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Die Tiefe der Alpentäler

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rVon R. v. Klebelsberg

( Innsbruck ) Am 24. Juli 1908 eilte eine schlimme Nachricht durchs Land: beim Bau des Lötschbergtunnels war 2,675 km vom Nordportal ein schwerer Einbruch erfolgt, Schuttbrei drang 1600 m weit in den Tunnel vor und verschüttete 24 Arbeiter. Die Tunneltrasse musste in der Folge weit nach links abgebogen und ein grosser Mehraufwand an Bauzeit und Kosten in Kauf genommen werden. Die Katastrophe aber wurde zum Ausgangspunkt einer wichtigen neuen Erkenntnis über die Alpentäler: dass diese streckenweise hoch hinan verschüttet sind und der eigentliche felsige Talgrund erst tief unter der heutigen Talsohle liegt. Die ursprüngliche, geradlinige Tunneltrasse hatte das breite tiefe Gasterntal 160 m unter dem Gasternboden ( 1365 m ) unterfahren. Niemandem wäre in den Sinn gekommen, dass sie hier nicht schon tief im Felsen läge. Da stiess der Stollenvortrieb aus dem Fels in die wasserdurch-tränkte Schuttfüllung des Talgrundes hinaus, auf dem Gasternboden bildete sich ein 60 m breiter Trichter. Die Überraschung war um so grosser, als sich das Gasterntal kaum 2 km weiter vorn zur Klus verengt und hier die Felssohle, wie man zu sagen pflegt, « nicht ferne sein kann ».

Im Falle des Gasterntals ergab sich damit eine Sohlenverschüttung von mindestens 150—160 m, sie kann in Wirklichkeit noch grosser sein, da mit dem Einbruch im Tunnel die Lage der FelssoWe noch nicht bestimmt ist.

Heute weiss man: es fehlte nicht viel, auf dass Ähnliches im Urserental beim Bau des Gotthardtunnels ( 1872—1880 ) passiert wäre: eine Tiefbohrung nördlich Andermatt im Urner Loch ( oberflächliche Talsohle 1430 m ) erreichte in 180 m Tiefe den felsigen Talgrund noch nicht, während anderseits eine Bohrung aus dem Tunnel ( ca. 1140 m ) nach oben in rund 40 m Abstand aus dem Fels heraus in die Schuttfüllung geriet1. Es ergibt sich hier eine Ver-schüttungsmächtigkeit von 250 m.

In beiden Fällen, Gastern- und Urserental, handelt es sich um tief aus dem felsigen Talgrund ausgenommene Becken, die mit Schutt so hoch aufgefüllt worden sind. Die Felsschwelle, welche die Becken vorne begrenzt, ist zwar oberflächlich nicht sichtbar, sie kann aber doch mit aller Wahrscheinlichkeit angenommen werden, so nahe kommt sich der Fels von beiden Seiten: da beide Becken Stätten erster grosser Konzentration der Gletscher aus dem umgebenden Hochgebirge waren, liegt die Annahme nahe, dass sie durch die Gletscher so tief ausgeschürft wurden. Albert Heim hat das zwar im besonderen für das Gasterntal abgelehnt, gemäss seiner allgemeinen, grundsätzlichen Einstellung gegen die Annahme starker Gletschererosion, im Falle dieser beiden Becken braucht man aber nur ein sehr bescheidener « Glazial-erotiker » zu sein, um sie so zu deuten; es genügt dafür ein Ausmass des Gletscher-schurfs, das sich ganz im Verhältnis der Karbecken zu den Kargletschern hält.

Andere Beispiele bedeutender Sohlenaufschüttung sind in den letzten Jahren aus Tiroler Tälern bekannt geworden. In dem 8 km langen Becken von Längenfeld im Oetztale hat eine von mehreren Tiefbohrungen die Felssohle 150 m unter der Aufschüttungssohle ( 1150 m ), das ist bei rund 1000 m ü. M., noch nicht erreicht, während zwei andere sie bei 994,5 m und, näher der Talflanke, bei 1038 m ü. M. erreichten. Hier ist die Ursache der Beckenbildung ohne weiteres sichtbar: ein grosser Bergsturzriegel hat das Tal abgedämmt und so hoch aufgestaut. Wenige Kilometer weiter talaus hat sich der Vorgang wiederholt: ein anderer grosser Bergsturz hat hier das Becken von Umhausen ( Oberfläche um 970 m ) aufgestaut. Im Becken von Längenfeld wurden durch die Tiefbohrungen vorangegangene Echolotungen ( seismische Tiefenmessungen ) kontrolliert; der Vergleich ergab, dass das seismische Verfahren in solch tiefen, steilhangigen und im ganzen doch engen Hochgebirgstälern vorerst ( 1939 ) noch unter der Überlagerung bzw. der Nicht-unterscheidbarkeit der von den seitlichen Talwänden und der vom Grunde reflektierten Schütterwellen leidet.

Eine noch bedeutendere Verschüttungstiefe ergaben Tiefbohrungen im obersten Vintschgau, dem Tal der Etsch ( Südtirol ), die für das Stauwerk am Reschen durchgeführt wurden. Zwischen dem Mitter-(Grauner ) und Haider See böscht hier der Fels des westüchen Talhanges noch westlich der Talmitte unter 183 m ab, bis in unerbohrte Tiefe, bei einer oberflächlichen Sohlenlage von 1475 m ü. M., in einem Abstand von 8,5 km vom Reschenpass ( 1510 m, der Wasserscheide gegen den Inn am Engadiner Ausgang ), wo der Felsgrund nächst der Passhöhe in rund 1500 m Meereshöhe festgestellt worden ist. Es 1 Nach freundlicher Mitteilung Herrn Dr. A. Böglis ( Hitzkirch ). Es braucht leider oft sehr lange, bis derlei technische Erfahrungen in die Literatur eingehen.

ergibt sich ein sehr rascher Abfall der felsigen Tiefenlinie nach Süden, während die aufgeschüttete Sohle noch 3 km über die 8,5 km hinaus nahe 1450 m Meereshöhe bleibt. Ihre grosse Breite ( bis über 1 km ) liess immer schon eine beträchtliche Verschüttungstiefe vermuten, dass sie aber solches Ausmass erlangte ( bis vielleicht beträchtlich über 200 m ), hätte man nicht erwartet.

Auch in diesem Falle liegt die Ursache der so grossen Talverschüttung klar zutage: nahe weiter vorn ist der grösste der berühmten Murschuttkegel des Vintschgaus, dieses kontinentalsten Klimabereichs in den Ostalpen ( die jährliche Niederschlagsmenge sinkt unter 600 mm ab ), Hunderte von Metern hoch ins Tal vorgebaut worden; er hat dieses so hoch aufgestaut.

