Erinnerungen an einen Bergkameraden | Club Alpino Svizzero CAS
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Erinnerungen an einen Bergkameraden

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E. Reiss, Basel

Die hohen Berge, vom Meer umzogen, die Berge bleiben, das Meer besteht. Wir kleinen Menschen gleichen den Wogen, die Berge dauern, der Mensch vergeht. Takomochi 787 t « Du musst ihn kennenlernen, auch wenn er nicht im Berner Oberland wohnt. » So redete Paul, einer der Erschliesser des Alpsteins, auf mich ein, als wir während verregneter Pfingsttage in der Engelhornhütte aufgehalten wurden.

Ich erinnere mich nur noch, dass jener, den ich kennenlernen sollte, sich an einem Sonntagmorgen im Sommer i 1950 bescheiden und liebenswürdig oben im Ochsental vorstellte. Es war Ruedi Schatz.

Nach kurzem Marsch zum Einstieg klommen wir gleichentags wie langjährige Seilgefährten über die luftige Westkante der Vorderspitze empor, erfreuten uns der Gipfelrast und waren gespannt, die Wertbeurteilung eines anderen Kletterers zu erfahren. Doch eben, mit dem Essen wächst der Appetit, und der neue Bergkamerad zeigte alsbald Interesse für die über uns thronenden Wetterhörner mit den sich anreihenden Berner Oberländer Bergriesen. Während unserer Erläuterungen nickte er jedoch neben dem Gipfelsteinmann plötzlich ein. So betrachtet, verrieten seine Gesichtszüge ebensoviel Gutmütigkeit wie Entschlossenheit.

Wenn ich nicht irre, stiegen wir schon kurze Zeit später mit ihm und einem jungen Führer aus dem Alpstein über die klassische Finzziroute von der Grossen Scheidegg aufdas Wetterhorn. An jenem Steilaufschwung mit den Haken liessen wir unseren Gefährten den Vortritt, während wir im grossen Firnfeld vor der Nordschulter gleich wie- der aufholten. « Was isch -, der Ruedi rutscht! » rief Erich. Tatsächlich trudelte dieser zuerst schnell, dann durch den nassen Schnee gebremst, etwas langsamer an uns vorbei. Wie eingeschlafen blieb er schliesslich etwa zwanzig Meter unter uns im Seil hängen. Einige Sekunden verstrichen, ehe er sich reckte und ein grosses Taschentuch unter seine alte Schirmmütze schob. Aufdem exponierten Felsgrat angelangt, schenkten wir dem vorausgegangenen Steinschlag und einigen Blutspuren unseres bereits weitergehenden Gefährten keine Beachtung mehr.

Den Gipfelaufenthalt konnten wir diesmal nicht lange geniessen, denn schon ballte sich im Westen ein rasch aufkommendes Hochsommerge-witter zusammen. Während wir Einheimische die schützende Glecksteinhütte indessen mit den ersten Regentropfen gerade noch erreichten, erwischte es die beiden nachfolgenden Kameraden recht ordentlich. Das verdross sie aber keineswegs, denn im Bergrestaurant Lauchbühl angekommen, konnten sie sich vor lauter Lachen kaum mehr erholen, als einige Engländerinnen beim Abheben von Ruedis Mütze der blutver-klebten Haare wegen beinahe in Ohnmacht fielen.

Obwohl ich mir im Laufe der Jahre auf vielen Bergfahrten, vom Wilden Kaiser bis zum Mont Blanc, kaum einen zuverlässigeren und fröhlicheren Seilkameraden als Dölf Reist vorstellen konnte, unterschieden sich bisweilen unsere Meinungen, wenn es um die Entdeckung von Neuland oder um die Wahl von extremeren Routen ging. Für meinen längst gehegten Plan einer direkten Durchsteigung der 1 Zoo Meter hohen Nordwand des Gspaltenhorns wandte ich mich deshalb erneut an die beiden Ostschweizer Freunde. Diese schenkten mir als Kenner einiger grosser Wände im Oberland viel Vertrauen und verliehen mir durch ihren Wagemut auch neue Impulse. Dies nachdem ich mit Hermann Etter in dieser gewaltigen Mauer fünf Jahre zuvor nur knapp dem Eis- und Steinschlag entkommen war.

