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Fahrt in den Abend

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VON ALFRED GRABER, MUZZANO

Mit 3 Bildern ( 84-86 ) Ich stand am Ufer und blickte über den See hinweg auf die Berge, die im ersten Neuschnee des Herbstes silberne Linien an den blassblauen Himmel zeichneten, während die Wälder sich gelb und braun an ihrem Fusse hinzogen und die Wasserfläche wie ein unbewegter Spiegel schimmerte. Ich folgte mit den Augen den Graten, den Eiswänden, den Gipfeln und sah mich dort unterwegs zu einer Zeit, die einmal war und nicht wieder sein wird. Da, der Glärnisch, frühestes Abenteuer im Nebel- und Schneetreiben, da der Tödi, und der Morgen auf seinem Scheitel wird nie vergessen sein. Und daneben all die andern: Windgälle, Urirotstock und wie sie heissen mögen. Erinnerungen an ein Land, das mir einst offenstand, stets bereit, mich Unbehausten aufzunehmen. Doch heute sind sie mir keine Zuflucht mehr. Sie hatten ihre Zeit, wie jede Liebe sie hat. Und wenn ich zuweilen auch glaube, dass sie mich rufen, es sind nicht sie, der Ruf kommt von fern her: zu einem neuen Aufbruch, zu einem neuen Ziel.

Ich muss nicht mehr über die Grate klettern, um jenes befreiende Glück zu empfinden, das mich am Erdrand erwartete. Ja, gewiss, es war schön, von den Bergen das Leben immer wieder neu geschenkt zu bekommen Doch ihnen jetzt schauend nahe zu sein ist eine neue Beglückung.

Ein Wanderer wird auch wandern, wenn er rastet. Denn Wandern ist ein Zustand der Seele. Und das zu erkennen ist mehr als jede Hochleistung im Bereich eines sechsten Grades.

Die Wende begann mit einer rosa Wolke am frühabendlichen Himmel zwischen dem See und den Berner Alpen. Ich folgte vom Balkon unseres kleinen Hauses am Pfannenstiel ihrem gemächlichen Fluge, bis sie sich mit einemmal verwandelte und mir zur Bindung zwischen unserer Erde und jenen Räumen wurde, deren Tiefe wir trotz aller Erkenntnisse nie ergründen werden. Sie mahnte mich wie einst die Stunde an der Grenzlinie zwischen Jugend und Mannesalter, als ich, gefangen vom Berg, auf den Bändern des Sonnig Wichel rastete, das Leben ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen und mich durch einen unbekannten Willen geborgen und getragen zu fühlen.

Gegen Abend ändern sich unsere Beziehungen zur Umwelt; wir lauschen zurück, und wir bescheiden uns angesichts des Schweigens der Schöpfung, die unsere Fragen nicht beantwortet. Was bleibt denn von allem? Ein Blick zu den Grenzen unseres Wissens, zum Kosmos, der alle unsere Vorstellungen sprengt.

Für uns gibt es kein Blockhaus mehr im Urwald, keine ferne Hütte am hohen Grat, die uns vor der Wirklichkeit in Schutz nimmt Die Jahre haben sie zerbröckelt. Die Flucht vor uns selbst, so wunderbar sie auch war, ist zu Ende. Und der Friede kann, so wissen wir es endlich, wenn überhaupt, nur von innen kommen. Das letzte Wegstück unserer zahllosen Wanderungen muss zu uns selbst führen.

Aber gehen wir die Wege, die wir gegangen sind, fröhlichen Herzens zurück, und vergessen wir nie, dass Wandern nicht nur eine veränderte äussere Umwelt bedeutet, sondern unmittelbare Berührung mit Menschen und Landschaften, die ihre Spuren in uns zurücklassen, wenn sie einer Begegnung wert waren! Sie aufzeichnen heisst, sie den Wesensgleichen mitteilen, im Wissen, dass 13 Die Alpen - Les Alpes - 1967193 manches schon morgen nicht mehr sein wird, was uns gestern und heute lieb war. Schon allein deswegen ist es gut, die Bilder festzuhalten, die sich uns eingeprägt haben. Und bei all dem Wandel entdecken wir, dass sich der Mensch selbst am wenigsten gewandelt hat; geblieben ist sein fanatischer Wille, aus seiner Einsamkeit herauszufinden, ein Drang, der ihn auf die höchsten Berge wie in die fernsten Länder treibt. Rastlos ist er auf Rast bedacht, auf Besinnung im Chaos der ihn zermalmenden Materie.