Der gleiche Vorgang hat auch in dem ursprungsnahen Hintergrund des Vintschgauer Seitentals Schnals zu einer so hohen Aufschüttung geführt, dass eine hier, bei Obervernagg ( 1640 m ), niedergebrachte Tiefbohrung noch bei 100 m Tiefe im Schutt verblieb.

Aus ähnlicher Ursache erreichte in der inneren Gerlos, einem östlichen Zweige des Zillertals, eine Sondierung 100 m unter der heutigen Sohle noch nicht den Felsgrund. Auch in Stappitz ( See 1277 m ) bei Mallnitz ( Kärnten ) wurde im Schuttkegelstau bei 100 m der Fels nicht erreicht.

Aber auch in den grossen Haupttälern der Alpen liegt der wahre, felsige Talgrund für lange Strecken tief unter der heutigen, aufgeschütteten Sohle. In der Regel, wenn schon nicht ohne Ausnahme, kommt hier nirgends der Fels zum Vorschein, ausser eventuell in kleinen Inselbergen, wie z.B. dem Festungsberg von Kufstein im Inntal oder dem Kapuzinerberg von Salzburg im Salzachtal, neben denen die Aufschüttungssohle gleichmässig weiterzieht. Dafür, wie tief in diesen Haupttälern die Felssohle unter der Oberfläche liegt, gibt das Inntal bei Innsbruck ein Beispiel. Als nach dem ersten Weltkrieg die Kohlennot sehr arg geworden war, « vermuteten » hier Wünschelrutengänger in der Tiefe grosse Kohlenvorräte. Und wiewohl die Geologen kein Verständnis dafür bekundeten, wurde eine Probebohrung niedergebracht: sie blieb 200 m unter der Aufschüttungsoberfläche ( 564 m ) in den Schottern stecken — man hatte auf solche Schuttmächtigkeiten nicht angetragen ( auch die Wünschelrutengänger verantworteten sich in der Folge leicht: es war eben einfach nicht tief genug gebohrt worden I ). Der felsige Talgrund liegt hier bei Innsbruck also unter 364 m Meereshöhe. Das war ein um so überraschenderes Ergebnis, als 60 km weiter innabwärts bei Wörgl ( Aufschüttungsoberfläche 505 m ü. M. ) andere, bergmännische Bohrungen in 92 und 98 m Tiefe, das ist bei 413 bzw. 407 m ü. M., den Felsgrund erreicht hatten. Die zwei Bohrungen sind zwar für die grosse Talbreite ( fast 2 km ) hier zu wenig, um ein völlig sicheres Bild zu geben, es ist aber doch unwahrscheinlich, dass sie beide auf Felsaufragungen getroffen hätten. So ergab sich die merkwürdige Tatsache, dass die Felssohle des Inntals innabwärts um wenigstens 43 m ( von weniger als 364 auf 407 m ) ansteigt.

Zur Erklärung wurde auch hier in erster Linie Glazialerosion herangezogen. Grössenordnungsmässig bestehen dagegen bei der relativen Geringfügigkeit von 100 und auch 200 m Auskolkung gegenüber einer Dicke des Eiszeitgletschers im Inntale von 1500 bis fast 2000 m kaum Schwierigkeiten, auch das Lageverhältnis befriedigte annähernd, indem das Nachlassen des Gletscherschurfs gegen Wörgl einerseits mit der grossen Eisabgabe durch das Tal des Achensees nach Norden, anderseits mit der weiten Eisausbreitung südlich des Kaisergebirges in Zusammenhang gebracht werden kann. Bedenken anderer Art haben aber doch auch zu einem anderen Erklärungsversuch geführt: dass nämlich das Inntal in der entsprechenden Strecke durch die gewaltige Eislast niedergebogen worden wäre — der Versuch begegnete aber der Schwierigkeit, dass die terrassenförmig an den Talhängen entlangziehenden Reste älterer höherer Talböden von einer solchen Einbiegung nichts erkennen lassen.

Auch in einem zweiten grossen inneralpinen Längstale, jenem der Enns in Steiermark, ist durch eine Tiefbohrung eine sehr tiefe Lage der wahren, felsigen Talsohle ermittelt worden: bei Wörschach ( westlich Liezen ) wurde erst 192 m unter der Aufschüttungssohle ( 633 m ü. M. ), also bei 441 m ü. M., der Fels erbohrt. Auch hier ist wahrscheinlich, wennschon nicht erwiesen, dass die Felssohle talabwärts ansteigt, gegen die Enge des Gesäuses hin. Die glazialerosive Deutung fällt hier insofern schwieriger, als der eiszeitliche Gletscher im Ennstale von Haus aus minder mächtig war und schon 50 km weiter talab endigte.

Aber auch in einem Längstal nahe am Aussenrande der Alpen ist in jüngster Zeit die felsige Talsohle erst tief unter der oberflächlichen angetroffen worden: im bayerischen Isartal bei Fall. Wo hier die Isar knapp unterhalb der Walchenmündung das breite Längstal von Vorderriss verlässt und in die Enge am « Sylvenstein » eintritt, da ist 1948 ein Bohrprofil quer durch gelegt worden. Während links der Isar und auch noch in linken Teilen des heutigen Isarbetts der Fels schon in 35 und 50 m Tiefe erreicht wurde, stiess eine Bohrung am rechten Ufer, am Fuss des Sylvensteins, erst in 80 m Tiefe auf ihn: das bei Fall oberflächlich noch über 1 km breite Tal hat also, wie oberflächlich, so auch in der Tiefe einen sehr viel engeren, geradezu schlucht-förmigen Ausgang. Vermutlich ist damit auch ein wenigstens leichter Anstieg der Felssohle verbunden. Je mehr hier die Eisdicke gegenüber dem Alpeninnern schon abgenommen hatte und je mehr Eis über die Senken der Vorberge nach Norden abgehen konnte, um so unwahrscheinlicher wird hier glazialerosive Deutung.

Eine Ausnahme von jener Regel, dass in den grossen Haupttälern nirgends die Felssohle hochkommt, gibt z.B. das Salzachtal, an dessen Ausgang Salzburg liegt. Mehr als zwei Kilometer breit zieht es, ohne Zweifel sehr hoch aufgeschüttet, alpeneinwärts, bis in die Gegend von Golling, dann aber hebt sich in der engen Klamm der Salzachöfen die Felssohle unvermittelt bis auf 32 m unter dem Flußspiegel empor. Oder, in umgekehrter Richtung, das Lechtal; hoch aufgeschüttet zieht es schräg durch die Kalkalpen, dann aber, am Ausgang aus dem Gebirge, sowohl bei Füssen als auch bei Pfronten, nähert sich sein Felsgrund allem Anschein nach der Oberfläche.