An einem Wochenende in der zweiten Hälfte Juli 1951 trafen die beiden Sanktgaller mit ihren schweren Motorrädern im Haslital ein. Schon am späten Nachmittag bezogen wir unter dem Felsdach der Kilchbalm, einem versteckten und fast nur den Wildheuern bekannten Platz, unser Freilager. Die romantische Feuerstelle, das wenige trockene Heu und die davor liegende Bergwiese, umrahmt von riesigen Steilfluchten, verwoben sich zu einem Bild, das unsere Gemüter erregte. In der nun einsetzenden makellosen Mondscheinnacht, deren Einsamkeit und Stille bloss vom Rauschen der Wildwasser durchdrungen wurde, harrten wir etwas bangen Herzens der Dinge, die auf uns zukamen.

Im Schein der Laterne stolperten wir frühmorgens über die Moräne an den Fuss einer der höchsten Wände im Alpenraum. In Anbetracht meiner Ortskenntnisse übernahm ich in den ersten Stunden die Führung. Dann liess ich aber meinen Kameraden den Vortritt. Dies allein schon deshalb, weil die senkrecht zum grossen Eisfeld em-porlaufende Felsrampe ohnehin eher für sie, die jüngeren Felsgänger, zugeschnitten war. Die zeitraubende Überwindung dieses Hindernisses und die nachfolgenden siebenhundert Meter Aufstieg im Neuland zwangen uns als langsame Dreierseilschaft zum Biwakieren. Der gemütlich summende Teekocher ( ein Luxus, den wir uns sonst selten leisteten ) sowie die Gewissheit, dass die stabile Wetterlage anhalten werde, liessen uns die Nacht gut überstehen.

Schon ehe die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen die Flanke streiften, durchquerten wir, schräg aufwärts haltend, die gut verfirnte Schnee-zone. Zum zweitenmal beanstandete Ruedi meine spärlichen Sicherungen, diesmal am Beginn der eigentlichen Gipfelwand. Doch Zeit tat not; es wurde immer wärmer und steinschlagge-fährlicher. Ich erinnere mich nur ungern jener Situation, wo ich, mit beiden Armen an einem angefrorenen Felsbrocken hängend, mit dem Steigeisen rechts nahezu so hoch wie beim Haltepunkt aufsetzen musste. Nachdem Ruedi noch ein letz- tes Stück im fusstiefen Schnee emporgestiegen war, gelangten wir auf die alte Nordwandroute von Willo Weizenbach, welche hier nach dem Verlassen der Hirtlirippe einmündet.

Erleichtert und überglücklich standen wir am Mittag auf dem stolzen Gipfel des Gspaltenhorns. Wir hatten damit die zweithöchste Nordwand neben derjenigen des Eigers in ihrer ganzen Länge direkt durchstiegen. Nun konnten wir unbeschwert sowohl über die gelungene Tour wie über das Bergsteigen und die Bergkameradschaft im allgemeinen diskutieren.

Mit Kamerad Ruedi Schatz verbanden mich trotz der erheblichen Distanz zwischen unseren Wohnsitzen und meiner Berufung zu zwei Schweizer Expeditionen im Himalaya ein enges Band des Gedankenaustausches. Stets fanden wir auch wieder Zeit zu einer kleinen, manchmal sogar zu einer aussergewöhnlichen Bergfahrt.

Unserem bereits erwähnten Vierergespann, mit Dölf Reist, gelang u.a. an einem Tag der Aufstieg über die Lauperrippe in der Grosshorn-Nordwand mit der anschliessenden Überschreitung des Lautcrbrunnen-Breithorns zurück zum Schmadribrunnen.

Als ich dann Ruedi 1955 bei der Teilnahme an einer grossen Expedition den Vortritt lassen wollte, hat er mir diese Geste, trotz seiner eigenen Absage, scheinbar nie vergessen, erwies er mir doch während der nächsten zwei Jahrzehnte zahlreiche gute Freundesdienste, die ich sehr zu schätzen wusste.

Einige Jahre später organisierte und leitete Ruedi die erste namhafte Expedition des SAC. Dabei war er vielen Anfechtungen ausgesetzt, die er aber alle mit seiner gerechten und offenen Art zu überwinden wusste.

