeichnet, und zwar nördlich der Ansiedlung Ausancalio ( Siroka Kula ) im Lande des illyrischen Stammes Dindarii. Folglich kann dieser Berg nur die heutige Dinara mit dem Troglav sein. Ein anderes markantes Massiv wird als Sardonius bezeichnet; es ist im Lande Ducleatae ( Duklja ) eingetragen und muss demnach die grössten montenegrinischen Berge, von Durmitor über Komovi bis Prokletije, umfassen.

In dem langen Zeitabschnitt vom 4. bis zum 15. Jahrhundert finden wir wenige Nachrichten über das dinarische Gebirge. Gelehrtere Geographen dieses Zeitabschnittes haben ihre Ansichten über die illyrischen Länder mit denen der antiken Quellen in Einklang zu bringen versucht, so z.B. der hl. Hieronymus in « De Hebraicis quaestionibus » ( Orig. London, Brit. Mus. Cod. 10049 ), wo auf seiner Karte der Balkanhalbinsel die dinarischen Gebirge mit den Angaben des Strabon übereinstimmen; ebenso Orosius, ferner Anonimus aus Ravenna in der Beschreibung der adriatischen Küste ( vgl. Irin. Rom., Leipzig 1940, Ed. Schnetz ). Zwei berühmte Klosterkarten aus dem 13. Jahrhundert, die eine aus der Kathedrale in Hereford in England und die andere aus dem Kloster Ebstorf in Deutschland ( leider im letzten Krieg vernichtet ), stellen das dinarische Gebirge gänzlich stilisiert dar. Wir lesen die Namen: Eurumanthus mons, Emus mons, Lucus mons, Livorus mons, Pinus mons u.a. Diese Berge sind nicht gegenseitig verbunden dargestellt, sondern einzeln, und zwar längs betonten Strecken der ägäisch-pontischen Küste entlang, d.h. in der Richtung Nord—Süd. Deswegen sind alle diese Berge an der adriatischen Küste ganz ungetreu wiedergegeben.

Gegen Ende des Mittelalters erhält die adriatische Küste auf zeitgemässen Portulankarten ( Portulan = mittelalterliches Segelhandbuch ) eine realistischere Gestaltung; aber ins dinarische Binnenland dringt wenig von diesen Fortschritten. Die türkische Besetzung dieser Gebiete in der Mitte des 15. Jahrhunderts unterbrach alle Beziehungen mit dem europäischen Kulturkreis, und die Türken zeigten kaum Interesse, ihre Gebiete geographisch kennenzulernen. So war in dieser Zeit das dinarische Gebirge auch für die europäischen Geographen wissenschaftlich « unerreichbar ».

Diese Schwierigkeiten begannen als erste italienische Geographen zu bekämpfen: Durch Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Handelsleuten, Mönchen oder Diplomaten glückte es ihnen, sich aktuelleres topographisches Material von türkischen Provinzen anzueignen. Eine besonders

ÜBERSICHTSSKIZZE DER DINARISCHEN BERGE

GEZ. VON Dr M. MARKOVlÓ MASSTAB:

günstige Lage für solche Bekanntschaften bot Venedig. Venezianische Handelsschiffe segelten zu jener Zeit frei längs der ganzen adriatischen Küste, und beherztere Händler drangen tief ins Innere von Bosnien und Montenegro vor. Unter diesen Reisenden befanden sich fähige Leute, welche nach der Rückkehr ausführliche Berichte schrieben. So sind uns die Reisen von B. Kuripesic, F. Petancic, der Italiener N.de Nicolay, R. Ramberti, P. Fusci, R. Benedetti, K. Zeno und anderer bekannt.

Im Laufe des 16. Jahrhunderts beteiligten sich auch heimische Geographen an der Erforschung der dinarischen Gebirge, besonders Peter Kopie, Martin Rota-Kolunicund Bozo Bonifacic. Letzterer zeichnete für den venezianischen Verleger Camotius verschiedene Karten, welche im Jahre 1571 in Venedig in einem Portulan der adriatisch-ionischen Küste gedruckt wurden. An dieser Karten-kollektion hat auch Kolunic mitgearbeitet. Die Landkarten bekunden, dass Bonifacic und Kolunic im 16. Jahrhundert die besten Kenner des dinarischen Küstenlandstriches waren. Sie verfügten nicht nur über eine genaue Kenntnis des Terrains, sondern kannten auch die richtigen einheimischen Benennungen der Berge, was bei italienischen Autoren nicht der Fall war.

