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Ein neuer Weg auf das Kleine Gelmerhorn

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Mit 1 Bild ( 16Von Hermann Wäffler

( Zürich ) In der Kette der schroffen Granitzacken, welche das Diechtertal im Westen begrenzen, ist ein Gipfel für den Kletterer vor allen andern ausgezeichnet. Es ist dies das Kleine Gelmerhorn ( 2602 m ). Hier findet er nämlich alles, was er zum Glücke eines wolkenlosen Sommertages braucht: rauhen, zuverlässigen Fels, schwindelnde Ausgesetztheit und den weiten, freien Blick über die Täler hinweg in die Ferne.

Eine Überschreitung der beiden Gelmerhörner, des Kleinen und des Grossen, ist wohl die lohnendste Fahrt von der Gelmerhütte aus. Sie hatte jedoch den Schönheitsfehler, dass sie sich nur in der Richtung vom Kleinen zum Grossen durchführen liess, da das Kleine Gelmerhorn von dem zwischen beiden liegenden Gelmersattel aus im Aufstieg zwar schon mehrfach versucht, aber noch nie erreicht worden war. Hans Baumgartner, der sich im Diechtertal gut auskennt, hatte sich während längerer Zeit mit dem Problem der Ersteigung des Kleinen Gelmerhorns vom Gehnersattel aus befasst. Auf mehr- faehen im Alleingang durchgeführten Erkundungsfahrten legte er den wahrscheinlich einzig möglichen Weg fest, welcher durch die Nordostwand führt, und auf diesem gelang uns am 15. September 1938 die Besteigung.

Mit einer Stunde Verspätung verliessen wir um 8.30 Uhr morgens die komfortable Gelmerhütte. Baumgartner setzte mit dem grimmigen Entschluss, die verschlafene Zeit wieder einzuholen, sofort zu einem halsbrecherischen Galopp an, der uns in kürzester Frist ins mittlere Diechter hinunterführte. Im gleichen Tempo ging es durch den Bach und jenseits über Schutt und Geröll wieder hinauf bis zur Stelle, an welcher sich die Wege zum Grossen und zum Kleinen Gelmerhorn trennen.

Hier blieben die Nagelschuhe zurück, und in Kletterfinken gewannen wir über rasendurchsetzten Fels das Couloir, welches zur nördlichen Gelmerlücke hinaufführt. Baumgartner verfolgte dasselbe ein Stück weit, um dann nach links in die Rinne hinüberzuklettern, welche die obere Hälfte der Ostwand des grossen Horns in der Gipfelfallinie durchzieht. In leichtem Fels kamen wir rasch höher, und bereits um 10 Uhr sassen wir auf der mächtigen, sonnenbeschienenen Gipfelplatte.

Unser Standort gewährte uns einen guten Einblick in die Nordostwand des kleinen Horns, in deren Betrachtung wir uns jetzt vertieften. Die nördliche Hälfte dieser Flanke, welche aus einer einzigen, ungegliederten Wandfläche besteht, bildet mit der östlichen eine mächtige, annähernd rechtwinklige Verschneidung, die sich ohne Unterbruch bis zum Gipfelblock erstreckt. Die Verschneidung ist in ihrem unteren Teil kletterbar, gegen oben dagegen werden die Wände, welche sie bilden, senkrecht, so dass ein Weiterkommen nicht mehr möglich ist. Etwa in derselben Höhe, von der an man von der Verschneidung nichts mehr erwarten darf, beginnt in der östlichen Wandhälfte ein grosser, stellenweise durch Klemmblöcke gesperrter Riss. Dieser zieht sich schräg aufwärts durch die Wand und endigt unter einem mächtigen, aus der Wand vorspringenden Felskeil. Bis zu dieser Stelle waren wir uns über den einzuschlagenden Weg im klaren: es galt, die grosse Verschneidung bis zur Höhe des Risses zu verfolgen, von da in die östliche Hälfte der Wand hinüberzuqueren, um dann durch Abseilen den Riss selbst zu gewinnen. Dieser liess sich bestimmt erklettern, ob jedoch von seinem oberen Ende aus die Besteigung weitergeführt werden konnte oder nicht, das war von unserem Standort aus nicht zu entscheiden. Vielleicht konnte die obere Kante des Felskeils erstiegen werden, vielleicht aber musste man versuchen, durch einen Seilquergang die glatte lotrechte Wandpartie, welche das Ende des Risses von einem sich noch weiter links andeutenden Kamin trennt, zu überwinden.