Wie vieles haben wir unterwegs gesehen und waren doch unzufrieden, dass es nicht mehr sein konnte! Und erst jetzt erkennen wir, dass man Landschaften in sich trägt, die man in Wirklichkeit nie gesehen hat, deren Bilder dennoch stärker haften als das tatsächlich Geschaute.

Das Ergebnis eines Lebens sind Bruchstücke, für uns bleibt die Welt unvollendet. Mit den wachsenden Jahren wächst die Unsicherheit vor den erkannten Wahrheiten, von denen wir ahnen, dass sie vielleicht schon bald keine Wahrheiten mehr sein werden. Und die Frage stellt sich: Bin ich noch jener selbe Mensch, der in eine Lawine geriet, dem der Griff im Fels ausbrach, der durch die Fährlichkeit Spaniens zwischen der Revolution und dem zweiten Weltkrieg ging, der das Schreiben ernst nahm und das Leben leicht? Und der sich auch heute noch aus der äusseren Wirklichkeit der inneren seiner Gestalten zuwendet und sie zu deuten versucht?

Als Franziska und ich mit dem Schäferhund Dino in Kandersteg ankamen, stand der Himmel des Märztags graublau und abendlich über dem Tal. Violette Schatten stiegen an den Berghängen hoch, und bis zuletzt hielt die vielgipflige Blümlisalp eine rötliche Glut in ihren Wänden fest, deren Abglanz einen weichen Schimmer über den Talgrund legte.

In der ersten Frühe des nächsten Morgens fuhren wir mit der Luftseilbahn zum « Stock » und stiegen zur Sonne der Winteregg auf. Dort blieben meine Begleiter zurück, während ich mit einem Trupp Skiläufer der Gemmi entgegenstieg. Die Sonne verbarg sich, als der breite Schatten des Rinderhorns auf uns fiel, der Wind wehte rauh und beharrlich über die Fläche der Spittelmatte und hiess uns zum Unterschlupf im Schwarenbach eilen. Das helle Schneelicht flirrte ins Halbdunkel des unter den weissen Wällen begrabenen Hauses. Die rastenden Skiläufer waren redlustig und heiter, doch die Gesprächsfetzen erreichten mich nur am Rande: « Heute abend in der Bar... es spielt ein rassiges Trio... die Abfahrt von der Gemmi soll nicht besonders sein... nun, für einmal... aber die Aussicht... was schert mich die Aussicht... der Leiter der Skischule ist zu alt... ich zieh einen jungen Skilehrer vor... » Im Weitersteigen über Hänge und Flächen verlor ich mich in Erinnerungen. Bald würde ich die Walliser vom Pass aus sehen, samt meinen Taten, samt den Kameraden, die damals mit mir kletterten und längst aus meinem Leben getreten waren. Aber noch etwas kam aus der Versunkenheit auf mich zu, als ich die weisse, hindernislose Fläche des Daubensees überquerte: An jenem Spätsommertag war sie lebendiges Wasser gewesen, damals, inmitten des Krieges. Alles hatte ich auf jener Wanderung von mir werfen wollen: die Drohung, die ohne Unterlass über uns schwebte, den aufreibenden Dienst, wo ich jeden Morgen den eingehenden Meldungen entnehmen konnte, was jenseits unserer Grenzen wirklich vorging, ein Wissen, das keiner von uns preisgeben durfte und an dem wir trugen.

Zwei Tage hatte ich Urlaub nehmen können, und für diese kurze Zeitspanne wählte ich weder einen Berg noch Freunde, ich wählte einen Passweg und das Alleinsein.