Am Rande gegen das Alpenvorland scheint allenthalben die felsige Sohle der grossen aus den Alpen kommenden Täler tiefer zu liegen als ihre Fortsetzung im Vorland. Besonders aber gesellt sich hier, am schweizerischen und am lombardischen Alpenrand, zur Talaufschüttung eine andere, noch auffälligere Erscheinung: die der grossen Seen. Je tiefer unter die anschliessende Talsohle sie eingreifen, um so eindringlicher führen auch sie vor Augen, wie tief unten hier der wahre Talgrund hegt, bis zu dem das Tal früher einmal eingeschnitten worden ist — statt Schutt bildet hier nur Wasser die Auffüllung bis zur Oberfläche. Im Genfer See sind es 310, im Thuner 218, im Brienzer 259, im Vierwaldstätter 214, im Zürichsee 143, im Walensee 151, im Bodensee 252, im Luganer 288, im Langensee 372, Comer 410, Iseosee 251, selbst in dem kleinen Idrosee 122, im Gardasee 346 ml Zu der Frage, wie die so bedeutenden Aufschüttungsmächtigkeiten der Täler zu erklären sind, kommt hier das alte Problem der « alpinen Randseen ». Es tritt uns am eindrucksvollsten am Comer und Gardasee entgegen, die, noch fast ganz innerhalb der Alpen gelegen, 212 bzw. 281 m unter den Meeresspiegel hinabreichen — das Prinzip der tiefliegenden Felssohlen findet hier seine stärkste Ausbildung. Zur Seetiefe kommt möglicherweise noch eine beträchtliche Schuttunterlage hinzu. Zu welchen Anteilen die 410 bzw. 346 m an der Seeschwelle aus Aufschüttungen und aus « gewachsenem » Untergrund bestehen, ist nicht bekannt, keinesfalls kann hier an den Gletscherenden noch mit einer sehr bedeutenden Gletschererosion gerechnet werden. So bekommt hier die Frage nach dem Verhältnis der wahren, tiefsten Talsohlen zu den oberflächlichen übergeordneten Sinn: alle die mehr oder weniger örtlichen oder regionalen Deutungen der früheren Fälle, einschliesslich der gla-zialerosiven, scheiden aus, nur grosszügige, weiträumige Erklärungsversuche können überhaupt in Betracht kommen.

Da hat nun schon vor mehr als einem halben Jahrhundert für die Schweizer Seen Albert Heim eine Vorstellung geprägt, die dem Wesen der Dinge am nächsten kommt: die Annahme eines jungen, erst nach der Haupttalbildung erfolgten Absinkens der Alpen im ganzen. Wie mit einem Schlage wird damit die Gesamterscheinung der tiefen Talverschüttung und der Seebildung verständlich, über alle die örtlichen und regionalen Vorkommnisse hinaus, für die mit ebenso beschränkten Vorgängen, Bergstürzen, Schuttkegelbildungen, Gletscherschurf, das Auslangen gefunden werden könnte: durch ein erd-dimensional geringfügiges Einsinken des Gebirgskörpers im ganzen verloren die Täler ihr Gefälle und gingen die Flüsse vom Einschneiden zum Aufschütten über.

Albert Heims Idee von dem « Rücksinken » der Alpen, wie er es nannte, vermochte sich zunächst nicht allgemeiner durchzusetzen; sie stiess auf den Widerstand von Heims grossem Gegenspieler, Albrecht Penck, der, den Gedankengängen G. de Mortillets, A. C. Ramsays, J. Tyndalls folgend, die tiefen Seebecken und Talausgänge durch die Eiszeitgletscher ausgeschürft sein liess. Da kam zwei Jahrzehnte später, unabhängig von der Alpenforschung, für Skandinavien die Annahme ähnlichen Absinkens auf, verbunden mit der Vorstellung, dass das Land unter der Last der an 2000 m dicken eiszeitlichen Gletschermasse tiefer in die Erdkruste hinuntergedrückt worden und dadurch die zum Meere führenden Fjordtäler « ertrunken » wären. Und diese Vorstellung von der « glazialisostatischen » ( Gewichtsausgleich gemäss der Gletscherlast ) Senkung Skandinaviens setzte sich, indem sie das Absinken zugleich ursächlich erklärte, weitgehend durch. Die Gleichheit der Tatsachen nun aber — auch die Alpen sind durch die eiszeitliche Vergletscherung mit 2000 m dickem Eis belastet worden und das ertrunkene Tal des Gardasees erinnert auch in der Form an skandinavische Fjorde — legte ihre Anwendung auf die Alpen nahe: Heims Idee vom « Rücksinken » gewann neuen Sinn. Nun näherte sich ihr auch Penck, indem er, wennschon zunächst nur gebietsweise ( vgl. oben ), glazialisostatische Senkungen in den Alpen annahm. Mittel-bar behielt die Annahme des Zusammenhanges der Alpenrandseen und der tiefen Talverschüttung mit der eiszeitlichen Vergletscherung recht, der glazialerosive Anteil aber an der Tieferlegung der Felssohle reduzierte sich auf das sehr viel bescheidenere Mass, das der Erosionskraft des Gletschers so nahe seinem Ende entsprach. « Glazial » bleiben die tiefsten Felssohlen auch insofern, als die letzte, wenn auch nur bescheidene Tieferlegung durch den letzten Gletscher erfolgte und die tiefste Sohle damit zum letzten Male als Tal- oder Gletscherboden funktionierte; als der Gletscher sie freigab, war zufolge des Absinkens kein Tiefereinschneiden mehr möglich.

Wie immer sich die Theorie weiterentwickeln möge — die unter das Meer getauchten Fjorde Skandinaviens und die in Schutt und Seen « ertrunkenen » grossen Täler, die aus den Alpen ins Vorland hinausführen, sind jedenfalls Vergleichsstücke, die eines für das andere zeugen.

Dafür, dass dann in manchen der abgesunkenen Täler am Alpenrande Seen erhalten geblieben sind, während sie in änderen — sie waren auch dort vorhanden — längst verlandet sind ( z.B. am Lech-, Inn-, Salzach-Ausgang ), können Verschiedenheiten in der Schuttzufuhr massgebend gewesen sein oder, wie Rudolf Staub meinte, verschieden lange Konservierung der Becken-räume durch grosse, beim Schwinden der Gletscher in ihnen zurückgebliebene Toteiskörper, die in föhnfreien Tälern wie jenen der Schweizer Seen weit längeren Bestand gehabt hätten als am Nordrande der Ostalpen, wo sie zufolge der dort stärkeren Föhnwirkung früher abgeschmolzen wären.

