Ein Bergdorf wird von der Umwelt abgeschnitten - Der Winter 1950/51 in Bosco-Gurin | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Ein Bergdorf wird von der Umwelt abgeschnitten - Der Winter 1950/51 in Bosco-Gurin

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

wird von der Umwelt abgeschnitten

der Winter 1950/51 in Bosco-Gurin

Von Adriana Janner und J. C. Thams

der Winter 1950/51 in Bosco-Gurin Mit 1 SkizzeLocarno-Monti ) Der Winter 1950/51 wird noch lange im Gedächtnis unserer Bergbevölkerung bleiben. Hunderte von Lawinen sind nord- und südwärts der Alpen zu Tal gefahren und haben viele Opfer an Menschen gefordert und Schäden an Hab und Gut verursacht, die in die Millionen von Franken gehen. Es wird manche Jahre brauchen, bis auch nur die grössten Wunden geheilt sein werden. Man hat mit Recht von einem Landesunglück gesprochen. Das ganze Schweizervolk hat seine Solidarität mit der Bergbevölkerung bekundet und durch eine grosse Sammlung mitgeholfen, die ärgsten Schäden zu beheben, wohl wissend, dass die schwersten Verluste überhaupt nicht durch Geld ersetzt werden können.

Die Leser dieser Zeitschrift sind durch zahlreiche Berichte in der Presse über die einzelnen Lawinenkatastrophen nord- und südwärts der Alpen orientiert worden. Es kann sich hier nicht darum handeln, auf diese Kette von Unglücksfällen zurückzukommen. Aber es mag von Interesse sein, einmal zu untersuchen, wie ein solcher schneereicher Winter in einem kleinen, abseits " gelegenen Bergdorf auf der Alpensüdseite ausgesehen hat.

Wir wählen das kleine Dörfchen Bosco-Gurin. Bosco-Gurin hat in unserem Lande einen besonderen Klang, ist es doch die einzige Siedlung im Tessin, in der Deutsch gesprochen wird. Bosco-Gurin ist eine alte Walser Siedlung. Die Einwanderung der Walser soll vom Oberwallis her etwa um die Wende des 12. auf das 13. Jahrhundert erfolgt sein. Es ist höchst erstaunlich, dass die Bewohner von Bosco-Gurin, umgeben von Italienisch sprechender Bevölkerung und seit vielen Jahrzehnten an das grosse Verkehrsnetz angeschlossen, bis heute an ihrer angestammten Sprache festgehalten haben und sie zäh zu verteidigen wissen.

Bosco-Gurin liegt in einem Seitental der Maggia auf 1506 m ü. M. Die einzige Zufahrtstrasse ist diejenige von Cevio ( 426 m. ü M. ); in zahlreichen Kehren wird bis Cerentino ( 978 m ü. M. ) eine Höhendifferenz von mehr als 500 Metern überwunden. Dort gabelt sich das Tal; links geht es in das Valle di Campo, rechts in das Valle di Bosco weitere 500 m hinauf. Das Tal ist von mächtigen Berghängen flankiert, die 2500 m übersteigen und die in schneereichen Wintern sehr lawinengefährlich sind.

Über das Klima dieses abseits gelegenen Bergdorfes ist noch keine zusammenfassende Darstellung erschienen; seine meteorologischen Verhältnisse beanspruchen aber insofern ein besonderes Interesse, als Bosco-Gurin auf Grund seiner Lage mehr als 11 Wochen überhaupt von keinem Sonnenstrahl getroffen wird. Der Horizont ist so stark überhöht, dass die winterlichen Sonnenbahnen unterhalb der Bergketten bleiben. Der Initiative des Bosco-Guriners W. Sartori ist es zu verdanken, dass im Jahre 1931 eine einfache meteorologische Station eingerichtet wurde; nach seinem Tode wurde sie von A. Della Pietra, dem Gemeindepräsidenten von Bosco-Gurin, übernommen, der vor allem systematische Messungen der Neuschneemenge und der Schneedeckenhöhe durchführte. Leider werden Messungen der Schnee-deckenhöhen an unseren Gebirgsstationen immer noch viel zu wenig gemacht, und doch liegt ihre Bedeutung, wie es besonders wieder dieser Winter gezeigt hat, klar auf der Hand.

