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Ferne Sicht

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Zwiegespräch von Hans Trümpy.

Was suchst du in den Bergen? Die Stimme, die dir längst verloren ging, ein Verhältnis zur Natur, dass sie dich tröste. Sinnbildlich fühlst du dich gehoben mit der Höhe, die du überwindest. Aber es ist alles Schein. Ob du unten im Tale gehst oder oben den Grat erklimmst, du bist derselbe. Die Natur kommt dir nicht entgegen, sie spricht nicht zu dir, sondern ist stumm, unendlich schweigsam. Wohl empfindest du ihre Schweigsamkeit, aber du sprichst dazwischen, es ist dein Schweigen, das zu dir redet, das du bescheiden den Bergen, Tälern und Seen andichtest, die ganz anders schweigen wie du, nicht laut, nicht redselig, nicht bewunderungssüchtig, nicht gefühlsselig. Sie kümmern sich gar nicht um dich, du bedeutest ihnen nichts, du legst deine Bedeutung und dein Mitleiden mit dir selbst hinein.

Ich halte doch Zwiesprache mit der Natur. Ich steige mit meinen Nöten hinauf. Wie grau schleicht die Langeweile im Hause umher in zerlumpten Wollfinken, schlechten Kleidern, die Haare unordentlich um die Stirne! Immer derselbe Tramp, keine Gefahr, kein Einsatz, gutbürgerliches, friedliches Dasein, niemandem zu Liebe, niemandem zu Leide, ein wenig wohltätig, ein wenig Neid, ein bisschen Triumph, ein billiges, schlechtes Gebäck aus dem Mehl der Tugend, dem Zucker des Ansehens und dem Salz der Überlegenheit über den Nächsten. Da freue ich mich, wohlbepackt hinaufzusteigen, je schwerer die Last, desto schöner der Lohn. Der Sturm pfeift, dass ich mich auf dem schmalen Grat auf den Bauch legen muss, die Kälte fährt durch Mark und Bein, die Sonne dringt aus den Nebeln, der Himmel lacht, wie er dem ersten Menschen entgegen blaute, göttliches Spiel, Glanz und Tanz des Schicksals, das in der bürgerlichen Wohnstube längst verscheucht ist. Das einfache Leben in der Berghütte, die Handreichungen, Feueranzünden, Wasserholen, Tischdecken, Brotschneiden, Suppekochen, Aufräumen, Deckenzusammenlegen, Wischen, die Fensterläden schliessen, Abschiednehmen mit dem Versprechen, wieder zu kommen, diese Bergkameradschaft, dieses Auge in Auge mit Gefahr und Tod, und du willst mir meine Berge nehmen, verkleinern? Ihnen danke ich doch dies alles, die ausgeglichene Ruhe, das Stillesein. Ich weiss, ich kann nicht immer in der Höhe leben, ich muss wieder hinunter ins Tal, aber mit welchem Mut! Eine Zuversicht, die mir die Arbeit während der Woche erleichtert, mich zwingt, nicht über die Schnur zu hauen, damit ich am Samstag frisch bin. Ich kenne nichts Schöneres, nichts, das mir diese Freude je ersetzen könnte!

Dennoch bist du es, der da spricht, nicht die Natur. Sie rede eine gewaltige Sprache, pflegst du zu sagen. Ja, aber immer doch nur deine Sprache.

Kennst du eine andere? Was kümmern mich deine Spitzfindigkeiten, da doch alles so wunderbar einfach zugeht? Ich habe das Erlebnis, das mir teuer ist, wie will ich da noch lange hinter das Geheimnis kommen? Werden wir die Berge je erkennen? Auch wenn wir jedes Steinchen mit Namen nennen, so bleibt uns ihr Geheimnis doch verborgen.

Jetzt verstehen wir uns, wir sind uns schon näher gekommen. Sobald wir das Geheimnis wirklich sehen, nicht mehr uns selber, dann spüren wir etwas vom Schweigen der Berge. Dann reden sie zu uns, nicht wir zu ihnen. Gott ist uns verborgen, er hat die Berge geschaffen, damit wir seine Grösse ahnen, aber wir erfassen ihn nie. Ist es nicht so, dass Gott uns die ferne Sicht geschenkt hat, als ob er uns zu sich rufen wollte? Wie verlangt unser Herz danach, dem Horizont entgegenzueilen, aber immer entsteht neuer Horizont, neue Sicht 1 So stillt er unsern Wunsch nach Offenbarung, immer neuer Offenbarung nie. Wie, wenn wir nicht mehr auf die Berge steigen können? Was sollen die armen Menschen tun, die im Tale bleiben müssen?

Aus der Erinnerung leben. Erinnerung ist auch Wirklichkeit, oft schöner als die wahre Wirklichkeit.