Noch jetzt weiss ich, wie ich aufatmete, als ich vom Leukerbad im einbrechenden Abend dem steilen Pfad entgegeneilte, der mich durch die Felswände zur Gemmi hinaufführte, die unseren Ahnen einst so erschreckend erschienen waren. Höher, immer höher hastete ich in der weichen Luft, als würde ich verfolgt, getragen vom einen Wunsch, mich in eine schwerelose Einsamkeit zu verlieren. Was kümmerten mich die Bergketten der Walliser, die hinter mir aufwuchsen? Gewiss, ich hatte dort grosse, erfüllte Bergtage erlebt, doch heute schienen sie mir klein vor dem ungeheuerlichen Geschehen.

Mit jedem Schritt zur Höhe liess ich Ballast zurück. Die Dämmerung überfiel mich auf dem Pass; die Berge hatten sich in einen dunstigen Schleier gehüllt, der sie wesenlos machte.Vor mir lag die schmucklose, graue Herberge, in der ich Unterkunft fand und ein karges Essen, auf das ich kaum achtete. Nur kurz horchte ich draussen auf die ewigen Geräusche der nächtlichen Berge, dann zog ich mich in das kahle Schlafgemach zurück, das mich wie eine Mönchszelle anmutete und mir doch willkommen war, weil ich nach Wochen endlich allein sein konnte. Als ich das Licht gelöscht hatte, zog es mich zum kleinen Fenster, ich blickte zu den andern Welten auf, die uns mit ihren Lichtjahren hilflos zurücklassen. Aber noch während ich schaute, erfüllte ein stetig anschwellender Lärm die Nacht. Bombengeschwader zogen in Wellen südwärts, Tod und Zerstörung mit sich tragend. Ich konnte dem Krieg auch hier nicht entrinnen. Mit den verebbenden Geräuschen verstummte der Himmel wieder, der den Geschehnissen auf Erden mit so erschreckendem Gleichmut gegenübersteht.

Im Frühlicht des neuen Morgens lag der Weg ins Kandertal vor mir, ein Pfad, der mich mit neuer Beschwingtheit erfüllte, und ich wunderte mich darüber, dass ich mich, mitten im Weltunglück, dennoch an meinem Wanderglück freuen konnte. In all meinen Bergsteigerjahren hatte ich mich selten so dankbar und frei gefühlt, und ich begriff in dieser Wanderstunde die Worte Jean-Jacques Rousseaus: « Niemals habe ich so sehr nachgedacht und gelebt, niemals bin ich so sehr gegenwärtig und ich selbst gewesen wie auf den Wanderungen, die ich zu Fuss und allein gemacht habe. » Als ich den weissen Hang zur Einsattelung des Passes im Zickzack der vorgezeichneten Skispur aufstieg, erwachte ich zur Gegenwart zurück. Die Herberge war geschlossen und im Schnee ertrunken; es war nicht möglich, sich hinter ihr vor dem eisigen Wind zu schützen. Die Walliser erhoben sich in gläserner Klarheit im Süden; die Gipfel, die ich einst bestiegen hatte, standen, ob sichtbar oder verborgen, um mich: der Ostgrat des Egginer, die Eiswand des Grand Cornier, das Felsgerüst des Portjengrats, der Nordaufstieg zum Zinalrothorn. An alle erinnerte ich mich, als wäre es gestern gewesen, aber ich wusste in diesem Augenblick ebenso klar, dass ich diese Fahrten nie mehr ausführen würde und dass ich darüber auch nicht traurig war.

Es war eine Versöhnung mit der Vergangenheit durch die Schau; sie brachte Tage zurück, in denen ich unbekümmert und unbedenklich der Gefahr entgegengegangen war.

Der Wind sprang in Sturm über und zwang mich, die Passhöhe zu verlassen. Bald lag der Daubensee hinter mir, und der Tag verströmte abendlich, während die Schatten an den Hängen hochstiegen und mich daran mahnten, dass das Geschenk eines jeden erfüllten Tages ein einmaliges ist.

Als ich beim « Stock » anlangte und mir Dino bellend entgegenrannte, gefolgt von Franziska, die über mein langes Ausbleiben besorgt war, da wusste ich, wohin ich gehörte.

