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Dreimal Cilgia

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Von Gustav Mohr

Cilgia Premont, die Heldin in C. Heers berühmtem Roman « Der König der Bernina », hatte mich schon seit langem in Bann genommen. Endlich sah ich das Ziel meiner Sehnsucht vor mir: ich wohnte im hochgelegenen Pontresina, konnte nach Herzenslust in den blumenreichen Hochtälern umherschweifen und Cilgia Premont in ihrer Heimat suchen. Von zu Hause hatte ich mir den « König der Bernina » mitgebracht und las das vertraute, liebe Buch wieder. Mit des Dichters Augen sah ich die Wunder des schönen Engadins, und gar bald wurde der Geist der Cilgia Premont in mir lebendig, und ich beschloss, einmal über den Berninapass zu gehen, hinab nach Poschiavo, allwo diese einzige Frau einst gewohnt, wo des Dichters Seele sie erschaut hatte.

Entzückend bunte Bergblumen standen am Wege und neigten sich winkend in der herben Höhenluft. Begeistert dankte ich den schwefelgelben Anemonen, den grossen weissen Alpenlilien, den tiefblauen Gentianen, den roten Primeln für ihren Gruss.

Jenseits des Passes führte der Pfad rasch abwärts, und im Puschlav lag heisse Sonne über der fruchtbaren Talaue. Mit lautem Rauschen floss der Poschiavino südlich, den Bergamasker Alpen zu.

Über eine feste Brücke aus Stein trat ich ins Städtchen Poschiavo ein. Eine fremdländische Welt umgab mich. Die Häuser mit ihren wenigen Fenstern hatten einen merkwürdig verschlossenen, unzugänglichen Charakter. Ein stattliches Gebäude besass eine offene Laube im ersten Stockwerk. Prachtvolle, glutrote Nelken hingen zwischen den kunstvollen Gittern und grüssten tief herab. Wahrhaftig, da konnte Cilgia Premont gelebt haben, und von der Veranda hatte ihr Kind dem Markus Paltram zugewinkt, als er den erlegten Bären ins Städtchen brachte.

Am alten Markte ragte der romanische Campanile von St. Viktor hinauf in den blauen Himmel. Daneben stand unter steilem, gotischem Dach das Kirchenschiff. Ich trat in die kühlen Hallen ein. Schaffensfrohe, tief innerliche gotische Menschen hatten dem Inhalt ihres Glaubenslebens in kostbaren, vergoldeten Schnitzaltären Ausdruck und Form gegeben.

Ich setzte mich still auf eine Bank, liess andächtig den Geist des Ortes auf mich wirken und gedachte der Cilgia Premont. Es wunderte mich keineswegs, dass ich plötzlich ihre hohe, königliche Gestalt zu sehen meinte, wie sie zum Hochaltar schritt, das Knie beugte und sich bekreuzigte.

Ich bin lange in der Kirche geblieben. Es war so still und heimelig darin. Dann schritt ich zur Südtüre hinaus und stand ganz überrascht vor einem alten Beinhause, in dem auf langen Regalen Totenschädel neben Totenschädel gestapelt waren. Es war ergreifend, diese Zeichen vergangenen Lebens zu sehen. Da konnte, nein, da musste Cilgia Premont darunter sein! Tot also auch sie, ihre prachtvolle Menschlichkeit vergangen und doch weiter lebend; durch des Dichters Genius zu neuem, zu dauerndem Sein wieder erwacht.

Ernster Gedanken voll ging ich wieder zurück über den tosenden Poschiavino. In einem kleinen Albergo machte ich Rast. Während ich mein Mittagsmahl aus dem Rucksack bestritt, gesellte sich mir ein kleines, dreijähriges Mädchen zu und beobachtete aufmerksam, wie der Forestiere ass. Ich gab der Kleinen ein Stück Gebäck und forderte sie auf, « Grazie » zu sagen. Das Maidli antwortete aber auf Schwyzerdütsch: « Danke beschtens! » Damit war natürlich eine reizende Unterhaltung eingeleitet; wir plauderten vergnügt, und weil mir das Wesen der Kleinen gefiel, frag ich sie: « Wie heissischt, Maidli? » « I bi d'Cilgi! » Cilgia! Rediviva! wieder zum Leben erwacht ?! Ich schwieg zuerst, etwas benommen von diesem merkwürdigen Zusammentreffen. Dann musste ich natürlich dem Kinde eine besondere Freude bereiten: « Hescht es Schpartöpfli, Cilgi? » « Jo. » Und schon konnte ich das Kinder-herz mit einer klingenden Gabe beglücken. Da grüsste mich der Geist der Cilgia Premont, und ich vernahm mit Entzücken: « Bisch guet, i gib Dir mis Ringli. » Schon hatte Klein-cilgia ein buntfarbiges Fädchen von ihrer Hand gestreift und versuchte, es mir auf den leider zu grossen Finger zu schieben. « Seh'geht nimmi! » Mit einem leisen Seufzer gab sie ihr vergebliches Bemühen auf. Unbefangen verzehrte das Mädchen sein Gebäck und liess mir Zeit, das wunderfeine Idyll, das es mir eben beschert hatte, recht zu geniessen.

Als ich dann im Zuge sass, auf die Abfahrt wartete und dem entzückenden Erlebnis nachsann, da flatterte plötzlich ein kleines rotes Röckchen heran. Kleincilgia grüsste ihren neugewonnenen Freund und winkte mit einem weissen Tüchlein. Ich grüsste wieder, bis der Zug um eine Ecke bog und das Idyll meinen Augen entschwand. Zweimal Cilgia, die im Beinhaus und ihr wieder lebendig gewordenes Wesen, die Werdende, die Kommende!

Als ich dann am nächsten Tage oben auf den Matten der Muottas Muragl stand, zwischen Tausenden von köstlichen Alpenblumen, da sah ich mit Giovanni Segantinis Augen hinab in das wundervolle Oberengadin mit seinen Seen, seinen Dörfern und Städtchen, von Samaden über St. Moritz bis hinauf nach Maloja, wo es hinabgeht zum Bergell, nach Chiavenna und zum Lago di Corno. Von Südosten her strahlten in reinem Weiss die Eisgipfel des Bernina, von denen einst Markus Paltram seiner Cilgia Premont das oberste Firnenlicht herabholen wollte. Über dem allem wölbte sich der tiefe, unwahrscheinlich blaue Engadiner Sommerhimmel.

Da erschien mir Cilgia zum dritten Male; sie kam gleich einer wunderschönen Fee über die Matten daher und rührte meine Seele an. Da horchte ich still in mich hinein, und aus der Begeisterung über die Schönheit des Engadins klang der Widerhall daraus hervor:

Du herrliches Land voll Stille und Grösse!

In dir wird Schönheit geboren, täglich von neuem seit Ewigkeiten. Du weckest die Sehnsucht und spiegelst dich in unserer Seele, auf dass in uns das Glück erfülle das Leben!

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