Beginnen wir unsere Betrachtungen über Bosco-Gurin mit einer kurzen Schilderung der meteorologischen Verhältnisse im Winter 1950/51. Im Unterland versteht man unter einem strengen Winter im allgemeinen einen solchen mit Temperaturen weit unter null Grad und zugefrorenen Seen; der Bergbewohner richtet sein Augenmerk mehr auf die Schneeverhältnisse. Was die Temperatur anbetrifft, so war der vergangene Winter auf der Alpensüdseite im ganzen recht milde, die mittleren Monatstemperaturen lagen auch in den Gebirgsregionen über dem langjährigen Durchschnitt oder wichen doch nur nur wenig von ihm ab. Auch die tiefste Temperatur sank in Bosco-Gurin kaum unter -10 Grad. Im März, April und Mai liegen die Monatsmittel der Temperatur etwas unter dem Regelwert. Die Bewölkungsmenge war allerdings viel zu gross; die Armut an Sonnenschein erstreckte sich noch weit in den Frühling hinein und verzögerte den Abbau der Schneedecke erheblich. Ganz aussergewöhnlich sind jedoch die Niederschlagsverhältnisse.Vom November bis in den März hinein war in Bosco-Gurin fast jeder andere Tag ein Tag mit Schneefall. Vom November 1950 bis Mai 1951 fielen in Bosco-Gurin nahezu 14 Meter Neuschnee. Selbst Achtzigjährige in Bosco-Gurin können sich nicht an einen Winter mit solch ungeheuren Schneemassen erinnern. Im Februar wurden an einigen Orten des Tessins Niederschlagsmengen registriert, die das Fünffache der normalen Menge darstellen und seit Beginn der meteorologischen Messungen noch nie verzeichnet wurden.

Wir können hier auf die Wetterentwicklung im einzelnen nicht eingehen, so interessant das auch wäre. Derartige Untersuchungen gehen mehr den Fachmeteorologen an. Aber es verlohnt sich, die Entwicklung der Schneeverhältnisse in Bosco-Gurin während des vergangenen Winters anhand eines Diagramms etwas genauer zu verfolgen.

Der Aufbau der Schneedecke begann bereits anfangs November. An 14 Tagen fiel Schnee, und am 25. November erreichte die Schneedecke in einem steilen Anstieg 1,38 m. Neue, kräftige Schneefälle setzten dann am 7. und B. Dezember ein; es schneite an 15 Tagen, und gegen Ende Dezember betrug die Schneedeckenhöhe 1,75 m. Auch der Januar brachte in vielen kräftigen Schüben einen EIN BERGDORF WIRD VON DER UMWELT ABGESCHNITTEN CM 400 A- erheblichen Zuwachs; Ende Januar wurden 2%müberschritten. Geradezu katastrophal gestalteten sich dann die i VerhältnisseimFebruar. Vom 4. Februar bis zum 16. Februar fielen mit einem Unterbruch von, zwei Tagen 372 cm Schnee. Allein am Morgen des 12. Februar wurden 85 cm Neuschnee gemessen. Der höchste Stand der Schneedecke wurde am 16. Februar mit 4,30 m notiert. Der Februar war auf der Alpensüd- 300