Nachdem unser Aufstieg, soweit es sich von hier aus beurteilen liess, festgelegt war, traten wir den Abstieg zum Gelmersattel an. Der Weg über den Südgrat bot in technischer Hinsicht nichts Bemerkenswertes. Mit einiger Verwunderung stellten wir deshalb die Anwesenheit von Mauer- haken fest, welche ab und zu eine Felsritze zierten und deren Nützlichkeit gerade hier wir mit dem besten Willen nicht einzusehen vermochten. Baumgartner, der in solchen Fällen mit systematischer Gründlichkeit vorzugehen pflegt, sammelte alle und verstaute sie im gemeinsamen Rucksack.

Im Gelmersattel angelangt, seilten wir uns an, worauf der Kamerad als erster die Verschneidung in Angriff nahm. Gleich vom Einstieg an erwies sich diese Kletterei bedeutend anspruchsvoller als alles, was heute vorhergegangen war. Die Wände der Verschneidung waren glatt und griffarm, nur dort, wo sie zusammenstiessen, blieb ein gut fingerbreiter Riss offen. Immerhin legte sich die linke Wandhälfte genügend zurück, um dem angepressten Körper so viel Reibungswiderstand zu bieten, als zur Entlastung der im Riss verklemmten Hände nötig war. Unter grossem Kraftaufwand kamen wir langsam höher und erreichten dort, wo die Verschneidung senkrecht zu werden beginnt, eine von der Wand abgespaltene Platte, welche uns schon beim Einstieg aufgefallen war und längs deren Rand wir nach links in die östliche Wandhälfte hinaus zu einer Abseilstelle zu gelangen hofften. Hier blieb ich sichernd zurück, währenddem Baumgartner der Kante der Platte entlang nach links hinüberhangelte. Eine vorspringende Wandstelle hatte ihn nach kurzer Zeit meiner Sicht entzogen, und nur das ruckweise auslaufende Seil verriet sein Vorwärtskommen. Dann hörte auch diese Bewegung auf. Wartend hing ich an meiner Platte, ein kühler Luftzug wehte die im Schatten liegende Verschneidung empor zum sonnenbeschienenen Gipfelblock, fuhr in die Ärmel meiner Jacke und liess mich leicht erschauern. Ich sehnte mich hinaus aus diesem kalten Schacht, ans Licht und an die Sonne.Vergebens wartete ich auf den Zuruf des Kameraden. Ob ich ihn vielleicht im Rauschen des Windes überhört hatte? Schliesslich entschloss ich mich zum Nachkommen auf eigene Faust, kletterte meinerseits der Platte entlang in die Wand hinaus und erreichte an ihrem Ende einen kleinen Felskopf, um welchen Baumgartner eine Abseilschlinge gelegt hatte. Er selbst hatte sich bereits etwa 15 Meter tief abgeseilt und durch Pendeln den Anfang des grossen Risses gewonnen. Nachdem er sichern Stand gefasst hatte, folgte ich nach. Der Riss war breit und tief und hätte ein bequemes Klettern erlaubt, wenn er nicht in seiner Mitte durch einen grossen Klemmblock gesperrt gewesen wäre, dem es wandauswärts auszuweichen galt. Eben machte sich Baumgartner daran, ihn zu umklettern. Die Füsse an der Risskante, die Hände auf den grifflosen Block gepresst, so gewann er langsam an Höhe und verschwand dann hinter dem Block. Nachdem ich das Hindernis ebenfalls hinter mir hatte, lag der Weg vor uns frei, und wir kamen rasch höher. Der Riss endigte in einer geräumigen Nische, deren Dach der weit aus der Wand vorspringende Felskeil bildete, der uns schon vom Grossen Gelmerhorn aus aufgefallen war. Hier direkt höherzukommen, erschien uns jetzt aussichtslos. Als letzte Möglichkeit auf der Suche nach einem Weiterweg blieb noch eine weitere Querung in die Wand hinaus. Sehr aussichtsreich sah dieser Quergang allerdings nicht aus: eine schmale, kaum handbreite Felsleiste führte vom Boden der Nische weg horizontal nach links und verlor sich nach einigen Metern in der Wand. Oberhalb der- selben war der Fels lotrecht und grifflos. Doch ein Versuch musste auf jeden Fall gemacht werden. In einen Riss trieben wir einen starken Mauerhaken ein und hängten neben dem Partieseil auch noch das Reserveseil an. Dann nahm ich Abseilsitz und schob mich, die Füsse auf die Leiste gestützt, den Körper wandauswärts gelehnt, langsam aus der Nische in die Wand hinaus. Der erste Meter des Quergangs brachte nichts als glatten, kompakten Fels, der zweite ebenfalls, doch beim dritten sah ich weiter links eine kleine Vertiefung, in der die Leiste endigte. Eine enge Ritze nahm hier ihren Anfang, zog sich senkrecht die Wand hinauf, verbreiterte sich nach einigen Metern zu einem handbreiten Riss und führte zu einer zweiten, grösseren Vertiefung in der Wand. Hier mussten wir hinauf, das war der gesuchte Ausweg nach oben. In freier Kletterei war dieser Stelle allerdings nicht beizukommen Ich trieb so hoch als möglich einen Haken in den Riss, hängte zwei Trittschlingen an und pendelte nach einem unangenehmen Gleichgewichtsmanöver um einen guten Meter höher in der Wand. Ein zweiter, bedenklich schlecht sitzender Haken musste durch einen dritten, etwas weniger wackligen gesichert werden, und dann, nach einigen weiteren akrobatischen Anstrengungen, konnte ich die Stelle, an der sich der Riss zu verbreitern begann, mit den Händen erreichen. Noch ein kurzes Stück anstrengender Kletterei, und sein Ende war erreicht. Was mir von unten nur als eine Vertiefung in der Wand erschienen war, erwies sich jetzt als eine geräumige, bequeme Nische, in der ich mich zunächst einmal ausruhte. Unterdessen stellte sich Baumgartner unten mit den Enden unserer beiden Seile zwei Steigbügel her. Dann legte er mit Hilfe des von mir straff gehaltenen Seils den Quergang zurück und liess sich über die grifflose Wandstelle nach der Steigbügeltechnik hochziehen. Atemlos, mit freudestrahlendem Gesicht langte er bei mir an. Nun war der Weg zum Gipfel endgültig frei. Wir überkletterten einen gutgriffigen Block, stemmten einen letzten Riss hinauf und erreichten die Schulter, auf der der mächtige Gipfelblock ruht. Ein weiter Spreizschritt, ein vorsichtiges Schleichen über die grifflose, schwach geneigte Kante, und wir standen auf dem Gipfel.