Die Frage nach der wahren Tiefe der Alpentäler hat uns so zunächst rein empirisch mit verborgenen Tatsachen des alpinen Formenschatzes bekanntgemacht, dann mitten hinein in die grossen, immer wieder aufs neue reizvollen Probleme der morphologischen und glazialgeologischen Alpenforschung geführt.

In den Bergen Sikkims ( Fortsetzung )

9«Von Rudolf Hahn Mit 2 Bildern ( 59, 60Kalkutta ) Die Umgebung war prächtig. Allmählich machte sich die Nähe der mächtigen Berge bemerkbar. Grosse Felsabstürze unterbrachen die weichen Hügel-hänge, die Gräte erhoben sich über die Waldgrenzen, wilde rauhe Felsen formten einen drohenden Horizont gegen den leicht blauen Himmel.

Gegen halb 5 Uhr erreichten wir das Bungalow von Chungthang ( 5350 Fuss ).

In Chungthang vereinigen sich die beiden Flüsse Lachen und Lachung Chu und bilden von dort aus die Teesta. An dieser Stelle steht ein mächtiger Felsen von tragischem Interesse. Alte Einwohner erinnern sich noch, dass früher verurteilte Verbrecher von diesem Felsen hinab in die zusammen-prallenden Wassermassen geworfen wurden. Es blieb der Natur überlassen, ob das Urteil gerecht war oder nicht — denn, wenn einer der Unglücklichen lebend herauskam, war er frei.

9. Oktober. 5 Uhr Tagwache für einen langen und schweren Tag. Während der Nacht wurde ich von starkem Husten geplagt, das Resultat eines unfreiwilligen Bades in einem Bache. In der Frische des erwachenden Morgens schritten wir rüstig ins Lachental.

Ungefähr zwei Meilen von Chungthang entfernt hörte der Weg plötzlich auf. Vor einigen Wochen war an der rechten Seite des Tales ein Teil des Berges losgebrochen und mit ungeheurer Wucht ins Tal gestürzt, einen Wald, enorme Mengen von Stein und Erde mit sich reissend. Das Bachbett wurde vollständig zugedeckt. Es bildete sich ein grosser See, der das Tal unbegehbar machte. Wir waren schon in Gangtock von Capt. Noyce vor diesem Hindernis gewarnt worden — hofften aber trotzdem, unser Tagesziel erreichen zu können, ohne unterwegs kampieren zu müssen und so einen Tag zu verlieren. Langsam und vorsichtig, die Kulis alle eng aufgeschlossen, erkämpften wir uns einen Weg durch die dichten steilen Dschungel, hinauf auf die linke Bergseite, um so eine ungefähr 2000 Fuss hohe Felswand zu übersteigen. Da sie sehr steil und schlüpfrig war, mussten wir die Kulis, die nur mit grossen Schwierigkeiten vorwärtskamen, mit Seilen sichern. Die Seile wurden zusammengeknüpft und durch Pasang hoch oben an einem Felsenkopf befestigt. Vorsichtig zogen wir die Kulis und dann die Lasten über die Felsklippen hinauf, Seillänge nach Seillänge. Nach drei Stunden hatten wir die ganze Kolonne auf der Höhe. Der Abstieg gestaltete sich eher noch schwieriger. Kurz vor 12 Uhr erreichten wir wieder den Talgrund oberhalb des Sees, sehr erleichtert, das schwere Hindernis überwunden zu haben. ( Der Staatsingenieur war seit Wochen beschäftigt mit den Plänen zum Bau einer frischen Strasse auf der andern Seite des Tales. ) Das Lachental ist unvergleichlich in seiner Wildheit, gekrönt im Hintergrund durch den glitzernden Eiskopf des Lama Anden. Orchideen in allen Farben, eine grosse Auswahl anderer tropischer Blumen, seltener Schmetterlinge und Vögel hielten unser Interesse wach, so dass wir fast unbemerkt eine Meile nach der andern hinter uns legten. Der Weg wand sich durch tief bewaldete Einschnitte, in deren Mitte schäumende Wasser sich tiefer und tiefer eingruben. Aus sonnigen Stellen drangen wir in tiefe, düstere Schatten, wo die sich von Baum zu Baum windenden Schlingpflanzen ein dunkelgrünes Dach bildeten. Dann ging 's wieder hinaus ins Licht mit einem unvergleichlichen Blick zurück auf das tief abfallende Tal. Fünf Meilen vor Lachen überquerten wir den Fluss, und ein sehr steiler Aufstieg brachte uns auf einen Absatz, wo das Tal sich erweiterte. Hier begann die Alpenvegetation. Wir Die Alpen - 1949 - Les Alpes18 waren müde, aber begeistert und glücklich, aus der Dschungel mit dem schweren exotischen Pflanzengenich heraus zu sein und nun den frischen Duft des Alpengrases und der Tannen in uns aufnehmen zu können. Umgeben von mächtigen, vier Meter hohen Rhododendronbäumen mit tiefgrünen, sternförmigen Blattbüscheln wanderten wir weiter. Was für ein wundervoller Anblick muss das sein im Frühling zur Blütezeit! Nochmals kam ein sehr steiler Hang, den wir mühselig bezwangen, dann eine tiefe Schlucht — und wir standen vor einer uralten tibetanischen Gebetsmauer, umgeben von hohen Bambusstangen mit weissen verwetterten Fahnen, überdruckt mit buddhistischen Gebeten. Dahinter lag Lachen ( 8800 Fuss ), unser Tagesziel. Todmüde erreichten wir das Bungalow nach 6 Uhr und verkrochen uns bald zum erstenmal in unsere Schlafsäcke, während ein scharfer Wind um das Haus pfiff und mit den Fensterläden spielte.

10. Oktober. Wohlverdienter Rasttag! Ich nahm ein feines warmes Bad in einem kleinen Trog, und um halb 9 Uhr sassen wir alle bei einem mächtigen Frühstück.

Darauf packten wir unser ganzes Gepäck aus, wählten den Proviant für eine Woche und verteilten ihn in gleichmässige, leichte Lasten. Der Rest wurde dem Chowkidar zur Aufbewahrung übergeben. Die Kulis waren eifrig beschäftigt mit dem Waschen ihrer Kleider. Auch unsere Bettrollen, Wolldecken, Zelte und Kleider wurden ausgebreitet und gesonnt. Dieses Lagerleben zog die ganze Dorfbevölkerung an, die unsere Ausrüstung aufs eifrigste besprach und begutachtete. Material wurde geprüft, jede Büchse berührt und berochen. Es schien mir, dass die Inspektion zu unseren Gunsten ausfiel, und wir waren auf der Hut, dass nicht der eine oder andere « Souvenirs » zu sammeln anfinge.