Italienische Geographen haben auch während des 17. Jahrhunderts eine rege Tätigkeit in der Erkundung des dinarischen Binnenlandes entwickelt. Grosse Verdienste erwarb sich vor allem Giacomo Cantelli, der « Geograph des Prinzen von Modena », der Mitte des 17. Jahrhunderts mehrere bosnische Mönche beauftragte, ihm die Beschreibungen verschiedener Gebiete zu vermitteln. Aus diesen Berichten hat Cantelli die Karten von Bosnien, der Herzegowina und von Montenegro zusammengestellt und später alle seine Landkarten der Balkanhalbinsel unter dem Titel « Mercurio Geografico » herausgegeben. Das Studium der Karten von Cantelli zeigt, dass diese vollständiger sind als die Darstellungen seines bekannteren Zeitgenossen Vine. Coronelli. Dennoch war weder der eine noch der andere imstande, die höchsten dinarischen Grate der Wirklichkeit entsprechend zu zeichnen. Diese Gebiete haben offenbar auch die einheimischen Mönche nicht gekannt, denn wenn sie eine klare Vorstellung davon gehabt hätten, würden sie es gemeldet haben.

Die ständigen Zusammenstösse Österreichs mit der Türkei im Laufe des 17. Jahrhunderts nötigten die Wiener Obrigkeit zu intensiveren Erforschungen der türkischen Territorien. Solche Erkundungen verrichteten die Stäbe der Militärgrenzstationen, welche zu diesem Zwecke angelernte Leute hatten. Die Bewegungen der Militärspäher auf türkischem Territorium erfolgten streng geheim; darum ging die Arbeit bei der Aufzeichnung der Wege und des Terrains sehr langsam voran. Mit der Zeit verfügten die Wiener Archive über einiges Material von Bosnien. Seinerzeit waren dies die modernsten Kenntnisse der dinarischen Bezirke.

Nach der Vertreibung der Türken aus Westkroatien im Jahre 1689 wurden diese Gegenden zum Militärgrenzgebiet gegen die nachbarliche Türkei. Im Gebiet längs des Flusses Una hatten die Karlstädter Generale das Kommando inne, und im Süden stand die venezianisch-türkische Grenze unter Verwaltung des Venediger Senates. Durch die gutbefestigte und behütete Grenze war auch die persönliche Sicherheit gewachsen, was zur Folge hatte, dass in diesen Gegenden bald die ersten Wissenschafter erschienen, vor allem europäische Naturforscher. Damit begann ein neuer Zeitabschnitt in der Geschichte der Erforschung des dinarischen Gebirges. Als Anfangsobjekte der Forscherarbeit erwiesen sich Ucka ( Monte Maggiore ) und Velebit ( in Kroatien ), damals die einzigen dinarischen Berge ausserhalb der türkischen Grenzen.

Einer der ersten Forscher der Ucka war Johannis Zanichelli, Professor aus Triest, welcher zwischen 1710 und 1720 mehrfach Pflanzen sammelte. Etwas später besuchte Vitaliano Donati den Velebit. Auch ihn interessierte die Gebirgsflora, aber in seinem Werk « Storia naturale marina del Mare Adriatico » ( Venezia 1750 ) finden wir auch beachtenswerte geologische und mineralogische Details. Weiter ist bekannt, dass in der Mitte des 18. Jahrhunderts am Velebit Josephus Agosti botanisierte. Etwas mehr ist von den Wanderungen des Franz Wulfen bekannt. Dieser gelehrte Naturwissenschaftler, gebürtig aus Belgrad, bereiste mehrmals den Triester Karst, Gorski Kotar und Lika. Seinen Aufzeichnungen kann man entnehmen, dass er im Jahre 1763 den Gipfel des Krainischen SnjeSnik ( Schneeberg ) und später auch die Ucka bestiegen hat.