« Wie war 's? Was hast du erlebt? » « Die Berge der Jugend, zu denen man nicht mehr zurückkehren kann. Es war eine Vision, etwas beinahe Unwirkliches. Wirklich sind wir, unsere Gegenwart und unsere Zukunft, und das zu wissen ist besser als jeder eroberte Gipfel. » Mit den wachsenden Jahren wird die Erinnerung zu einer Macht, die Gültiges vom Belanglosen scheidet. Manches Ereignis mag längst geschehen sein, ein anderes erst gestern, aber bei den Rückblicken gibt es keine Reihenfolge.

An der Schwelle des zweiten Weltkriegs stand der Hochwang. An einem heiteren, vom grellen Weiss des Schnees überlichteten Märztag stiegen wir aus dem Schanfigg über den Bleisstein zu seiner Kuppe. In weitem Umkreis öffnete sich die Schau, auch im Osten funkelten die Berge, Kette hinter Kette, schweigend und unbewegt auch dort, wo als erstes unheilvolles Zeichen der Zeit Österreich eben überfallen worden war. Die lange Abfahrt vom Gipfel ins Prättigau war gleichermassen belastet von diesem Wissen wie von der Drohung der rutschbereiten Hänge, die wir durchfurchen mussten, um den fernen Talboden zu gewinnen. Und doch war es befreiend, mitten drin zu stehen in den lawinensteilen Borden, von deren Haltung das Leben ebensosehr abhing wie von dem, was sich jenseits der Grenze anzettelte. Die Waldkuppe des Furnerbergs zu erreichen hiess der heutigen Gefahr entronnen sein, und der Wald, der uns in seinen Schutzwall aufnahm, liess uns dankbar zurückblicken auf die Abgründe, die wir durchmessen hatten.

Meine frühesten Wanderungen waren durch den Jura bestimmt, dessen sanfte bläuliche Höhenzüge ich von der hohen Tanne unseres Gartens in Basel sah, an der ich meine ersten Kletterversuche machte. Ich durchstreifte den Jura mit Schulkameraden. Wir übernachteten in Kuhställen, entfachten Lagerfeuer, blieben im metertiefen Schnee an den Raimeux stecken, verwandelten die Weiden und Wälder der Freiberge mit ihren weit verstreuten Gehöften in ein Reich des Wilden Westens, in dem wir unsere Abenteuer zu bestehen hatten. Im Klettergarten bei Zwingen erfuhren wir die Senkrechte des Felsens, die Ausgesetztheit über der Tiefe; unsere Unternehmungen waren oft alles andere als harmlos, wenn wir an glitschigen Grashängen den Halt verloren und verzweifelt und mit dem Versprechen, es nie wieder zu tun, nach einem rettenden Vorsprung angelten, der unsern Sturz aufhielt. Doch schon bald versuchten wir unsere Künste von neuem, ohne dass jemand zu Hause etwas von unseren Taten ahnte.

Jahrzehnte nach der Besteigung des Ago di Sciora weilte ich in Soglio, der « soglia del paradiso », schaute auf zu seiner Lanzenspitze und staunte, dass ich einst so unbekümmert und selbstverständlich auf die hohe Nadel geklettert war. Jetzt stand ich Tausende von Metern unter ihr, und ich hätte diese Fahrt nicht mehr ausführen können.

Mit Franziska und Dino unterwegs vom Hohen Kasten zur Saxerlücke erlebte ich meinen ersten Bergtag wieder, der mich vom Säntis über den Lysengrat zum Altmann führte, und bei der Roslenalp unter den Kreuzbergen jenen andern, da ich in ihren Kalkwänden kletterte, hoch über dem Tod, der an jenem Tage nicht uns, sondern einen jungen Alleingänger wählte, er wie wir getrieben von jenem ungestümen Verlangen, am Rande des Himmels zu stehen.