Lachen besteht aus etwa 100 Holzhäusern, bedeckt mit Schindeln und mit Steinen belastet, wie ein Walliser Bergdorf. Der untere Teil der Häuser ist aus Stein und Lehm gebaut. Die Türen und winzigen Fenster sind von originell geschnitzten und mit grellen Farben bemalten Balken umrahmt. Das Innere der Häuser liegt in ständigem Halbdunkel, das aber den Schmutz und Dreck nicht verbirgt. Am oberen Rand des Dorfes liegt ein prächtiges Kloster ( Gompa ) mit einem goldverzierten, weit ins Tal leuchtenden Dach. In den Socken drangen wir durch die Pforte in einen kleinen Vorraum, dessen Wände mit den vier mythologischen Wächtern, den Königen der vier Jahreszeiten, prächtig bemalt sind. " Sie stellen die Beschützer von Himmel und Erde gegen Dämonen dar. Innen ist ein viereckiger halbdunkler Raum, gestützt durch vergoldete Säulen. Die Lamas sitzen beim Gebet in zwei Reihen, die gegen den Altar führen. Der Hauptlama oder Abt sitzt auf einem erhöhten Kissen am Ende des Altars. Auf dem Altare selbst, der die ganze Wand ausfüllt, sitzt, umgeben von einer Anzahl Götter mit fürchterlichen, grotesken Gesichtern, ein mächtiger Buddha. Eine Menge von Gefässen, Opfergaben, die sieben Schalen mit heiligem Wasser, brennende Lampen und Musikinstrumente für die täglichen Zeremonien umgeben den Altar. Von der Decke hängen schwere seidene, in allen Farben bestickte Tankas ( Tempelbanner ). Die Lamas waren bei unserem Besuch tief ins Gebet versunken und nahmen nicht die geringste Notiz von uns. In regelmässigen Zeitabständen bliesen sie in ungeheure Trompeten, Hörner und Muscheln, während andere auf mächtigen Trommeln und Pauken einen Lärm verführten, dass uns Sehen und Hören verging. Dann fuhren sie fort, ihre Gebete zu murmeln, die Körper rhythmisch nach vorne beugend. Die ganze Zeremonie brach ab, als wir dem Lama, der uns herumführte, 5 Rs. gaben, die er schmunzelnd seinen Kollegen zeigte und dann rasch in seinen Roben verbarg. Eine kleine Stiege führte uns unter das Dach. Der Boden im ersten Raum, den wir betraten, war besetzt mit einer Darstellung des Lebens Buddhas, kunst- und farbenreich verziert. Die Wände bestehen aus Hunderten von kleinen Nischen, gefüllt mit heiligen Gebetbüchern, losen Blättern, zwischen geschnitzte Holzdeckel gepresst. Der andere Raum ist gefüllt mit verschlossenen goldverzierten Schranken. Auf unser Bitten öffnete der Lama nach einigem Zögern die Türen und zeigte uns die erschreckenden Masken, einige mit Hörnern versehen, die heiligen Roben, Schwerter und Stiefel, die von den Lamas für den Teufels- und Kriegstanz bei grossen Festlichkeiten benützt werden. Der Teufelstanz ist überall in buddhistischen Gegenden bekannt. Der Kriegstanz jedoch ist eine Spezialität von Sikkim. Er wird bei gewissen Festlichkeiten aufgeführt, um den Geist des Kanchenjunga, des Kriegsgottes der Sikki-mesen, freundlich zu stimmen. Er wird nicht nur von den Lamas, sondern auch von der Jugend der besseren Familien getanzt. Er besteht aus einer Menge heftiger Körperübungen, wobei Schwertkämpfe eine wichtige Rolle spielen. Als Grundlage dient ein religiöses Drama — der Kampf des Guten über das Übel.

In der Nähe des Klosters befindet sich eine mächtige Gebetsmühle, die ein kleines Gebäude füllt. Das Äussere des Gebäudes ist sehr originell verziert, das Innere, obschon klein und fast ganz ausgefüllt durch das mächtige Rad, besitzt grossen Farbenreichtum. Auf goldenen, grünen und roten Bändern sind heilige Sprüche und Bilder der verschiedenen Gottheiten gemalt. Jedesmal nach einer Umdrehung des Rades, das eine Tonne wiegen soll, klingt eine kleine Glocke, die angibt, dass so und so viele tausend Gebete, mit denen das mächtige Rad gefüllt ist, zum Himmel hinaufgestiegen sind und demjenigen, der schwitzend und keuchend das Rad dreht, Glück und Erlösung bringen werden.

An diesem Tage war ein Puja ( religiöses Fest ) in Lachen. Die Frau des Abtes war vor einer Woche gestorben, und das ganze Dorf versammelte sich zur Trauerfeier ausserhalb des Klosters. Die Männer sassen in Reihen um den Abt herum, unter einer grossen Zahl von Gebetsfahnen, mit eintöniger, singender Stimme die Gebete wiederholend, die der Lama aus einem mächtigen uralten Buche vorlas. Etwas abseits waren die Frauen des Dorfes mit Kochen beschäftigt und brachten den betenden Männern Schüsseln mit Reis und Schaffleisch. Andere füllten aus Kupferkannen die kleinen Teeschalen auf, die jeder vor sich hatte. Ein Mönch mit feierlichem Gesicht offerierte uns auf Anweisung des Abtes eine Schale tibetanischen Tees. Dieser enthält Zamba ( eine Art Mehl ), Jakbutter und Salz. Dies wird alles zusammen gekocht und in einem grossen Bambusbehälter aufbewahrt. Das Getränk war gar nicht nach unserem Geschmack, aber wir konnten diese Geste von Gastfreundschaft natürlich nicht zurückweisen. Leider wussten wir aber nicht, dass, wenn eine Schale ausgetrunken ist, sie sofort wieder aufgefüllt wird. Die leere Schale ist für den Gastgeber ein Zeichen, dass sein Gast mehr Tee wünscht. Wir würgten eine Schale nach der andern herunter — unsere Gesichter wurden länger und länger —, bis Pasang uns erlöste, indem er uns zuflüsterte, die vollen Schalen stehen zu lassen. Neben dem Abte sassen ein paar steinalte Mönche in roten und gelben Roben, die auf Trommeln den Takt zu den Gebeten schlugen. Es war ein unvergesslicher Anblick, diese fremden, wildaussehenden Menschen, umgeben von einer wundervollen Natur. Oberhalb des Klosters führten steile Hänge, mit Tannen bewachsen, höher oben mit verkrüppelten Büschen, zu den in der Sonne glitzernden Gletschern des Lama Anden ( 19 210 Fuss ).