Auf dem sonnenbeschienenen, warmen Fels liessen wir uns zu einer langen Rast nieder. Baumgartner machte sich daran, mit bemerkenswertem Geschick unseren Berg mit dem neuen ihm abgewonnenen Weg in das Gipfelbuch zu zeichnen. Ich selbst sass untätig träumend da und starrte in die Ferne. Noch brannten die Fingerspitzen und schmerzten die Muskeln von der Anstrengung dieses Tages, aber die nervöse Spannung löste sich langsam und machte einer wohligen Erschlaffung Platz. Und wieder durchlebte man eine jener seltenen Stunden, in denen die Befriedigung über das erreichte Ziel im Verein mit der körperlichen Ermüdung für kurze Zeit jegliches Wünschen und Wollen auslöscht und alle Unrast sanft versinken lässt.

Als der letzte Sonnenstrahl im Westen erlosch, sprangen wir erschrocken auf. Wir hatten beide ganz vergessen, wie spät es war! Über zwei Stunden mussten wir auf dem Gipfel verbracht haben, und die Frist, während der uns jetzt noch Tageshelle blieb, war ganz kurz bemessen. Eilig seilten wir uns vom Gipfelblock zur Schulter ab und hasteten dann den Südgrat hin- unter. Anfänglich kletterten wir unangeseilt, dann ging uns auch das zu langsam: Abseilschlinge um Abseilschlinge legte sich um die Zacken, und rasch glitten wir in der zunehmenden Dämmerung am Seil in die Tiefe. Als wir in der südlichen Gelmerlücke anlangten, war es vollends Nacht. An ein Weiterklettern über die rasendurchsetzten, zum mittleren Diechter hinunterführenden Felsplatten war jetzt nicht mehr zu denken. Wir suchten einen windgeschützten Platz, setzten uns auf die Seile, steckten die Füsse in den Rucksack und verbrachten so die Nacht. Am folgenden Morgen zogen wir talwärts.

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