Wissen wir denn, was Wirklichkeit ist? Wüssten wir es, so wären wir nicht mehr wirklich; sie bleibt Geheimnis, wir können von ihr nur mittelbar reden, etwa so, wie wir über Musik sprechen. Worte geben Musik niemals wieder. Oder wir haben eine Vorstellung von ihr, so wie wir ein Bild von uns selber machen, wir können uns selber nicht sehen, nicht einmal im Spiegel, der die Seiten verkehrt wiedergibt; wir stehen da einem gegenüber, der eine Rolle spielen will.

Das Geheimnis der Berge liegt vielleicht darin, dass ich von mir selber loskomme, wenigstens für eine Weile; ich sehe eine mächtige Schöpfungstat, kühne Zinnen, gewaltige Gletscher, sie werden mir lebendig, sie atmen wie wir, sie spannen unsere Blicke höher und höher, während der Himmel im Flachland oft so niederdrückt.

Ich gebe dir dies alles zu, will dir die Lust an den Bergen nicht nehmen, nur eines musst du mir zugeben: Du weichst da oben dem Kampfe aus, ja, dir selber entfliehst du, trotz den Gefahren, die du überwindest. Du suchst eine Harmonie, einen Frieden, den du im Tale, im « grauen Alltag », nicht findest. Die Wirklichkeit zwischen Mensch und Mensch sieht ganz anders aus als die Wirklichkeit zwischen dir und den Bergen, oder nicht?

Ich weiss, wohin du zielst. Du willst mir wieder einmal das berühmte « Entweder-Oder » entgegenhalten, entweder eine harmonische, schöne Lebenshaltung, die über die Leiden und Schründe des Lebens hinwegsieht, oder eine « sittliche » Haltung, die nichts höher schätzt als das Gute. Nun scheint mir aber, dass du diese zwei Lebenshaltungen, die griechische und die christliche, künstlich trennst, denn in Wirklichkeit sind beide Lebenshaltungen im selben Menschen stets vereint, und diese Wirklichkeit ist mir wichtiger als deine verstandesmässige Scheidung. Ich nehme den Menschen, wie er ist, nicht wie ihn die Bücher schildern. Die Berge sind mir Sinnbild für Wahrheit, Ehrlichkeit, ihnen kann man gar nichts vormachen, die Lügen zerschellen an den Felswänden.

Jetzt verstehen wir uns wieder nicht und stehen noch am Anfang unsres Gesprächs. Ich will dir deine Berge nicht nehmen, steige getrost hinauf, jeden Samstag und Sonntag 1 Glaubst du nicht, dass deine Frau und Kinder hungern nach dir? Du wendest ein, du gingest ja auch hie und da mit ihnen auf einen Berg. Gewiss, nun sei aber wirklich ehrlich und aufrichtig, glaubst du nicht, dass dir die Berge lieber geworden sind als Frau und Kinder? Ich glaube, du siehst es schon für eine grosse Tat an, wenn du dich ihrer einmal, zur Abwechslung, weil man schliesslich verheiratet ist und in Gottes Namen Kinder hat, annimmst? Bist du wirklich über die enge Bürgerlichkeit hinaus? Benimmst du dich hier nicht ganz spiessbürgerlich?

Ich kann dir dies nicht zugeben. Spiessbürgerlich wäre doch, zu Hause zu bleiben, ein Spielchen zu spielen, den berühmten Sonntagsnachmittags-spaziergang mit Familienleben am Waldrande auszuführen, den unvermeidlichen Schoppen zu trinken, kurz, das Leben des braven Biedermannes zu mimen, der sich von Frau und Kindern den Bart streicheln lässt.

Du vergleichst dich, wie dies so üblich ist, nach unten, statt nach oben, du rechtfertigst dich mit dem Philister, den es in der von dir geschilderten Reinheit wahrscheinlich gar nicht gibt, du begnügst dich damit, dass andere viel schlimmer sind wie du.

Wie soll ich mich denn verhalten?

Du musst dich gar nicht verhalten. Solange deine Berge nur dir gehören, siehst du auch nur dich in ihnen. Ist es dir aber einmal wirkliche Lust, mit deiner Frau und deinen Kindern in die Höhe zu steigen, dann verschwinden Gesetz und Regeln, dann — doch das ist ferne Sicht.

Du beunruhigst mich doch ein wenig. Glaubst du, dass mir die Berge noch immer Götzen sind?

Solange die Berge nur zur Selbstvergottung des Menschen da sind, werden sie ihre wahre Sprache nie reden, nie ihr wahres Schweigen offenbaren; denn die Berge stammen aus dem Jenseits wie du und ich, sie geben ferne Sicht, und es geziemt sich, dass wir unsre Augen zu ihnen emporheben.

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