11. Oktober. Vor 8 Uhr verliessen wir Lachen und folgten dem leicht ansteigenden Wege an der rechten Talseite.Vergeblich versuchte die Sonne, die drohenden Wolkenmassen zu durchbrechen. Nach zwei Meilen erreichten wir das Zemutal, überquerten den Fluss, verliessen den guten Weg und zogen auf einem kaum sichtbaren Pfade weiter, durch Rhododendrondickichte, knietiefen Dreck, enorme Pfützen und über halbverfaulte Baumstämme. Es war äusserst mühsam, und wir kamen nur sehr langsam vorwärts, immer darauf achtend, dass keiner der Kulis zurückblieb. Die Natur war wild, unberührt von Menschenhand. Auf der andern Talseite hatten mächtige Lawinen, von der Höhe des Lama Anden in den Fluss stürzend, schmutzige Schneereste zurückgelassen. Nach sehr anstrengendem Marsche erreichten wir den Llonak Chu ( Chu = Fluss ), verzehrten unsere Sandwiches, während die Kulis die halb zerfallene und teilweise weggerissene Brücke verbesserten. Der Llonak Chu ist ein mächtiger Fluss und donnert schäumend hinunter in den Zemu Chu. Wir verloren erhebliche Zeit, bis unsere ganze Expedition, einer nach dem andern sorgfältig gesichert, auf dem andern Ufer anlangte. Wenn jemand gestürzt wäre, hätte es für ihn sichern Tod bedeutet. Rhododendronbüsche wechselten ab mit dichtem Gestrüpp, durch das wir uns mit Hilfe unserer Kukris ( Gurkamesser ) mühselig hindurcharbeiteten. Wieder wechselte dichter düsterer und kalter Tannenwald mit einer Lichtung — einer versumpften Wiese. Ein leichter Regen fiel aus dem tiefhängenden Nebel, als wir ungefähr um 4 Uhr in Yaktang ( 11 100 Fuss ) anlangten. Am Ufer des Flusses fanden wir einen guten Platz für unser Camp. Mit grosser Eile reinigten die Kulis den Boden von Steinen und Ästen und schlugen die Zelte auf. Eine zerfallene Steinhütte, das einzige Gebäude in Yaktang, diente uns als Küche. Es hatte aufgehört zu regnen. Nebel und Wolken zogen hinunter ins Tal. Die Kulis sammelten Holz und entzündeten einige mächtige Feuer. Thundu brachte uns wärmenden Tee und kleine Kuchen, die er selbst verfertigte. Unser Brot war aufgebraucht, und von nun an hatten wir uns mit indischen Chappattis ( ein Gebäck aus braunem Mehl und Wasser ), Biskuits und Scones ( schottisches Gebäck ), alles mit Geschick von Thundu bereitet, zu begnügen.

An diesem Tage hatten wir nur neun Meilen in fünf Stunden Marsch zurückgelegt. Grau und farblos kam die Nacht mit drückender Stille — wie eine schwere Last. Wir fühlten uns einsam und verlassen und krochen schon um 7 Uhr in unsere Schlafsäcke.

12. Oktober. Am Morgen lag dichter weisser Frost auf der Umgebung. Im Nu war unser Camp aufgepackt. Langsam zogen wir eine Wegspur durch sehr rauhes Gelände. Wieder Rhododendronbüsche und dichtes Gestäude und hohe Brennesseln! Zum ersten Male fühlten wir die Höhe. Wir hielten oft an, um zu Atem zu kommen. Die Brücke über den Tomya Chu sah bös aus, und es kostete uns fast zwei Stunden, bis jedermann glücklich auf der andern Seite war. Dann waren die Rhododendren so dicht, dass wir uns wieder mit den Kukris durchschlagen mussten. Mit jeder Stunde wurde die Umgebung grandioser, wilder, mächtiger. Langsam keuchten wir aufwärts. Ein unangenehmer Druck machte sich in unsern Köpfen fühlbar. Die Kulis jedoch waren in ausgezeichneter Form und kamen gut vorwärts, viel besser als in den tieferen Lagen. Mit dem vorrückenden Morgen zeigten sich grosse Nebelmassen, die rasch und lautlos über die hohen Grate herunterglitten und das Tal heraufzogen. Es fing an zu schneien, dichter und dichter. Pasang schlug vor, nicht weiter als bis zu den Felsen von Yabuk ( 13 500 Fuss ) zu gehen, wo wir gegen 1 Uhr anlangten. Hier fanden wir nämlich eine Menge Brennholz, während es am nächstmöglichen Campplatz keines gab. Das bekannte Basecamp zu erreichen wäre am gleichen Tage nicht mehr möglich gewesen, da wir für den beschwerlichen Weg viel zu viel Zeit verbraucht hatten. Und wir waren nicht akklimatisiert genug, unser Tempo zu beschleunigen. So stellten wir unsere Zelte im Schatten der mächtigen Felsen auf. Es war sehr kalt geworden, und wir sassen in unsern wärmsten Kleidern schlotternd in unseren Zelten und schlürften heissen Tee. Der Druck im Kopfe verschwand allmählich. Das Überklettern der rauhen Felsen, die konstante Nässe der letzten Tage hatte unseren Bergschuhen sehr mitgespielt. Mit Hilfe unserer Führer reparierten wir sie so gut als möglich. Die Kulis kauerten um ein wärmendes Feuer neben Thundus « Küche ». Voll angezogen, mit Handschuhen undwollenen Zipfelmützen krochen wir in die Schlafsäcke und schrieben die Tagebücher nach.

Eine unsagbare Ruhe herrschte, nur unterbrochen vom dumpfen Rollen der Steine, die der Zemu Chu mit sich riss.

