Die Nacht der Hirsche | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Die Nacht der Hirsche

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Michel Strobino, Hérémence

Ein prachtvoller Hirsch zog meine Aufmerksamkeit auf sich Unter all meinen Hirsch-Beobachtungen hat mich sicher die einer Oktobernacht am stärksten beeindruckt. Ich habe jene Nacht in Gesellschaft dieser Tiere in einem Couloir der Combe de l' A - einem kleinen Tal der Walliser Alpen - zugebracht. Sie ist mir unvergesslich geblieben.

Am Ende eines Nachmittags hatte ich mich oben in einem Couloir am Eingang der Schlucht eingerichtet, ganz nah bei einem von diesen mächtigen Säugetieren in der Brunftzeit häufig benutzten Wechsel. Der Pfad verlief zwischen dem schützenden Wald, in den sich die Cerviden zurückziehen, um den Tag im Kühlen und vor neugierigen Blicken geschützt zu verbringen, und einigen grünen Weiden im Zickzack durch einen Bestand von Latschen, dann kreuzte er das Couloir diagonal. Ich hatte mich mit meinem Material - einem Tonbandgerät und den Photoapparaten -in der der Couloirmitte nächsten Kiefern-gruppe verborgen. Ein alter Arvenstamm, den eine der vielen, hier in jedem Frühling niedergehenden Lawinen gebeugt hatte, bot mir ein wenig Schutz für die Nacht.

Mein nach Süden gerichteter Beobachtungsposten lag schon im kalten abendlichen Schatten, während die Höhe des gegenüberliegenden Hanges noch von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne getroffen wurde.

Mein Ansitz war wirklich ideal, nicht nur, um den Wechsel zu überwachen, sondern auch, um den Gegenhang zu beobachten, wo bald ein heraustretender prachtvoller Hirsch meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Dass ich nicht auf dem richtigen Hang war, machte mich unzufrieden, doch meine Enttäuschung wuchs noch, als ich mit dem Feldstecher einen sehr bekannten Tierphotographen entdeckte, der sich bequem am Fuss einer grossen Lärche niedergelassen hatte und in aller Ruhe in der Sonne das Vorbeiziehen des Hirschs erwartete!

Ich wurde plötzlich durch ein leichtes Geräusch, als würden Zweige beiseite gedrängt, aus meinen Beobachtungen aufgeschreckt. Kaum konnte ich den Kopf wenden, da hatte schon ein prächtiger Rehbock mein Couloir traversiert! Etwas aus der Fassung gebracht, wendete ich - zumindest für den Augenblick -mehr Aufmerksamkeit auf das, was um mich her geschah. Doch nach einer gewissen Zeit liess mich die Neugier, wie sich wohl mein Kollege dem Hirsch gegenüber verhielt, den ich ein wenig über ihm hatte heraustreten sehen, meine Beobachtung des besonnten Hanges wieder aufnehmen.

Der Photograph spielte buchstäblich Verstecken mit dem Hirsch. Ich vergnügte mich damit, die Bewegungen meines Kollegen zu beobachten, der versuchte, in eine günstige Position zu gelangen, ohne von dem Tier gewittert zu werden. Doch jedesmal, wenn es ihm gelungen war, auf den vermutlichen Weg des Hirsches zu kommen, änderte dieser, als ahnte er, dass ihm der Weg versperrt werden sollte, die Richtung.

Ein weiteres Geräusch ganz in meiner Nähe erregte erneut meine Aufmerksamkeit: Gemsen - eine Geiss mit ihrem Kitz - querten das Couloir. Ich verfolgte die beiden mit dem Feldstecher bis zu dem Augenblick, in dem sie, wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden waren.

Inzwischen hatte der Schatten auch den andern Hang erreicht, weder der Hirsch noch der Photograph waren mehr auszumachen. Da ein eisiger Wind mein Couloir herabstrich, schlüpfte ich schnell in meinen Schlafsack und richtete mich so bequem wie möglich unter dem Arvenstamm ein. Warum unter dem Stamm? Ich glaube, dass ich - unbewusst -annahm, er würde mich gegen einen nächtlichen Angriff schützen! Aber wer sollte mich in diesem verlassenen Couloir der Walliser Alpen angreifen? Sicher nicht die voll von ihrer Leidenschaft beherrschten Hirsche.

Dem Hang zugewendet, antwortete der Hirsch seinen Artgenossen voll Feuer Behaglich in meinem Daunenkokon ausgestreckt, habe ich ein wenig gegessen, wobei ich meine Umgebung mit dem Feldstecher überwachte. Auf dem gegenüberliegenden Hang entdeckte ich nun zwei Hirsche, einer von ihnen war von mehreren Hirschkühen umgeben. Die kleine Herde stieg in Richtung auf eine nicht sehr grosse grasbewachsene Fläche ab, deren spärlich tröpfelnde Quellen von den Hirschen in eine Art Suhle, einen Morast, verwandelt worden waren.

Der Hirsch stiess ein langes Röhren aus. Sogleich antwortete der Einzelgänger - jener, den mein Kollege versucht hatte zu photographieren -, und bald begann ein regelrechtes Duett zwischen den beiden. Schliesslich fiel ein dritter ein, auf meiner Seite, doch rechts von mir und sehr viel höher.