rit

Die Höhe des Neuschnees und der Schneedecke in Bosco-Gurin im Winter 1950/51 seite der lawinenreichste und führte in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar zu den schweren Lawinenkatastrophen von Frasco und Airolo. Aber auch im März und April traten noch etliche kräftige Schneefälle auf. Erst am 16. April sank die Schneedeckenhöhe unter die 3-Meter-Grenze. Dann trat eine rasche Setzung der Schneedecke ein. Ende April fielen jedoch noch einmal 103 cm Neuschnee und die Schneedeckenhöhe schnellte wieder auf 3,16 m hinauf. Dann erfolgte jedoch eine sehr schnelle Senkung, nicht zuletzt durch die kräftigen Regenfälle im Mai. Am 8. Juni war die meteorologische Station in Bosco-Gurin schneefrei, jedoch noch nicht der ganze Ort. Die Andauer der Schneedecke betrug also 218 Tage oder rund 7 Monate; was das für die Bevölkerung und ihr Gewerbe zu bedeuten hat, werden wir nun erörtern. Bosco-Gurin zählt gegenwärtig 188 Seelen. Wie in den meisten Bergdörfern war auch hier die Abwanderung beträchtlich; im Jahre 1850 hatte Bosco-Gurin noch 382 Einwohner. Der grösste Teil findet seine Beschäftigung in der Landwirtschaft ( Alpwirtschaftdoch sind in ihr mehr Frauen als Männer tätig, letztere gehen einem Handwerk nach, oft ausserhalb ihres Wohnortes. Trotz der grossen Schneemengen ging die Versorgung von Bosco-Gurin bis zum 10. Februar, von einigen Unterbrüchen abgesehen, ziemlich normal vor sich. Mit den kräftigen Schneefällen jedoch, die am 10. Februar erneut einsetzten, änderte sich die Situation. Auf der Strecke Bosco-Gurin-Cerentino gingen an die zehn Lawinen, voll von Schutt, Steinen und Holz, hernieder und blockierten die Strasse vollkommen. Bosco-Gurin war von der Umwelt abgeschnitten. Da auch die Telephonleitung zerstört war, war man lange im Ungewissen, was aus der Bevölkerung in diesem abgelegenen Bergtal geworden sei. Für die Bosco-Guriner war das Radio die einzige, wenn auch sehr einseitige Verbindung mit der Aussenwelt; auf diesem Wege erfuhren sie von den furcht- baren Katastrophen in Frasco und Airolo. Am 11. Februar brach nachmittags um 15.30 Uhr die das Dorf bedrohende Lawine von der Roten Balm herunter, nachdem es in der Nacht zuvor ununterbrochen geschneit hatte; die Schneedecke betrug im Dorf 3,30 m. Die Lawine teilte sich bei Tschiochna, ein Teil fuhr in Richtung Heingart, der andere nach Pezza zu Tal, wo durch den Luftdruck das Dach eines Hauses verschoben wurde. Sonst wurden im Dorf selber an Wohnhäusern keine Verwüstungen angerichtet, doch wurden viele Ställe in und ausserhalb des Dorfes zerstört, im ganzen 18. Die Lawine von Ferder stürzte kurz nachher zu Tal. Das Wetter war an diesem Tage geradezu unheimlich. Der Himmel war mit schweren Wolken bedeckt, es setzte dichter Nebel ein, zudem trat noch ein Gewitter auf. Es wurde dunkler und dunkler In den folgenden Tagen kam immer mehr Schnee vom Himmel herunter. Am 12. wurden 85, am 13. Februar 65 cm Neuschnee gemessen und die Schneedecke erreichte ihre maximale Höhe mit 4,30 m. Mit Bangen fragte man sich, ob Bosco-Gurin ein ähnliches Schicksal wie Airolo und Frasco zu erwarten habe. Am 13. Februar gelang es dann einem Piloten, mit seinem Flugzeug bis nach Bosco-Gurin vorzudringen und die erste Kunde zu bringen, dass das Dorf unversehrt sei. Nachdem das Wetter sich dann gebessert hatte, erfolgten während fünf Tagen weitere Flüge, oft sogar mehrere am gleichen Tage. Die Flugzeuge kamen aus Lodrino und Dübendorf und warfen neben Lebensmitteln vor allem Medikamente ab, die durch die persönliche Initiative des Arztes in Cevio für eine krebskranke und eine schwangere Frau bestimmt waren. Auch die Postsendungen, die in Cevio lagerten, wurden durch Flugzeuge abgeworfen, nachdem sie vorher nach Lodrino transportiert worden waren. Ohne Verbindung mit Cevio war Bosco-Gurin vom 10.18. Februar. Am 18. Februar wurde dann in drei Stunden von 22 Gurinern ein schmaler Fussweg bis nach Cerentino gebahnt, damit man die schwangere Frau nach Cevio führen konnte. Dieser schmale Fussweg war bis Ende Februar die einzige Verbindung mit den unteren Tälern. Ende Februar wurde dann dieser Weg auf Antrag der Gemeinde durch den Kanton verbreitert, da man einen Teil des Viehs zu Tal transportieren musste, sei es zur Überwinterung, sei es zum Verkauf. Erst im Mai wurde die Strasse mit Hilfe von Baggern ganz freigemacht und Ende Mai für den Verkehr freigegeben.

