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Frühlingsfahrt zum Gran Paradiso

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Mit 4 Bildern ( 36—39Von Albert Keiser

( Zug ) Wenn man nach einer erlebnisreichen Woche im Berner Oberland und Goms mitten in den blühenden Frühling rings um Brig hinein fährt und aus den kleinsten Gärtchen die Pfirsichblüten wie rosige Wolken leuchten, wenn allüberall auf Hügeln und an Hängen samtene Anemonen und tiefblaue Enziane den Jubel neuerwachten Lebens singen und an allen Sonnenseiten aus düsterem Fels und totem Grau und Braun das herrliche Grün der Lärchen aus roten Stämmen und knorrigen Ästen zu spriessen beginnt, ja dann hält es eigentlich schwer, neuerdings der kalten und unerbittlichen Strenge des Winters entgegenzufahren. Doch droben in Zermatt warten die Freunde und mit uns reisen leichte Pickel und kurze Ski, und wie icn* sie mit einem warmen Blick umfange, wird mir auch der Abschied vom Frühling leicht, und in der frohen Zwiesprache von « weisst du noch » und « wie war es schon » wird Bild um Bild von alten Erinnerungen wieder lebendig, und ich spinne den Faden vom Gestern zum Heute und zu kommenden Dingen, so dass ich in froher Stimmung in Zermatt einfahre und es ohne besonderen Ärger ver-merke, dass der fahrplanmässige Zug der Gornergratbahn mit den ansässigen Hotelgästen ohne uns abgefahren ist und uns gewöhnliche Touristen fast eine volle Stunde sitzen lässt.

So wird es reichlich spät, bis wir endlich auf Rotenboden abgesetzt werden und die ruppige Abfahrt zum Gornergletscher hinunter antreten können. Trotz unseren schweren Säcken werden wir mit dem tollen Slalom zwischen Fels und Eisbrocken hindurch noch leidlich fertig, betreten aber das stillere Gelände des Gletscherstromes doch mit einigem Aufatmen.

Rasch queren wir hinüber zum Theodulgletscher und nehmen den prachtvollen Aufstieg über den breiten und bequemen Gletscherhang in Angriff, der in den letzten Jahren sozusagen zu einer klassischen Heerstrasse geworden ist. Heute aber sind wir allein. Das Wetter war ja in der letzten Zeit denkbar schlecht, und von « Frühlingsskifahrten » im eigentlichen Sinne des Wortes konnte bisher kaum die Rede sein. Rasch höher kommend, geniessen wir die ständig wechselnden Einblicke in die Riesenabstürze der Nordflanke des Breithorns und des Klein-Matterhorns, in welche die späte Nachmittagssonne immer tiefere Schatten und Kontraste hineinwirft. Mit der Zeit aber springt ein recht frisches Lüftchen auf. Wir begrüssen diesen verheissungsvollen Boten aus dem Norden, der nun endlich diese unsicheren Vaganten aus dem Westen ablösen will. Aber als wir in die breite Mulde gegen den Theodulpass einbiegen, ist aus dem « Lüftchen » schon ein übermütiger Bengel geworden, der in tollem Spiel weisse Schneefahnen emporreisst und den Schnee wie Rauch über alle Gräte jagt. Sobald wir unter dem italienischen Rifugio nach Westen umbiegen, stehen wir mitten im Hexensabbat drin. Wilde Wirbel umtanzen uns, und der feste Boden ist zu einem Meer von fliessenden Schnee- strömen geworden. Und dann erfahren wir, wie auch ein regelrechter Gutwetterwind für den Skifahrer seine Tücken haben kann. Die nach Aussage der Führer wunderbare, sulzige Abfahrtsstrecke nach Breuil wird durch ihn in eine regelrechte Eisbahn verwandelt, hart wie ein Gletscher und durchsetzt von steinharten Geleisen. Darauf versagen auch unsere Stahlkanten völlig und der Bruchharsch neben der Piste ist von so währschafter Qualität, dass wir auch mit unseren « Kurzen » keinen Schwung mehr fertig bringen. Schuss-Punkttechnik verträgt sich wenig mit schweren Säcken, und so fahren wir denn wie in Urgrossväters Zeiten mit Spitzkehren und anderen, wenig eindrucksvollen Künsten dem gelobten Lande entgegen. Halbwegs lockt von einem Plateau mit dem ominösen Namen « pré du veau » ein wohlgebauter Albergo, dem unser Kamerad, seiner besonderen Qualitäten halber sei er Cicerone genannt, mit erstaunlicher Zielsicherheit entgegensteuert; wir andern aber finden, dass dort noch keineswegs unsere « Weide » sei, wir fürchten die weitere Vereisung der Bahn auch im unteren Teil und möchten die verdiente Restauration e'st ans Ende des « Cresta-Run » verlegen. So muss auch unser Kamerad schmerzlich Abschied nehmen. Der Lohn für den heroischen Entschluss lässt nicht lange auf sich warten, denn oberhalb Breuil stellt sich auf der Piste Sulzschnee ein, der es uns ermöglicht, freilich unter Einsatz der letzten Reserven, dem versammelten Kurpublikum eine würdige Demonstration der alpinen Fahrtechnik vorzuführen! In Breuil halten wir uns nur so lange auf, bis wir einen kleinen Schwarzhändler ausfindig gemacht haben, der uns in seinem mit Blachen überdachten Lieferungswägelchen nach Châtillon hinunterbefördert, in einer Fahrt von echt italienischem Schwung und Rasse, deren unüberbietbare Kurventechnik wir nur mit einer tüchtigen Dosis Galgenhumor auszubalancieren vermögen. Vor dem Bahnhof klettern wir mit Erleichterung aus der « Schmugglerkiste », freuen uns an dem prächtigen Blick auf Schloss und Städtchen, die weit hinausschauen ins Aostatal und hinunter ins Piémont.