13. Oktober. Nach einem raschen Frühstück rückten wir gegen den Zemugletscher vor, der mit prächtigem Weiss in der aus den Wolken hervorbrechenden Morgensonne leuchtete. Wir kamen ausgezeichnet vorwärts, den Kulis weit voraus über die unendlichen Steinmassen der Moräne kletternd. Nach einigen Stunden sehr rauhen Gehens, auf dem wir immer den besten und leichtesten Weg für unsere Träger markierten, öffnete sich das Tal langsam zwischen den Bergen und dem Gletscher. Ein heftiger Wind sauste über die Moräne; von Süden her stiess eine Wolkenwand und umhüllte uns wie ein kaltes zerfetztes Tuch. Um halb 12 Uhr erreichten wir das sogenannte Basecamp ( 14 550 Fuss ), welches während Monaten von verschiedenen berühmten Expeditionen, die die Eroberung des Kanchenjunga versuchten, benützt worden war. Einige rostige Petrolkannen, Konservenbüchsen und ein paar halbvermoderte zerrissene Bergschuhe waren die einzigen Zeugen dieser einst für kurze Zeit vorgedrungenen Zivilisation. Stehend assen wir unsere Sand- wiches und beobachteten die sich nähernden Kulis. Wir fühlten uns gut und beschlossen, trotz des beginnenden Schneefalles weiter vorzudringen. Rasch entwickelte sich der Schneefall zum Sturm. Der Wind peitschte eisige Schneeflocken wie Nadeln in unsere Gesichter. Pasang war voraus mit all den Kulis. Plötzlich waren ihre Spuren nicht mehr erkennbar — verweht und verschneit. Mit Hilfe von Phillips ausgezeichnetem Marinekompass arbeiteten wir uns langsam vorwärts durch diese grauweisse Wüste. Die Höhe machte sich wieder bemerkbares war, als ob mit jedem Schritt, den wir vorrückten, jemand uns mit einem Hammer auf den Hinterkopf schlagen würde. Aber trotz des grausigen Wetters und des Hämmerns waren wir begeistert und voll Freude und Begierde, vorwärtszukommen. Langsam, tiefgebückt, um so gut wie möglich dem Schneesturm zu trotzen, mit dem der Kanchenjunga uns willkommen hiess, strebten wir an der Seite des ungeheuren Zemugletschers auf der Ebene vorwärts. Die Steigung war sehr schwach — aber der « Hammer » war da, regelmässig und unerbittlich. Nach 3 Uhr bemerkten wir durch den Schnee an der rechten Talseite Rauch. Wir hatten unser Tagesziel, das Marco-Pallis-Camp ( 15 750 Fuss ), erreicht. Unsere Kulis hatten die Zelte schon errichtet. Feuer brannten, ein guter Vorrat von Brennholz, bestehend aus verkrüppelten Rhododendronbüschen und Wurzeln, war gesammelt. Es herrschte bittere Kälte, und jede Bewegung, die wir machten, war anstrengend. Mit Ausnahme der Kopfschmerzen fühlten wir uns gut, und keiner von uns hatte das geringste Zeichen von Bergkrankheit. Nach 4 Uhr hörte es auf zu schneien. Nebel und Wolken hoben sich rasch, und die Sonne brach durch. Gegenüber unserem Camp, auf der andern Seite des Gletschers, erhob sich der Siniolchu ( 22 597 Fuss ), eine Spitze schillernd in starrem, kaltem Eis. Nebelschwaden jagten über die unheimlich blaugrünen Eismassen hinauf in den Himmel und zerflossen in nichts. Neben dem Camp gurgelte ein kleiner Bach, wo wir unser Wasser holten, indem wir mit einem Pickel die Eisdecke einschlugen. Ein ins Tal vorstossender Hang bildete für uns einen ausgezeichneten Windschatten. Alles war mit einer Schicht blend-dend weissen Schnees bedeckt.

Bevor wir das Marco-Pallis-Camp erreicht hatten, hatte Pasang alle Kulis zum Gebet versammelt, das er als Lama leitete. Kanchenjunga ist ein heiliger Berg für die Buddhisten, und wer sich in seinen Bereich begibt, fällt bei den Göttern in Ungnade.Vereint sandten unsere Leute deshalb ihre Gebete gegen den Kanchenjunga, dass er sie und ihre Familien nicht be-strafe für die Nichtbeachtung seiner Gesetze, dass sie nur auf Befehl der weissen Sahibs hieher vorgedrungen seien, um Geld zum Unterhalt der Ihrigen zu verdienen. Rasch und mit scheuen, ernsten Gesichtern entfernten sie sich, als wir uns näherten. Die Berge machten auch auf uns einen unbeschreiblichen Eindruck. Wir fühlten uns Gott näher inmitten dieser flutenden Brandung wilder, teilweise noch nie erklommener Gipfel. Mit den Kulis zusammen sassen wir dann um ein mächtiges Feuer, stumm und ergriffen von der unsagbaren Ruhe, die uns umgab. Es war erstaunlich, wie sich die Luft verdünnt hatte. Zigaretten und Pfeifen erloschen fortwährend aus Mangel an Sauerstoff.

Hoch oben am Siniolchu spielten die letzten Strahlen der Sonne an den frisch gebrochenen Eisbrüehen. Stahlblaue Schattentücher senkten sich leise über den verklingenden Abendhimmel. Dann kam die lange Nacht.

14. Oktober. Es hatte wieder geschneit, aber ein eisiger Wind verjagte am Morgen die Wolkenmassen über die Grate. Die ersten glitzernden Strahlen der Morgensonne erreichten den Simvo ( 22 346 Fuss ), den Siniolchu und bemalten die Eiswände mit prächtigem Orange. Zusammen mit Pasang, Sarki und einem der besten Kulis begannen wir den Anstieg zum Greenlake, unserem Hauptreiseziele. Drei Kulis wurden vorher zurückgeschickt nach Lachen, Chungtang, um von dort aus für unsere Ankunft in einer Woche einen tüchtigen Holzvorrat nach Mome Sandong am Ende des Lachungtales hinaufzuschleppen, da Brennmaterial dort oben nicht vorhanden war. Die übrigen Kulis blieben im Camp zurück und sammelten Wurzeln und Gestrüpp -für unsere Feuer. Der Boden war fest gefroren., Langsam und regelmässig, immer nach ein paar hundert Schritten zum Verschnaufen stehenbleibend, zogen wir vorwärts. Watson und Phillips klagten über heftige Kopfschmerzen und blieben etwas zurück, während wir andern so rasch es irgendwie ging, gegen Greenlake vorstiessen, um den im Laufe des Tages unvermeidlich erscheinenden Wolken vorzukommen. Wir waren glücklich und begeistert — aber der « Hammer » mahnte auch uns und wirkte als Bremse. Die Sonne schien heiss und schmolz den gestrigen Schnee ziemlich rasch weg, einen wundervollen Teppich von Hunderttausenden von Edelweiss und grossen, tiefblauen Enzianen enthüllend. Um 11 Uhr erreichten wir Greenlake ( 16 200 Fuss ). Die Kopfschmerzen waren rasch vergessen bei dem grandiosen Anblick, der sich uns bot. Siniolchu, Simvo, Dome, Kabru, Pyramid Peak und Johnson Peak umsäumten den majestätischen Kanchenjunga ( 28 148 Fuss ).