Immer wieder besuchte ich den Nationalpark, das abendliche Fuorn, den stillen Weiler S-charl, den Arvenwald von Tamangur, das wildreiche Val Mingèr. Es war mir ein Bedürfnis, mich in der ungezähmten Wildnis für Stunden, für Tage zu verlieren. Im Winter durchstreifte ich den Park mit den Skiern. Ich fuhr durch das tückische Couloir des Piz Daint, erklomm den Munt Buffalora und ging den langen Weg zum Munt la Schera im eisigen Wind seines Grates. Und in spätherbstlichen Tagen lauschte ich auf das Röhren der Hirsche in den Wäldern an seinem Fuss. So wurde mir die stete Wiederkehr zum Glück der Gegenwart und zur Erinnerung in einem.

Durch unsere jährlichen Fahrten ans Meer der Côte d' Azur hatte ich das Glück, ein Bergland zu entdecken, die Alpen der Haute-Provence, eine'Landschaft, von der man sich schwerlich ein Bild machen kann, wenn man sie nicht selbst gesehen hat. Wir durchquerten sie auf immer neuen Wegen, über den Col de Vars nach Barcelonnette und weiter südwärts über den Col d' Allos oder die Cayolle, als Abwechslung dazu auch dann und wann von Briançon her, am weiträumigen Stausee der Durance vorbei über den Col des Maures nach Digne, um über Mpustiers-Sainte-Marie den Canon du Verdon zu besuchen, dessen wilde Grossartigkeit man erst voll erlebt, wenn man ihn zu Fuss durchquert. Was dieses Bergland dem Wanderer wie dem Reisenden schenkt, ist eine kaum vorstellbare Grenzenlosigkeit: in diesem Gebiet, das beinahe den zwanzigsten Teil von Frankreich umfasst, ist noch im wahren Sinne des Wortes Raum für die Einsamkeit. Von Briançon bis Grasse, von der Durance bis über die italienische Grenze am Col de Lärche begegnet man wohl einigen Kurorten und Sesselliften, und der grösste Bergsee zwischen der Schweizer Grenze und dem Meer, der oberhalb Colmars-les-Alpes gelegene Lac d' Allos, wird gern und oft besucht, doch im Verhältnis zur gesamten Ausdehnung sind das nur unbedeutende Einbrüche in die Stille.

Diese Basses-Alpes, die in der 3400 Meter hohen Aiguille de Chambeyron kulminieren, werden noch auf viele Jahre hinaus ein Revier für Bergwanderer bleiben, die auch primitive Unterschlupfe ( und zuweilen ein Freilager ) nicht scheuen. Denn hier gibt es keine sinnfälligen Attraktionen und Sensationen der Landschaft im Sinne unserer Alpenberge. Die Zugänge sind lang und oft mühsam. Dafür sieht sich der belohnt, der Freude am Entdecken, am Aufspüren von Routen, am Unvorhergesehenen hat. Er wird dazu wohl brauchbares Kartenmaterial finden, aber einen umfassenden Führer über dieses Gebiet im Sinne unserer Clubpublikationen gibt es noch nicht; der - vergriffene -Führer von Félix Germain, « Escalades choisies », behandelt nur einige ausgewählte Touren, darunter die Kletterzacken der Aiguilles de Pelens, die Massive des Mont Pelat und des Chambeyron. Man wählt sich seine Wege also nach Gutdünken im Einzugsgebiet des Verdon, des Var, der Durance und der Ubaye, sieht rostfarbene Felskämme über Lärchenwäldern und steinigen Alpen, mittelalterlich ummauerte Städtchen, Dörfer in Ruinen und dann und wann die Hütte eines Schäfers.

Was aber ist das Geheimnis dieser Menschenleere, die jene der spanischen Sierra, ja selbst Lapplands, übertreffen soll? Der karge Boden, von dem die verfallenen und verlassenen Bergdörfer zeugen. Der Mensch, der zäh an der Scholle sich festklammerte, wollte es durch Jahrhunderte nicht verstehen, dass ihn diese Erde nicht nähren konnte, dass sich Ackerbau und Viehzucht nicht lohnten. Jetzt endlich hat er seinen Heimatboden aufgegeben, um ihn den Schafen zu überlassen, die nun das weite Gebiet zu Tausenden und Abertausenden in fortwährender Wanderschaft von Weide zu Weide bevölkern und in ihrer Bedürfnislosigkeit dort Nahrung finden, wo sie der Mensch nicht finden kann, und diese Schafherden sind es, die den Bauern der Haute-Provence zu einem neuen, bescheidenen Reichtum verhelfen.