So standen wir dann im Frühsommer 1959 alle miteinander im zentralen Teil der peruanischen Anden. In der Zeit, wo Ruedi mit seinem nächsten Bergfreund, Geny, und den welschen Kameraden in der noch keineswegs erschlossenen Region des Urubamba eine Anzahl bemerkenswerter Erstbesteigungen durchführte, gelangen im- serer Gruppe im weltentlegenen Bergtal von Paccha ein paar unvergessliche Gipfelerfolge.

Mit dem nachfolgenden Zusammenschluss aller Teilnehmer und der neuen Mannschaftseintei-lung war es mir vergönnt, mit Ruedi erstmals die steile Nordwand des vierthöchsten Gipfels von Peru zu begehen. Das sollte allerdings nicht nur in technischer, sondern auch in kameradschaftlicher Beziehung zu einer harten Prüfung werden.

Wir hatten unser zweites Basislager an einer der schönsten Lagunen der Cordillera Blanca aufgeschlagen. Die zehnwöchige Expedition neigte sich bereits dem Ende entgegen. Viele Abenteuer und Schwierigkeiten, ja selbst unsere voreilige Verhaftung unweit von Lima hatte unser Leiter mit der nötigen Toleranz und viel diplomatischem Geschick wieder rückgängig gemacht. Jetzt ging es darum, eine Route durch die nördliche Abdachung des 6400 Meter hohen Huandoy zu eröffnen. Die beiden Bergführer-Freunde hatten vom Parron-Tal aus ein kleines Lager auf dem Gletscher direkt unter der Gipfelwand eingerichtet. Ursprünglich war vorgesehen, dass Ruedi zusammen mit Hansi Frommenwiler und mir den ersten Steilaufschwung begehbar machen sollten, worauf die vom Basislager aufsteigenden Gefährten den eigentlichen Gipfelangriff unternehmen konnten. Durch den Ablauf der Dinge erfolgte aber eine Umstellung. Die Vorstossgruppe rechnete zu wenig mit dem Ehrgeiz der drei ältesten Teilnehmer und deren logischer Überlegung, den durch diesen Plan bedingten Zeitverlust nach Möglichkeit nicht einzugehen.

In der Tat erreichten wir trotz dem drohenden Nebel und mit dem Risiko eines Biwaks den Gipfel und standen kurz vor dem Einnachten wieder beim inzwischen besetzten Zelt. Die Kameraden, die es unsern Augen ansahen, dass wir oben gewesen waren, vermochten ihre Enttäuschung nicht zu verbergen. Trotz Nässe und Müdigkeit, trotz dem bevorstehenden Abstieg in der Nacht, sann Ruedi einen Moment nach und wusste in wenigen ruhigen Worten die Lage zu klären.

Auf dem spaltenreichen Gletscher konnten wir uns bei allmählich einfallender Dunkelheit noch orientieren, ehe wir im hellen Sand der Moräne dem tiefen Tal entgegen stolperten. Im steilen Puna-Gras und im Fels machte uns dann aber das fehlende Licht bald zu schaffen. Plötzlich standen wir über einem drohenden Felsabsturz. Zuerst liefen wir hin und her, bis wir es endlich auf gut Glück in einer Steilrinne versuchten. Teils kletterten wir, teils rutschten wir, durch das Seil verbunden, hintereinander ins Ungewisse hinab. Dann und wann hörte man ein paar Kraftausdrücke oder einen kurzen Aufschrei. Immerhin näherten wir uns zunehmend dem Wasser im Parron-Tal. Als wir beim ersten Mondschein durch den Bach zum nahen Lager anstiegen, zählten wir unsere Schrammen und zogen uns gegenseitig die Stacheln der Kakteen aus dem Hosenboden. Wir lachten noch lange, während die smaragdgrüne Fläche des einzigartigen Naturstausees im fahlen Schimmer einer lichthellen Nacht dem neuen Tag entgegendämmerte.

Anderentags erreichten auch unsere Gefährten Geny Steiger und Franz Anderrüthi bei wolkenlosem Himmel die weitausladende Gipfelkuppe des Huandoy, was uns natürlich besonders freute. Nachdem die beiden ebenfalls wohlbehalten im Basislager eingetroffen waren, packte Ruedi seinen Rucksack und zog allein talauswärts. Er gab es niemand zu merken, dass er in Lima die gesamten Vorbereitungen für die Rückreise erledigte.

Uns am Berg verblieben noch drei Tage Zeit für eine weitere Besteigung. Als neunzehnten Ex-peditionsgipfel konnten wir die kühne Aguja Nevada ( 5800 m ) über eine unwahrscheinlich steile und interessante Eisroute erstmals begehen.