Grössere Bedeutung gewannen die Expeditionen von Baltasar Hacquet, der das dinarische Gebirge von 1781 bis 1783 bereiste. Den grössten Teil durchquerte er zu Fuss oder auf seinem Pferd. Bei dieser Gelegenheit machte er Abstecher auf die Berge Velebit, Pljesevica, Kapela, Ucka, Kiek u.a. in Kroatien und Slowenien. Öfters nächtigte Hacquet in den Bergen bei den Hirten und fand Gelegenheit, nicht nur die Natur, sondern auch die Lebensführung der dinarischen Viehzüchter kennenzulernen. Das auf seinen Wanderungen gesammelte Material - in Geographie, Ethnographie, Geologie und Botanik - verwertete er in zwei umfangreichen Werken: « Oiycfographia Carniolica », gedruckt 1778 bis 1789 in vier Bänden in Leipzig, und « Physikalisch-politische Reise, aus den Dinarischen durch die Julischen, Ca mischen, Rhätischen in die Norischen Alpen, im Jahre 1781 und 1783 unternommen », 1785 ebenfalls in Leipzig gedruckt. In diesen Werken finden wir gute Beschreibungen über die Karstnatur der einzelnen dinarischen Berge. Nicht weniger interessant sind Hacquets Schilderungen der Bevölkerung der dinarischen Berge. Diese übten später einen positiven Einfluss auf die europäische wissenschaftliche Öffentlichkeit aus. Die früheren Reisebeschreibungen enthielten nämlich übertriebene Berichte von den Heiducken und Überläufern, was bei Fremden eine negative Meinung über die heimische Bevölkerung ausgelöst hatte. Hacquet erkannte aus eigener Erfahrung, dass die Beschreibungen der Gebirgsbewohner durch frühere Autoren nicht den Tatsachen entsprachen. Er überzeugte sich, dass die dinarischen Hirten und Viehzüchter gastfreundlich sind und die friedlichen Fremden nicht überfallen, sondern schätzen.

Ähnlich wie Hacquet reiste zu jener Zeit längs der adriatischen Küste der italienische Naturforscher Alberto Fortis. Er hatte in den Jahren 1771 bis 1783 auch einige Male Exkursionen in die Berge unternommen Am bekanntesten ist jene vom Jahre 1773, als er aus Makarska zu dem Gipfel des Biokovo kletterte. Es war zugleich die erste bekannte Besteigung dieses Berges. Auch Fortis hatte sich — wie Hacquet — mit Ethnographie befasst, weswegen einige seiner Arbeiten scharfe Kritik erfuhren.

Die schwierigen Verhältnisse in der Erforschung der dinarischen Gebiete innerhalb der türkischen Grenzen haben sich auch im 18. Jahrhundert nicht wesentlich geändert. Die Anstrengungen Österreichs in dieser Hinsicht mussten sich immer noch auf den Späherdienst beschränken. Dieses Quellenmaterial diente auch weiterhin bei der Zusammensetzung der österreichischen Karten von Bosnien, der Herzegowina und von Montenegro. Bekannt ist diejenige von Maximilian Schimek aus dem Jahre 1787, und sie lässt leicht erkennen, mit wieviel Sorgfalt der Autor die höchsten Grate der Herzegovina und von Montenegro dargestellt hat. Schimek hat dort offenbar die höchsten Gebiete der dinarischen Berge vermutet, jedoch über diese Gebirgsflächen von nirgendwoher genaue Informationen bekommen können. Nur mündliche Übermittlungen verbreiteten Gerüchte von den schneeigen Gipfeln Durmitor, Maglie, Komovi oder Prokletije; aber in den österreichischen Militärkreisen wusste niemand genau, wo und nach welcher Reihenfolge diese Berge zu gruppieren sind. Diese höchsten Teile des dinarischen Gebirges blieben also auch weiterhin die europäische « terra incognita ».