Erst spät erfüllte sich mir der Wunsch, die Brenta-Dolomiten zu erleben. Er war in meiner frühen Bergsteigerzeit entstanden, erweckt durch Schilderungen von Kletterfahrten und Abenteuern mit Bären und Adlern. Vor jetzt dreissig Jahren verbrachte ich mit Freunden einige Tage im Ortlergebiet, und bei einer Autofahrt über den damals halsbrecherischen Passo di Gavia hinunter nach Ponte di Legno sahen wir Adamello und Presanella, die Gletscherreviere der Bergamasker Alpen, denen sich nach Osten die Brenta anschliesst. Damit kam das Gespräch auf diese Felstürme, und mit einem spontanen Entschluss entschieden wir uns zu ihrem Besuch. Aber das Glück stand uns nicht zur Seite. Nicht einen Gipfel bekamen wir zu Gesicht. Der Regen strömte während Tagen ohne Unterlass und ertränkte auch die leiseste Hoffnung auf eine Bergfahrt.

Darüber vergingen Jahrzehnte. Wir waren von den Anhöhen um den Zürichsee ins Tessin gezogen. Verlagsberuf, Reisen und Schreiben füllten die Tage, bis ich entdeckte, dass wir durch den Wechsel des Wohnorts der Brenta auf wenige Fahrtstunden nahegerückt waren.

Eine Gelegenheit zu ihrem Besuch fand sich bald. Durch die windungsreiche Strasse dem Comersee entlang, auf den Schnurgeraden des Veltlins, über den Aprica- und den Tonalepass kamen wir nach Madonna di Campiglio. Noch bevor wir Quartier bezogen, fuhren wir einige wenige Kilometer weiter, bis wir die Brenta vor uns hatten: über dunkelgrünen Waldtälern die im Gelbrot des Abends leuchtenden Wände und Zacken von der Cima di Brenta bis zur Cima Tosa und dem Crozzon, eine Wirklichkeit, welche die Vorstellung von einst überbot.

Auch Campiglio ist dem bequemen Sitzalpinismus unserer Zeit nicht entgangen. Luftseilbahnen und Sessellifte klettern zum Monte Spinale, in die Seitentäler, zu kleinen Bergseen. Der Wanderer und Bergsteiger aber mag erleichtert feststellen, dass diese Hilfsmittel die eigentliche Brenta bis jetzt verschonen und nicht in die unmittelbare Nähe der Hütten und Felstürme führen.

So ist die Brenta heute noch ein Bergland, in dem sich der Bergsteiger unter seinesgleichen befindet. Diese sympathische Atmosphäre umfing uns schon, als wir über das schmale, staubige Strässchen von Campiglio her den Wald unterhalb Casinei erreichten. Junge Menschen entstiegen Autos und Motorrädern, mit Seil, Pickel und Schlosserei behangen, beseelt von der Vorfreude auf den Kampf um den nahen Berg. Hier, wo der Fusspfad steil zur Höhe ansteigt, schieden sich die Geister. Die Bequemen blieben zurück, die das Erlebnis Suchenden aber nahmen auf sich, was der Berg ihnen zu-dachte: Glück und Erfüllung, Mühsal und Gefahr. Und wie sie die Säcke überwarfen und beschwingten, gleichmässigen Schrittes zu steigen begannen, kehrten mir die Jahre wieder, da ich es ihnen gleichgetan hatte. Dass es heute nicht mehr sein konnte, erfüllte mich weder mit Trauer noch mit Melancholie. Denn heute schritten auch Franziska und ich bergwärts, so hoch wir es vermochten, mit der Gewissheit, dass die Liebe zum Berg uns immer noch berührte.