Getaucht in Todesstille, in glitzerndem, starrem Frost ragt Gipfel neben Gipfel hoch in das tiefblaue Gewölbe des Himmels — Berge, viele davon unberührt, ihr ewiger Schnee nie betreten, ihr blaues, hartes, schillerndes Eis nie angehackt von Eispickeln, ihre Felsen nie angeritzt von Bergschuhen — ein herrliches Panorama riesiger Urkraft und urmächtiger Wildheit, so weit das Auge reichtWir standen da, stumm, still und bescheiden vor dieser Offenbarung der Natur und verstanden die Ehrfurcht und den Glauben der Eingeborenen, dass die Berge des Kanchenjunga unberührbar und heilig seien. Der berühmte Himalaya-Bergsteiger F. S. Smythe schreibt in einem seiner zahlreichen Bücher: « Den Kanchenjunga mit den Alpen zu vergleichen ist, wie wenn man einen Riesen einem Zwerge gegenüberstellte. Man nennt die Alpen den Spielplatz Europas — die Himalayas aber den Spielplatz der Götter. Sie zeigen keine Freundlichkeit; in ihrer Mitte fühlt man Abweisung, Kälte, Unerbittlichkeit und Feindschaft. Die Nähe von Lebewesen ist ihnen unerwünscht. » Lange Zeit sprach keiner von uns ein Wort.

Nach einer längeren Rast kletterten wir über die mächtigen auf dem Gletscher Hegenden Felsen in der Richtung zum Grab von Schaller, eines Mitglieds der deutschen Expedition unter Dr. Baur, der beim erfolglosen Angriff auf den Kanchenjunga abstürzte. Wir kamen jedoch nicht weit.

Keuchend gaben wir es auf, als wir etwa die Höhe von 16 500 Fuss erreicht hatten. Die grossen Expeditionen waren zur Akklimatisation über eine Woche im Basecamp und Marco-Pallis-Camp geblieben vor dem weiteren Vordringen in diese märchenhafte Wüste von Eis und Fels. Wir studierten unsere Karten und verfolgten die Wege, die sie gegangen, und die Gipfel, die sie erobert hatten. Es ist unglaublich, was von einigen vollbracht worden ist, wenn man die grosse Höhe in Betracht zieht.

Nach Stunden waren wir wieder zurück bei den Zelten, glücklich und stolz, dass es uns vergönnt gewesen, unser Ziel zu erreichen und diesen Tag der Erfüllung zu erleben. Viele werden dieses Gefühl von Stolz und Dankbarkeit nie verstehen, diesen unwiderstehlichen Ruf der Berge, diesen Drang, mit ihnen zu sein, der den nie loslassen wird, solange er lebt, dessen Seele einmal von ihm gepackt worden ist.

Unsere Reise war bis jetzt wie am Schnürchen verlaufen. Wohl hatten wir noch einen langen und anstrengenden Weg vor uns, aber täglich gewöhnten wir uns besser an die Höhe, was unser Vordringen erleichterte. Auch unsere Kulis hätten nicht besser gewählt werden können, und ich wusste, dass wir in Pasang einen ausgezeichneten und zuverlässigen Führer hatten. In Handschuhen schrieben wir mit steifen Fingern unsere Tagebücher, während draussen der fallende Schnee unsere Spuren zudeckte. Unsere Zelte sahen bald aus wie einige verschneite Felsen.

15. Oktober. Wir brachen unser Lager ab und kehrten in mühsamem Abstieg nach Yabuk zurück. Am späten Abend kam Capt. Langdon Smith, ein bekannter englischer Bergsteiger, in unserem Camp an, mit einem Sherpa und sechs Kulis. Sein Ziel war, vom Greenlake aus einige kleinere Besteigungen zu versuchen. Er war ein sehr netter und angenehmer junger Mann, und wir wünschten ihm am nächsten Morgen nach gemeinsamem Frühstück viel Glück für sein Unternehmen. Monate später erfuhr ich vom Himalayan Club, dass nach unserem Zusammentreffen nie mehr eine Spur von ihm und seiner Partie gesehen wurde. Acht Monate später fand eine Suchexpedition des Clubs einen seiner Kulis erfroren unter einem Felsen. Die übrigen blieben bis heute verschollen, Opfer des Kanchen-jungas.

In grosser Kälte, aber bei prächtigem Wetter, verliessen wir um 6 Uhr Yabuk. Wir hatten den Plan, den Marsch direkt nach Lachen zu versuchen, um so einen Ruhetag herauszubringen, ohne ein Tagespensum in unserem Programm zu verlieren. Wieder ging 's durch die Rhododendrondickichte, jedoch konnten wir unserem Aufstiegspfad, der durch die Partie von Captain Langdon Smith noch verbessert worden war, folgen. Die steigende Sonne schmolz den Schnee rasch und formte schmale Bäche, Seelein und Unmengen von kniehohem Dreck. Ca. um 11 Uhr erreichten wir Yaktang, wo wir während des Aufstieges übernachtet hatten. Weiter unten rasteten wir bei einer Jakhütte für unser Mittagessen. Einige Tibetaner hüteten dort eine grosse Herde Jaks und offerierten uns Jakmilch. Sie ist ganz gut, enthält aber bedeutend mehr Fett als die Kuhmilch und hat einen Geruch, als ob sie leicht angebrannt wäre.

Es wurde wärmer und wärmer. Wir entledigten uns allmählich unserer Handschuhe, Kappen und Pullover. Hinunter ging 's — ununterbrochen — erst durch prächtige Tannen, dann durch dichten Wald voll schwer durchdringlichen Dickichts, wo die Sonne nur selten durchkommt. Verfaultes Holz und Laub, eine dichte, weiche Masse bildend, die rauhe Steine und Löcher überdeckte, erforderte vorsichtiges Auftreten und Achtsamkeit bei jedem Schritt. Über unzählige Bäche ging 's, von Stein zu Stein springend, was speziell für die Kulis mit ihren Lasten sehr ermüdend war. Oft fiel einer hin; aber trotz allem waren sie guten Mutes und benützten jede Gelegenheit, um ihre Ungeschicklichkeit gegenseitig zu belachen. Über die Llonak-Chu-Brücke ging 's in raschem Tempo und diesmal ohne Zeitverlust — und weiter abwärts — durch verborgene Brennesseln in dichtem Untergebüsch. Die Natur leistet hier einen verzweifelten Widerstand, um keine Lebewesen in die verbotenen Regionen des Kanchenjungas durchzulassen.

( Schluss folgt )

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