Der bedeutendste Forscher des dinarischen Gebirges in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der französische Arzt und Geograph Ami Boué. Seine Tätigkeit auf diesem Gebiet begann im Jahre 1835, als er aus Paris nach Wien übersiedelte. Aufseiner Reise durch die Länder der europäischen Türkei im Jahre 1836 bereiste Boué den südöstlichen Teil des Prokletije. Im folgenden Jahr kehrte er in diese Gegend zurück, jedoch wich er diesmal von Novi Pazar gegen den Westen ab und erreichte über die Berge Rogozna, Pometenik, Jabuka, Kovac und Jahorina die Stadt Sarajevo. Weiter reiste er über die Berge Romanija und Javor bis Zvornik, von wo aus er die Drina und dann die Save erreichte. Die dritte Reise führte ihn über den höchsten Teil Prokletiens in der Richtung Gusinje—Thethi. Auf dem Rückweg aus Albanien kam er wieder nach Bosnien, über Pater, Sjenica und Foca zum Cemerno-Sattel, wo sich ihm die höchsten Gipfel der dinarischen Berge, Durmitor, Maglie, Bioc, Komovi und Prokletije, darboten. Vom Cemerno stieg er ab nach Gacko und weiter gegen Westen bis zum Neretva-Fluss. Da zu jener Zeit kein ausgebauter Weg durch den Neretva-Canon vorhanden war, gelangte Boué durch die Schlucht von Lipeta und über Konjic und Ivan-Planina bis Sarajevo. Weiter ging er bis Fojnica, überstieg den Berg Vranica und kam nach Banja Luka, von wo aus er eine Exkursion zum Berg Kozara unternahm. Danach kehrte er über Der-venta und Brod nach Wien zurück. Alle diese drei Reisen von Boué durch dinarische Gebiete erwiesen sich als ein bedeutungsvoller Wendepunkt in der Erforschung der höchsten Teile des dinarischen Gebirges. Die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Geotektonik dieses Gebirges sind eng mit Boues Forschungen verbunden. Er gab - nach Hacquet - die meisten neuen Angaben für das Studium des Karstreliefs, für die stratigraphische Felsenzugehörigkeit und Vegetations-Eigenarten einzelner Regionen. Vor allem aber ist Boues Auffassung von der dinarischen Orographie hervorzuheben. Die früheren europäischen Geographen, von Ptolemäus bis Mitte des 19. Jahrhunderts, haben nämlich das dinarische Gebirge als einen orographischen Bergkamm, eine sogenannte Zentralkette, dargestellt, und es ist das Verdienst Boues, dass aus der Karte der Dinariden die tausendjährige Hypothese vom Zentralgebirgskamm verschwunden ist. Ausgearbeitet hat die neue Karte der deutsche Geograph Heinrich Kiepert im Jahre 1853. Boues Reisen aber durch die europäische Türkei, zu einer Zeit, als in diesem Gebiet eine wissenschaftliche Arbeit kaum möglich war, sind ein Beweis seiner grossen Beharrlichkeit und vielseitigen Bildung.

Als Österreich im Jahre 1878 das türkische Territorium Bosniens und der Herzegowina besetzte und Montenegro durch Beschluss des Berliner Kongresses seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde der ganze Raum des dinarischen Gebirges plötzlich allseitigen Forschungen zugänglich. In dieser Zeit kartierten die österreichischen Militärkartographen eifrig das Land, und in kurzer Frist wurde die Vermessung vollendet. Als alle bestehenden topographischen Karten der dinarischen Gebiete im Massstab 1:75000 gedruckt waren, wurde endlich augenscheinlich, wie dieses Gebirge in Wirklichkeit aussieht. Diese Erkenntnis war ein bedeutender Sieg über Jahrhunderte des Unwis-sens und gleichzeitig eine kräftige Anregung zu neuen Forschungen. Seit dieser Zeit haben die Reisen durch das dinarische Gebiet nicht mehr den vorherigen Zweck, d.h. die Enthüllung der « terra incognita », vielmehr liegt der Schwerpunkt der Arbeit im Studium der Natur, der Vergangenheit und der zeitgemässen Erfordernisse. Das ist die neue, qualitativ höhere Phase in der Erschliessungsgeschichte des dinarischen Gebirges.

Die früheren mangelhaften Kenntnisse der Flora und Vegetation der bosnisch-herzegowinischen Berge wurden nun durch gründliche und geplante Forschungen ergänzt. Die führende Rolle in dieser Arbeit übernahm Günther Beck von Mannagetta, Professor der Botanik an der Universität in Prag, der zwischen 1885 und 1896 im ganzen sechs grosse Expeditionen unternahm. Er durchwanderte Maglie, Prenj, Cvrsnica, Cabulja, Ljubusa, Ljubisnja, Visocica, Bjelasnica, Treskavica, VeleZ, Vranica, Zec, Vlasic, Troglav, Kozara, Klekovaca, Osjecenica, Grmec, Kiek und andere Berge. Diese Exkursionen gewährten ihm einen tiefen Einblick in die Flora und in die Vegetationsverhältnisse dieser Gebiete. Zur Forschung der bosnisch-herzegowinischen Flora haben auch Karl Van-das, Lujo Adamovic, Franz Fiala, Svante Murbeck, Karl Maly und andere Botaniker beigetragen.

Die montenegrinischen Berge haben zu dieser Zeit ein noch regeres Interesse erregt. Hier sind nämlich die höchsten und verlockendsten Gipfel des ganzen dinarischen Gebirges. Den Mittelpunkt bilden die Gipfel des Durmitor und Komovi.