Beim Rifugio Tuckett standen wir zwischen den bizarren Zacken des Castelletto inferiore und den Eis- und Felsbarren der Cima di Brenta; man konnte den Kletterern mit dem Feldstecher folgen und an ihrem Kampf in den Wänden teilhaben. Neben uns starrte eine Frau ins Felsgewirr und erzählte mit besorgtem Stolz, dass Mann und Sohn dort oben kletterten. Jedes Gespräch hier galt dem Berg, seinen Schwierigkeiten und wie man sie meisterte.

Am westlichen Horizont, jenseits tiefer Taleinschnitte, stand die ebenmässige Pyramide der Presanella, und die weiten Gletscher des Adamello verloren sich in einer unzerstörbaren Einsamkeit. An die Hüttenmauer gelehnt, suchte ein Mann mit dem Fernglas die Furchen jener Berge ab. Als ich mich neben ihn stellte, wandte er sich nach mir um, ein altersloses Gesicht, von Freilagern, Sonne und Stürmen gezeichnet.

« Wollen Sie schauen? » fragte er und hielt mir das Glas hin.

« Was gibt es denn zu sehen? » Er lächelte kaum merklich: « Berge, Täler, Wälder wie hier. » « Und Bären? » fragte ich in der Erinnerung daran, was ich darüber gelesen hatte.

« Bären, orsi? » Er dehnte das Wort. « Gewiss, es gibt auch Bären, seit grauer Vorzeit möchte ich sagen, aber man bekommt sie nicht zu Gesicht. » « Es gibt also hier herum immer noch Bären? » « Gewiss », antwortete er, « im Bereich der undurchdringlichen Wälder dort drüben um Adamello und Presanella. Man schätzt ihren Bestand noch auf etwa ein Dutzend; sie leben von jungen Schöss-lingen, Honig und Tieren, die sie reissen. Der Staat zahlt jeden Schaden, den sie anrichten, jede Ziege, jedes Schaf, die sie töten. Die Bären stehen in Italien unter einem absoluten Schutz. Aber ob man sie wird erhalten können? » « Solange jene Wälder stehen », warf ich ein.

« Ja, solange gewiss. In meiner Jugend wurden die Bären aus Unvernunft und Habgier geschossen, gleich sinnlos wie jetzt die wilden Tiere in Afrika. In früheren Jahrhunderten musste sich der Mensch gegen das Tier zur Wehr setzen, heute, da es schon fast zu spät ist, muss man es vor den Menschen schützen.

Ich habe in meinen jungen Jahren als Jäger und Bergführer unzählige Gemsen, Füchse, Rehe und Murmeltiere geschossen, doch den Schwur, niemals einen Bären zu töten, wenn er mir auch unmittelbar vor die Flinte käme, habe ich mein Lebtag gehalten, so schwer es mir einmal auch fiel. Die Geschichte ist kurz. Ich hatte mein Zelt in einer Lichtung des Val Brenta aufgeschlagen und war gleich weggegangen, um einen günstigen Anstand für einen Gemswechsel auszumachen. Als ich bei einfallender Dämmerung auf die Waldwiese zurückkam, hörte ich ein ungewohntes Geräusch und sah, wie sich die Zeltblache bewegte. Erst dachte ich an irgendeinen räuberischen Lumpen, der meine Habseligkeiten durchsuchte. Ich näherte mich behutsam und lugte durch einen Spalt, um zu sehen, dass ein Bär meinen Rucksack auseinandergerissen hatte und eben dabei war, seinen Inhalt zu verzehren, ohne im geringsten auf das zu achten, was um ihn vorging. Ich versuchte, das Tier durch einen Strahl aus der Taschenlampe zu erschrecken. Es stellte sich drohend auf und stiess ein grollendes Brummen aus, und ich muss sagen, es war ein wuchtiger Kerl. Ich liess ihn also in Ruhe meine Vorräte fressen. Dabei hätte ich ihn aus nächster Nähe niederschiessen können und wäre als Held in Pinzolo drunten gefeiert worden. Hinter einem Baumstamm verborgen, wartete ich gegen den Wind, bis der Bär seine Mahlzeit beendet hatte und sich durch die aufgerissene Zeltwand davonmachte. Er liess mir ein zerfetztes Zelt, einen aufgeschlitzten Schlafsack und einen unbrauchbaren Rucksackinhalt zurück; zu essen hatte ich nur noch, was ich zufällig bei mir trug. Übrigens sind Bären dem Menschen nur gefährlich, wenn dieser Lebensmittel auf sich trägt. Um in ihren Besitz zu gelangen, können sie einem ein Bein oder einen Arm ausreissen. Ich verstrebte und verschloss das Zelt, so gut es mir möglich war, doch der Schlaf wollte nicht kommen Ich lauschte durch die Stille auf das Schnauben und Tappen des Bären. Aber er kehrte nicht zurück. » « Und heute? » « Heute? » Der Jäger lachte. « Heute benützt man die Bären als Lockvögel für die Touristen: Besucht das letzte Refugium des Alpenbären! Gewiss, sie sind vorhanden, aber, wie ich schon sagte, keiner dieser Neugierigen wird sie je zu Gesicht bekommen Sie leben ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Welt, in diesen Wäldern, die ja, Gott sei es gedankt, immer noch über alle Massen wild und schwer zugänglich sind. » Wir standen nebeneinander und blickten auf jenes verwunschene Land, das seine Geheimnisse nicht preisgeben wollte.