Ich schaltete mein Tonbandgerät ein, doch der heftige Wind, der sich im Couloir verfing, verhinderte jede Tonaufnahme von guter Qualität. Ich beschränkte mich also darauf, diesem Konzert von Liebesrufen zuzuhören, hoffte dabei aber insgeheim, der Hirsch oberhalb meines Beobachtungsplatzes möge sich am nächsten Morgen zeigen.

Die Sterne standen schon eine gute Weile am Himmel, als die Hirsche aufhörten zu röhren. Eine noch schärfere Kälte erfüllte das ganze Tälchen. Ich rollte mich in meinem Schlafsack zusammen und schlummerte ein.

Ich schlief schon eine ganze Weile, als plötzlich ein Schrei von ungewöhnlicher Gewalt mich aufschrecken liess, so dass ich mit dem Kopf gegen den Arvenstamm fuhr. Nach der Macht des Tons musste der Hirsch weniger als zehn Meter von meinem Lager entfernt sein. Zwischen den Rufen hörte ich, wie er mit seinem Geweih den Boden bearbeitete. Ich sass in meinem Schlafsack und wusste nicht, was tun. Sollte ich die Schuhe anziehen und in Panik das Couloir hinunter fliehen? Oder sollte ich einfach hoffen, dass ihm nicht der Gedanke käme, sich meinem Versteck zu nähern? Ich entschied mich - ein wenig aus Trägheit - für die zweite Möglichkeit, das heisst, ich blieb an Ort und Stelle, vor allem, weil mich die Aussicht, um diese Zeit - es war 1.30 Uhr - mein weiches Nest zu verlassen, gar nicht begeisterte.

Da ich fürchtete, die Aufmerksamkeit des Tieres zu wecken, wagte ich nicht einmal, mein Aufnahmegerät einzuschalten. Dabei war ich noch niemals einem röhrenden Hirsch so nah gewesen. Sein Liebesruf währte eine gute halbe Stunde, und ich gestehe, einen Stossseufzer getan zu haben, als sich das Tier entfernte. Ich kann bezeugen, dass ein nachts nahe bei Ihren Ohren röhrender Hirsch mehr heftige Gemütsbewegungen hervorruft als irgendein Geisterzug! Ich versuchte vergeblich, wieder einzuschlafen, konnte es aber nicht lassen, mir vorzustellen, was wohl geschehen wäre, wenn sich das Tier meinem Schlupfwinkel genähert hätte. Wäre es geflohen? Hätte es den Eindringling angegriffen, der gewagt hatte, sich in seinem Revier niederzulassen? Mit Unterbrechungen schlafend, sah ich das erste Tageslicht heraufkommen; jetzt begannen die Hirsche wieder zu röhren. Das Trio antwortete einander genauso wie am Vorabend, mit Ausnahme Hirsches, des nächtlichen Besuchers, der sich jetzt in meiner Höhe zwischen den Tannen der gegenüberliegenden Couloirseite verborgen hielt. Da sich der Wind praktisch gelegt hatte, schaltete ich mein Aufnahmegerät ein, um dieses denkwürdige Trio zu verewigen.

Mit zunehmendem Licht begann ich Einzelheiten auf dem andern Hang der Schlucht zu unterscheiden, wo ich den Hirsch

Ein plötzliches Krachen, das aus den Tannen auf der andern Seite des Couloirs kam, weckte meine Aufmerksamkeit. Einige Augenblicke später trat ein herrlicher Vierzehnender aus dem Wald, schritt majestätisch zur Mitte des Couloirs und blieb etwa fünfzehn Meter von meinem Posten entfernt stehen. Dem Hang zugewendet, antwortete er seinen Artgenossen voll Feuer.

Auf dem andern Hang setzten sich die Hirschkühe in Bewegung, und der Hirsch stieg aus dem Morast, um ihnen, von schwärzlichem Schlamm tropfend, zu folgen.

Ich wagte nicht, an mein Glück zu glauben, als die kleine Herde zum Bach hinunterstieg, ihn überquerte und begann, unser Couloir emporzuklimmen. Die Beleuchtung war endlich ausreichend, ich machte fieberhaft, aber geräuschlos meine Photoapparate bereit. Als die Herde auf meiner Höhe ankam, konnte ich eine ganze Serie herrlicher Photos machen.

Während dieser Zeit hatte der Vierzehnender nicht aufgehört zu röhren. Ich hatte gehofft, im Augenblick, als der von seinen Kühen begleitete Hirsch auf unserer Höhe ankam, einen Zusammenstoss der beiden männlichen Tiere mitzuerleben. Leider geschah gar nichts; die kleine Herde gewann schnell die Höhe des Couloirs und verschwand im Schutz der goldenen Lärchen.

( Mein Hirsch ) attackierte daraufhin - sicher aus Wut - eine Gruppe von Latschen, so dass all die kleinen Insekten mehrere Meter weit herausflogen. Endlich beruhigt, schlug auch er die Richtung zu den letzten, schon unter den Strahlen der aufgehenden Sonne aufleuchtenden Lärchen ein.

Nach dem Verschwinden des Vierzehn-enders kehrten im Tal wieder jener Friede und jene Ruhe ein, wie ihn nur der Herbst im Gebirge mit sich bringen kann. Jetzt stellte ich fest, dass mein Tonband zu Ende war - sicher schon seit langer Zeit - und mein Aufnahmegerät leer drehte!

Schnell spulte ich das Band zurück, um diese kostbaren Augenblicke des Oktobermor-gens noch einmal lebendig werden zu lassen.

Aus dem französischsprachigen Teil. Übersetzt von Roswitha Beyer, Bern

Feedback