Am Gipfel des Durmitor, Bobotov Kuk, hatte schon im Jahr 1838 Ami Boue vermessen, aber wirklich betreten hat die Spitze erst der österreichische Geograph Oskar Baumann im Jahre 1883, anlässlich seines ersten Besuches in Montenegro. Nach Baumann waren am Bobotov Kuk der russische Arzt A. Rowinski, der italienische Botaniker A. Baldacci und der deutsche Geograph Kurt Hassert. Letzterer wurde bekannt durch seine Begehungen aller bedeutungsvollen Gipfel Montenegros. Von Hassert stammt eine systematisch geschriebene Geographie Montenegros, deren geomorphologische Betrachtungen von nachhaltigem Wert waren. Eine beachtenswerte Exkursion machte Hassert im Sommer 1897 mit dem italienischen Botaniker Antonio Baldacci, indem die beiden die höchsten Pässe Prokletiens traversierten, was nach Boues früherem Erfolg die zweite Begehung war. Wegen Unruhen und Grenzstreitigkeiten zwischen Montenegrinern und Albanern blieb Prokletije - die Hauptgruppe der Albanischen Alpen - noch lange nach Hassert weiteren Forscherkreisen vorenthalten.

Auch der Komovi hatte viel Anziehendes für die Reisenden. Dieser Berg mit seinen beiden markanten Gipfeln, dem Vasojevicki und dem Kucki Kom, erlaubte den Zutritt nur zum ersten Gipfel. Am Vasojevicki Kom war der österreichische Geologe Emil Tietze im Jahre 1881; nach ihm bestie- gen ihn 1883 der Geograph O. Baumann, 1886 der Botaniker I. Szyszylowicz und der Geologe L. Baldacci, 1891 der Botaniker A. Baldacci, 1890 und 1891 der Arzt A. Rowinski, 1892 der Geograph K. Hassert und 1898 der Botaniker B. Horak. Die Felsenkuppe des Kucki Kom blieb noch lange unbezwungen.

Besonders erfolgreiche geographische Forschungen des ganzen dinarischen Gebirges machte Jovan Cvijic, Professor der Geographie an der Belgrader Universität. Vom Jahr 1897 an bereiste er fast 30 Jahre die dinarischen Gebiete und wird mit Recht als der beste zeitgenössische Kenner dieser Gebirge angesehen. Seine Forschungen umfassen die Problematik dinarischer Tektonik, ferner die Gletscherkunde, das Karstrelief und die Anthropogeographie. In allen diesen wissenschaftlichen Disziplinen hat er sich als trefflicher Beobachter erwiesen, der nicht nur Beschreibungen oder Reiseeindrücke vermittelt, sondern vorerst tiefer in das Wesen der Erscheinungen einzudringen und die Gesetze und Mächte der Natur zu erkennen trachtet, welche entscheidenden Einfluss auf die Dynamik der geographischen Wirklichkeit haben. Nach seiner Auffassung stellt das dinarische Gebirge eine geotektonische Sondergesamtheit dar, die er als erster aufgeklärt und in die geographische Literatur eingeführt hat. Seine Resultate über die Vergletscherung des dinarischen Gebirges waren seinerzeit eine erstklassige wissenschaftliche Entdeckung. Glaziale Studien machte er an Prokletije, an Durmitor, Komovi, Maglie, Prenj, Cvrsnica und Treskavica. Als Karstgeograph trachtete er das Grundproblem der Entwicklung der typischen Formen des Karstreliefs zu lösen. Diese Problematik studierte er in Gebieten der Karstpoljen Westbosniens, auf herzegowinischen Bergen, am Velebit usw. Die anthropogeographischen Arbeiten von Cvijic waren auf das Studium der Siedlungen und der ehemaligen Wanderungen der dinarischen Gebirgsbewohner eingestellt. Auf diesem Gebiet wissenschaftlicher Arbeit eröffnete er programmatisch einen ganz neuen Abschnitt anthropogeographischen Studiums, welches mit der Herausgabe einer Sonderkollektion der Serbischen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel « Siedlungen und Abstammung der Bevölkerung » im In- und Ausland auf grosses Interesse gestossen ist. Unter seinem Einfluss setzten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach seinem Tode bedeutende heimische Geographen die Forschungen auf der Grundlage ihres grossen Lehrers fort.