Überglücklich im Santa-Tal angekommen, mit Cevezzas und Pisco-Sauer den Durst genügend gelöscht, kehrten wir alle vier Tage später nach Lima zurück. Die verschiedenen Einladungen, die Verteilung des Materials sowie alle Heimreise-formalitäten waren so weit vorbereitet, dass jeder von uns im Raum dieser riesigen Stadt noch wertvolle kulturelle Erfahrungen sammeln konnte.

Als ich am letzten Abend um Mitternacht müde an Ruedis Zimmer vorbeischlenderte, bemerkte ich, wie Licht durch das Schlüsselloch schimmerte.Vorsichtig klopfte ich an. Mein Gefährte mancher grossen Bergtour bot mir in aller Ruhe Platz an. Ich fragte ihn, bei welcher Schreibmaschinenarbeit ich ihn denn so spät noch störe. « Ja » - erwiderte er —, « es schien mir wichtig, dass man unserem herzkranken Hochträger, Martin Fernandez, einem der unzähligen Arbeitslosen von Lima, zu einer anderen Beschäftigung verhilft. Martin kann das selber nicht tun, und ich kenne hier doch ein paar ansässige Schweizer Firmen. » Ich wusste um die Zielstrebigkeit meines Freundes, doch heute abend bewies er einmal mehr, wie er sich auch für den Schwächeren einsetzte. Um eine Erfahrung reicher verabschiedete ich mich bald darauf zum Schlafengehen. Tatsächlich hat uns Ruedi nicht zuletzt dank seiner unermüdlichen Initiative zu einer grossartigen Reise und manch ungewöhnlichem Bergerlebnis auf jenem fernen Kontinent mit dem längsten Gebirgszug der Erde verholfen.

Wieder waren einige Lenze über das Land gezogen. Verschiedene Bergkameraden hatten aus persönlichen oder familiären Gründen ihren Weg zu den steilsten Pfaden bereits aufgegeben. Auch die Kontakte mit meinem Freund Ruedi waren durch seine berufliche Karriere und längere Aufenthalte im Ausland etwas spärlicher geworden.

1965. Eine kleine Freundesgruppe erhielt ein Rundschreiben, worin es hiess: Es wäre an der Zeit, wieder einmal gemeinsam einen hohen « Bohl » zu besteigen. Auch die Frauen seien eingeladen, entweder bis ins Basislager mitzukommen oder, wenn sie es wünschten, auch noch höher hinaufzusteigen. Kaum liess es sich fassen: schon nach dem vierten Rundschreiben war es soweit.

Vierzehn Tage später hatten wir in der nördlichen Cordillera Blanca bereits drei Erstbesteigungen und die zweite Begehung des steil emporragenden Artesonraju durchgeführt. Die Damen wollten jedoch einen weniger ruppigen 6000er be- suchen. Unsere Zeit war allerdings knapp bemessen, und eine allen entsprechende Lösung ergab sich nicht ohne weiteres. Einmal mehr fand aber Ruedi das Mittelmass. Wir verliessen das einsame Quebrada Santa Cruz und wechselten zum Ranrapalca, der uns eine schöne Eistour, ähnlich der Roseg-Nordwand, nur 2000 Meter höher gelegen, versprach.

Wieder war Geny, der Steiger, unser grosser Führer. Allen voran « schwindelte » sich deshalb das Ehepaar Steiger links über die blanke Eisrampe auf die östliche Gipfelschulter. Auch diese prächtige Tour war uns somit gelungen, nur kamen wir als Gruppe von neun Personen beim Abstieg in der steilen Wand vorzeitig in die in diesen tropischen Breitengraden früh aufziehende Nacht. Rasch verschwand Geny an der langen Reepschnur in die Tiefe. Da ging aus dem feinen uns umgebenden Nebel völlig unerwartet ein kurzer Schneeschauer auf uns nieder. Doch bald klarte es wieder auf, und nach geraumer Zeit hatten alle im aufkommenden Mondlicht die gefürchtete Randspalte am Wandfuss überwunden.

Wieder kehrte eine glückliche Expedition von alten Kameraden zu ihren Familien und den alltäglichen Pflichten heim. Jeder fragte sich: Wann ist es das nächste Mal, wann werden wir erneut miteinander ausziehen?