Ein abgelegenes Bergdorf wie Bosco-Gurin ist in einem solchen Winter mehr denn je eine Schicksalsgemeinschaft. Auf den Schultern der Gemeindeverwaltung lag eine grosse Verantwortung. Nachdem die Strasse Bosco-Gurin-Cerentino durch die grossen Schnee- und Schuttlawinen blockiert war, konnte man an eine Evakuierung überhaupt nicht denken. Man musste daher im Dorfe selber alle die Massnahmen ergreifen, die eine möglichst grosse Sicherheit für Mensch und Vieh versprachen. Der untere Teil des Dorfes wurde am 11. Februar geräumt; 9 Familien, im ganzen 36 Personen, wurden während einer Woche in dem weniger gefährdeten Teil des Ortes untergebracht. Auch der grösste Teil des Viehs, etwa 80 Kühe und 40 Ziegen und Schafe, wurden aus den gefährdeten in sichere Ställe geführt. Die männliche Jugend im Dorf selber nahm spontan alle notwendigen Arbeiten in Angriff. Die Dächer wurden von den grossen Schneelasten befreit, die Stromleitung freigelegt, und von Haus zu Haus wurden Wege gebahnt. Wohl die grösste Arbeit stellten die Öff- nung eines Weges bis nach Cerentino dar und der Transport von Lebensmitteln und Futter. Die Frauen und Mädchen von Bosco-Gurin haben in dem vergangenen Winter, während die Männer mit Räumungsarbeiten beschäftigt waren, 23 Doppelzentner Brotgetreide, 70 Doppelzentner Lebensmittel und 52 Doppelzentner Futter auf ihren Rücken von Cerentino nach Bosco-Gurin getragen. Von Cerentino nach Bosco-Gurin sind es 6 km, die Höhendifferenz beträgt mehr als 500 m. Diese Art der Versorgung dauerte bis Ende Mai an.

Obgleich Bosco-Gurin insofern vom Glück begünstigt war, als keine Todesopfer zu beklagen waren und keine Wohnstätten zerstört wurden, sind die wirtschaftlichen Folgen eines solchen Winters für eine solch kleine Dorfgemeinschaft doch recht fühlbar Anfangs April mussten 18% der Kühe verkauft werden, da Mangel an Futter herrschte und keine Möglichkeit bestand, solches zu beschaffen. Auch konnte man voraussehen, dass die Weiden erst Ende Juni ausgenützt werden konnten und dass mit einer zweiten Heuernte kaum zu rechnen war; die Gemeinde allein musste 120 Doppelzentner Heu einkaufen, von privater Seite wurden weitere 55 Doppelzentner Kraftfutter erworben. Viele Ställe sind zerstört worden. Statt Anfang Juli konnten erst anfangs August die Alpen bestossen werden. Zudem sind beträchtliche Schäden an Waldungen entstanden.

So bedeutend alle diese Schäden sind, so sehr sind sich die Bürger von Bosco-Gurin bewusst, wie gut sie in diesem Winter davongekommen sind. Der weisse Tod hat in diesem Bergdorf schon viele Opfer gefordert. Im Februar 1695 wurde Bosco-Gurin durch eine Lawine fast vollständig zerstört; 34 Opfer waren zu beklagen. 54 Jahre später, 1749, wiederum im Februar, wurde das neuaufgebaute Dörfchen zum zweiten Male zerstört; die Lawine begrub 41 Menschenleben unter sich; die letzte Leiche konnte erst am 18. Mai aufgefunden werden. Auch am 15. Februar 1925 wurde Bosco-Gurin von einer Lawine heimgesucht, die 30 Ställe zerstörte, Vieh verschüttete, aber keine Menschenleben forderte. Man sieht, wie gefährdet dieser Ort ist.

So treten viele Probleme für die Zukunft auf. Nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass es sehr lange dauern muss, bis wieder ein solch schneereicher Winter auftritt. Hier geht es jedoch um Aufgaben, die ein einzelnes Dorf nicht allein meistern kann; sie müssen im Rahmen einer grösseren Organisation gelöst werden.

Der Blick wendet sich jedoch auch zurück in frühere Zeiten, in denen all die modernen technischen Einrichtungen, wie Flugzeuge, Autos, Telephon, Radio, elektrisches Licht, Strassenräumungsmaschinen usw. nicht existierten. Auch da hat sich unsere Bergbevölkerung tapfer zu helfen gewusst, in mancher Hinsicht vielleicht sogar besser als heute, waren doch diese abgelegenen Bergdörfer in vielem sich selbst genügende, unabhängige Wirtschaftsgebilde. Es ist ohne Zweifel ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass heute durch die moderne Technik Hilfen möglich sind, die es früher nicht gab; aber es ist wohl auch gut, sich deren Grenzen bewusst zu sein.

Zum Schlüsse möchten wir Herrn Gemeindepräsidenten A. Della Pietra für die vielen Auskünfte danken, die er uns gegeben hat. Sie bildeten die Grundlage für unsere kleine Darstellung der winterlichen Verhältnisse in Bosco-Gurin 1950/51.

Feedback