« Manchmal », fuhr der Jäger fort, « wache ich auf in meiner Blockhütte drüben an der Waldgrenze des Val di Genova und horche auf die Geräusche der Nacht: nach dem weichen Tritt eines Bären, nach einem Knacken im Unterholz, nach einem unwirschen oder zufriedenen Brummen, was weiss ich. Und in der angespannten Stille denke ich daran, dass zu dieser Stunde irgendwo in diesen Wäldern ein Bär seines Weges trottet, auf freier Wildbahn. Und mich erfüllt der Gedanke, dass das heute noch möglich ist, mit einem unerklärlichen Gefühl des Trostes. Können Sie das verstehen? » Ich nickte ihm zu und sah in sein von Runen durchzogenes Gesicht, das so viele Sommer und Winter inmitten der Berge und Täler seiner Heimat gesehen hat, verbunden mit allem, was sie bevölkerte, und selbst ein Teil davon.

Der Tag verglühte in den Wänden des Castelletto inferiore, verwandelte seinen Dolomitenturm in eine Gralsburg und das Gletscherreich des Adamello in ein unerreichbares Land.

Am nächsten Morgen stiegen wir zum Rifugio ai Brentei hinauf, das über dem Waldgrund des Val Brenta liegt. Vor der Hütte sahen die Leute fasziniert auf die tausend Meter hohe Wand des Crozzon, durch welche Kletterer nun schon den zweiten Tag aufwärtsklommen, nachdem sie in der vergangenen Nacht ein heftiges Gewitter schutzlos überstanden hatten. Sie müssten noch mit wenigstens zwei weiteren Biwaks rechnen, sagte der Hüttenwart, die Wand sei vor zwei Jahren zum erstenmal in der Fallinie durchstiegen worden.

Erfüllt von den Visionen der steinernen Welt, gingen wir talwärts. Grösser und wunderbarer noch als diese Berge aber war das unerwartete Geschenk, das uns auf dem abendlichen Gang nach Madonna di Campiglio zuteil wurde:

Beim Eindämmern setzten wir uns an den Wegrand, und mit einem Male kam jenes Unerklärliche auf uns zu, jener Friede, von dem es heisst, dass er höher sei denn alle Vernunft. Wir wurden von ihm angerührt, er löschte jeden Zwiespalt und schenkte uns in der kurzen Frist dieser Rast die Harmonie einer Einheit und Unteilbarkeit, die wir nur als eine unverdiente Gnade empfinden konnten. Der Crozzon stand mit seiner sonnenlosen Wand als mächtiger Schatten hinter uns, und jenseits des grossen Tales lagen, überströmt vom letzten Licht, Adamello und Presanella wie eine Verheissung am Horizont, über ihnen die uferlose Ferne, deren Lockung uns über die Kimmung der Erde hinausruft zu neuen Ufern.

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