Ja, es mussten ganze elfjahre vergehen, ehe die alten Bergfreunde nochmals ein fernes Gebirge aufsuchten.

Wir schrieben das Jahr 1976. Eine kleine Pri-vat-Expedition war heimgekehrt, sogar verfrüht in der Heimat eingetroffen. Noch trennte die Teilnehmer die automatisch verschliessbare Glaswand des modernen Flughafens von ihren wartenden Angehörigen. Übermüdet standen die Männer mit ihren paar unverzollten Expeditions-Habseligkeiten herum, bis sie endlich ihren Frauen, mit den ebenso ernsten Gesichtern, in die Arme fallen durften. Was war geschehen?

Der langjährige Wunsch der alternden Bergkameraden, im verschlossenen Königreich Bhutan einen einsamen, grossen Berg besteigen zu dürfen, war trotz einer persönlichen Vorsprache des bewährten Initiators am Regierungssitz in Thimphu nie Wirklichkeit geworden. So sind die Jahre mit Arbeiten und Hoffen vergangen. Als letztes Ausweichziel wurde schliesslich der Hindukusch gewählt, dessen höchste Gipfel bis fast 7800 Meter in den blauen Himmel Hochasiens ragen.

Voller Erwartungen zogen wir zu sechst aus, um im östlichsten Afghanistan, im vergessenen Gebirgstal des Mandaras, unsere wenigen Ferienwochen zu verbringen. Wir konnten nicht ahnen, dass wir sehr niedergeschlagen nur noch zu fünft die Heimat wiedersehen durften.

Wie gewohnt lief anfangs alles programmgemäss: der Flug nach Athen, ein Aufenthalt in Teheran und der Empfang unter der glühenden Sonne in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Schon nach zwei Tagen mühevoller Vorbereitungen begann die unwahrscheinliche Jeepfahrt über den hohen Salang-Pass, durch den Glutofen der Ebene von Kunduz und weiter dem wilden Kot-scha-Fluss entlang, um nach einer geradezu kri-minellen Schüttelfahrt Faizabad in der Provinz Badachschan zu erreichen. Ein mongolisch aussehender Polizeimann verweigerte uns hier vorerst die Weiterfahrt. Wie atmeten wir auf, als wir im Morgengrauen auf ausgewaschener Erdstrasse dem verheissungsvollen Hochplateau von Zebak, dem Übergang in die Welt der hohen Berge, zustrebten. Am alten Grenzfluss Oxus, dem mächtigen Amu Darja, am Steilwall des russischen Pamirs, verliessen wir beim Häuserfleck von Qasi Deh endgültig unsere Fahrzeuge.

Am folgenden Morgen ging es über den uralten Passpfad Richtung Noshaq ( 7400 m ), wo wir auf einer einzigartigen Märchenwiese die erste La-gernacht verbrachten. Die Überquerung im hüfttiefen Gletscherwasser des Mandaras versetzte uns anderntags gleich in die rauhe Wirklichkeit. Eine steinige, steile Berg- und Gletscherwelt von beachtlichen Dimensionen tat sich vor uns auf. Die schlauen Paschtu-Träger empfahlen uns ( gegen hohes Entgeld ), das Basislager noch unter- halb des mächtigen Moränenwalls aufzuschlagen. Nun gab jeder der Expeditionsveteranen beim Bau des Hauptlagers sein Bestes. Da es sich um unseren ersten Tag in Finsteraarhorn-Gipfel-höhe handelte, war dies wohl fast zuviel.

Am zwölften Expeditionstag standen wir alle auf den ersten Vorgipfeln von mehr als 5500 Metern Höhe. Die sengende Sonne und die langen Märsche über das endlose Meer von kleinstem und allergrösstem Moränengeschiebe hatten uns allen hart zugesetzt. Trotzdem konnte es der Arzt kaum verstehen, dass gerade Ueli, der Erstbesteiger des Pumori ( 7000 m, Everest-Gebiet ) beinahe am meisten Mühe bekundete.

Nur zu rasch schritt die Zeit voran. Wir liessen deshalb unseren Kameraden im Basislager zurück, damit er sich ausruhen und allmählich zu akklimatisieren vermochte. In diesem Zeitraum wollten wir von einem Zwischenlager aus doch noch einen der steilen Sechstausender versuchen. Am 3 i.Juli stand Ruedi Schatz mit mir auf der kühnen Zipfelkappe des Mandaras V ( 6070 m ). Der zermürbende Aufstieg über Tausende, fast meterhohe Büssereiszähne und die letzten schwierigen Seillängen belohnten uns mit einem unwahrscheinlichen Ausblick auf die unwegsamsten Gletscherströme und kühnsten Gipfel des Hindukusch.