Von Cvijics Schülern befasste sich zwischen den letzten zwei Kriegen mit Geomorphologie und Glazial Studien der Gebirge von Prokletije bis Velebit der Belgrader Professor Borivoje Z. Milojevic. In letzter Zeit hat er regional den Durmitor und Prenj studiert. Für den weiteren Fortschritt in der Erforschung des dinarischen Karstreliefs sind die Forschungen von Josip Roglic, dem jetzigen Universitätsprofessor für Geographie in Zagreb, besonders wertvoll. Der Schwerpunkt seiner Forschungen bezieht sich auf das Studium der Entwicklung der typischen Reliefformen im Karst. Seine Theorie der Entstehung der charakteristischen Hochebene im dinarischen Karst begründet er auf Grund experimenteller Resultate der modernen Geochemie, die der Korrosionswirkung an Kalkfelsen eine absolute Priorität gibt. Unter den Anthropogeographen ist auch der Zagreber Professor Branimir Gusic erwähnenswert, welchen man heute mit Recht als den besten Kenner der Lebensgewohnheiten und Bräuche der dinarischen Gebirgsbewohner betrachtet.

Die botanischen Forschungen erhielten neuen Auftrieb durch die moderne pflanzensoziologi-sche Methode, die in Jugoslawien von Professor Ivo Horvat angeregt wurde. Zum Zweck der Erforschung der Vegetationsverhältnisse des dinarischen Gebirges durchwanderte er viele Gebirge, von Snjeznik über Velebit, Dinara und Prenj, sogar bis Durmitor. Diese Forschungen liessen die charakteristischen Merkmale der illyrischen Vegetationsregion und deren Beziehung zu nachbarlichen Vegetationsprovinzen erkennen. Horvats Verdienst ist es auch, dass das interessante Gebiet um Risnjak in Westkroatien zum Nationalpark erklärt wurde.

Auch die Bergsteigervereine trugen das Ihre zur Erschliessung des dinarischen Gebirges bei. Durch sie verbreitete sich allmählich das Verständnis für die Schönheit der Gebirgsnatur. Dazu trat die Entwicklung in der Photographic Leider hat der Kroatische Bergsteiger-Verein, gegründet 1874 in Zagreb, in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens keine grössere Aktivität in der Erforschung der Dinariden entwickelt. Nur einzelne wagten sich in die wüsten und touristisch wenig bekannten Berge; darunter aber befand sich, als leuchtendes Beispiel, der Arzt Radivoj Simonovic, der mit seinem Photoapparat alles aufnahm, was in den Bergen für die Wissenschaft von Interesse ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte der Kroatische Bergsteiger-Verein seine Tätigkeit in der Erforschung des nordwestlichen Teiles des dinarischen Gebirges, zuerst vor allem im Gebiet des Velebit, das ausser R. Simonovic auch J. Poljak, M. Hirtz, I. Krajac und I. Gojtan besuchten. Im Jahr 1929 gab dann Professor Josip Poljak seinen vortrefflich geschriebenen « Bergsteigerführer durch Velebit » heraus. Später haben jüngere und aktivere Mitglieder des Vereins ihre Aufmerksamkeit dem höheren herzegowinischen und montenegrinischen Gebirge zugewandt. In touristischer Hinsicht öffnete sich hier ein breites Arbeitsfeld. Auf den höchsten Gipfel des jugoslawischen Teiles von Prokletije, die Djerovica, gelang der erste Aufstieg im Jahre 1931 Branimir Gusic. Der höchste Gipfel im albanischen Prokletije, Maja Jezercë, zugleich der höchste Gipfel des dinarischen Gebirges überhaupt, wurde im Jahre 1929 erreicht. Diese Besteigung vollführten die englischen Alpinisten M. Sleeman, A. Elwood und W.T.Elmslie.Von den heimischen Bergsteigern hat B. Gusic als erster diesen Berg erreicht. Kartographisch wurde die Erforschung Prokletiens erst vor dem Zweiten Weltkrieg beendet, und erst in dieser Zeit gewann man eine klare Vorstellung von der tatsächlichen Lage des höchsten Gipfels des Prokletije und seiner absoluten Höhe.Vorher gab es darüber manche Vermutungen und entgegengesetzte Meinungen. So verschwanden endlich vor rund 25 Jahren die letzten « weissen Flecke » von der geographischen Karte Europas.Prokletije leistete wohl den letzten Widerstand in der langen Geschichte der Erforschung der Dinariden, doch war es auch das Gebiet des letzten grossen Erfolges.

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