Nach einer kurzen Nacht im Zwischenlager beeilten wir uns, zum Basislager abzusteigen. Hier stürzte uns unser Träger und Betreuer, Niachtan, mit der Nachricht entgegen, Ueli sei kurz zuvor aus dem Zelt gekrochen und bewusstlos liegengeblieben.

Ohne viele Worte zu verlieren, wusste jeder, was nun zu tun war. Wir verpflegten uns kurz, packten unsere Sachen und begannen sofort den unerwartet von einem Höhenödem betroffenen Kameraden zu Tal zu transportieren. Dabei konnte nur einer von uns den Kranken tragen, da die beiden anderen vorangehen mussten, um einen Weg durch den Auslauf der hier riesigen Moräne zu suchen. Unter äusserstem Kraftaufwand gelang es uns jedoch, in knapp vier Stunden 300 Meter tiefer zum Biwak des vorderen Mandaras zu kommen. Wir glaubten bei Ueli eine gewisse Besserung festzustellen und teilten uns rasch in die Aufgabe der Betreuung, während die anderen weitereilten, um Hilfe zu holen. Der baldige Einbruch der Nacht und der reissende Wildbach zwangen uns zum Biwakieren. Am frühen Morgen des nächsten Tages erreichten wir nach einer heiklen Wildwasserüberquerung in forciertem Eilmarsch die Häuser von Qasi Deh. Erst als die besten einheimischen Träger aufgebrochen waren, legten wir uns erschöpft zur Ruhe. Was aber unser Arzt, Geny Steiger, und Ruedi Brunner auf dem hindernisreichen, zweitägigen Transport leisteten, darf nachträglich als beispielhaft bezeichnet werden. Für sie, besser gesagt für den bewusstlosen Ueli, war es ein Ringen um Leben und Tod.

Am Freitag, den 5. August, am Wochenfeiertag des Islam, flog erstmals ein vom Staatschef bewil-ligter Grosshelikopter zur Rettung nach Ishkashim. Erleichtert sahen wir am andern Morgen, wie das Flugzeug bei Faizabad den Talausschnitt nach Süden verliess. Noch durften wir hoffen. Im Verlauf unseres kurzen Aufenthaltes konnten wir nun die fremdartige Atmosphäre dieser abgeschiedenen kleinasiatischen Stadt in uns aufnehmen. Als dann im Dunst des Kotscha-Flusses zwei farbige Kamelkarawanen der Nomaden auftauchten und in Richtung der tiefer gelegenen Weidplätze verschwanden, ahnten wir, Zeuge einer fast biblischen, vergehenden Welt gewesen zu sein.

Als wir zwei Tage später in Kabul zusammentrafen, erhielten wir aus dem Spital eine traurige Nachricht. Wir schwiegen betreten. Die geplanten Ausflüge nach Bandi Amin und Baminjan kamen für uns nicht mehr in Frage. Erstmals kehrten wir von einer Expedition traurig heim.

Allein den Bergen durften wir nicht grollen; sie haben uns Menschen seit Tausenden von Jahren überdauert.

Drei Jahre später, Mitte Mai 1979, versammelte sich eine ungewöhnlich grosse Trauerge- meinde in St. Gallen. Wir alle, Bergfreunde und höchste Magistraten, nahmen Abschied von einem liebenswürdigen, tatkräftigen Menschen, der in seinem besten Alter durch einen äusserst tragischen Kanu-Unfall völlig unerwartet aus dem Leben schied.

Ruedi Schatz war vielen ein guter Freund, Mitarbeiter und Kamerad. Erst als das Orgelspiel mächtig anhob, musste auch ich es wahrhaben: er weilt nicht mehr unter uns. Für Sekunden verlor ich den Boden unter den Füssen. Lange Zeit später erschien mir der Mensch, Ruedi Schatz, wieder ganz nahe. Die guten Erinnerungen an einen wertvollen Bergkameraden, an dessen Seite auch ich während dreissig Jahren viel Schönes erlebte, bleiben unvergesslich.

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