Auf der Bahnfahrt nach Aosta werden wir noch die Opfer einer kleinen Bahnräuberei, indem uns im Zuge für unsere mitgeführten Ski ein so horrendes Lira-Opfer abgefordert wird, dass der klägliche Rest unserer italienischen Devisen nicht einmal mehr für ein Trinkgeld reichte.

Aosta ist die Hauptstadt der autonomen Republik Aosta, die von Courmayeur bis nach S. Martin hinunterreicht. Ihre Autonomie im Rahmen des italienischen Staates steht freilich auf recht wackeligen Füssen, und die eindeutig nach Frankreich orientierten Bewohner fühlen sich in dieser relativen Selbständigkeit weder wohl noch sicher. In landschaftlicher, klimatischer und ethnographischer Hinsicht gleicht das Tal stark dem schönen Veltlin.

Gleich gegenüber unserem Hotel befindet sich das Regierungsgebäude, in dessen einem Flügel die Sektion Aosta des Club Alpino Italiano ihr feudales Heim aufgeschlagen hat. Dort hoffen wir wertvolle Auskünfte über die Möglichkeiten unserer geplanten Paradiso-Tour zu erhalten. Nach einigen vergeblichen Versuchen, unseren äusseren Habitus in die den Umständen entsprechenden würdigen Formen zu bringen, schreiten wir in gesammelter Haltung die breiten Steintreppen hinauf. Durch einen weiten Gang erreichen wir eine Art Bar, wo wir uns nach dem Klubpräsidenten erkundigen. Als dann dieser im klaren ist, dass uns keinerlei gesellschaftliche Bedürfnisse herführen, holt er gleich den Fachmann Nr. 1 herbei, einen Ingenieur der nahen Eisenbergwerke von Cogne. Es ist ein erfahrener, tüchtiger Bergsteiger, und wir erhalten nicht nur erschöpfende und sachkundige Auskunft, sondern auch eine Einladung zum Besuche der Bergwerke, deren Produkte in den bedeutenden Giessereien verhüttet werden, die hinter unserem Hotel die Nacht mit ihrem feurigen Lichte erfüllen.

In angeregter Unterhaltung verrinnen die Stunden, dank der munteren Gesprächigkeit unseres Kameraden, dem das vertraute italienische Idiom wie Balsam aus der Seele tröpfelt. Auch die ausgesprochene Originalität in Aussehen und Gehaben unserer Amazone zieht die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf sich, so dass ich in aller Musse Gelegenheit habe, den feudalen Klubbetrieb zu beobachten. Die Frauenwelt, auch die jugendliche, ist gut vertreten und beschäftigt sich, soweit ich feststellen konnte, nebenan mit Spiel und Tanz. Ping-Pong, Schach, Gesellschaftsspiele stehen zur Verfügung. Zwischenhinein holt man sich aus der Bar einen Kaffee oder ein Schnäpschen. Nur die finsteren « Alpenböcke » verziehen sich mit ihrem Rauchzeug ins « Herrenzimmer » auf der anderen Seite. Ich muss dem C.A.I. zugestehen, dass er es versteht, seinen Klubbetrieb anziehend zu gestalten und in äusserst erfolgreicher Form das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass auch wir erst viel später als beabsichtigt den Heimweg unter die Füsse nahmen.

Der folgende Morgen gilt der Besichtigung der einige hübsche alte Gassen aufweisenden Stadt. Unser Cicerone übernimmt unterdessen die Erledigung der finanziellen Formalitäten sowie die delegationsweise Vertretung beim C.A.I. Aus der Dauer seiner Abwesenheit schliessen wir, dass mit seiner Mission noch ein gut fundierter Apéritif verbunden war.

Am späten Nachmittag führt uns dann ein kleines Auto bei strahlendem Wetter und südlicher Wärme talaufwärts, nach Villeneuve, einem alten, schmutzigen Nest, das von einer prächtigen Burgruine überwacht wird. Dort schwenken wir in ein Nebental ein, das Val Savaranche, eines der drei grossen südlichen Nebentäler des oberen Aostatales. Da der Hauptfluss, die Dora Baltea, stärker erodiert hat als die Nebenbäche, erfolgt die Einmündung der letzteren in hohen Steilstufen, die von der Talstrasse aus in grossen Kehren überwunden werden. Als wir, hoch über der Schlucht, den Kulminationspunkt erreicht haben, erklärt unser junger Wagenführer das Strässchen als nicht mehr « carrozzabile ». Da uns aber die Abfahrt vom Theodul und wohl auch der strapaziöse Abend fühlbar in den Knochen liegen, versuchen wir es mit einer kleinen Bestechung. Dass sie uns gelungen ist, das sollte uns noch bitter reuen! Das Strässchen wird bald so schmal wie die Radspur unseres Wagens, und in den tieferen Waldpartien ist es von Schneeresten durchsetzt, deren kotige Schmelzwasser über den Strassenrand ins steile Tobel rinnen. Steine und Holzreste wechseln mit tiefen Gräben und Löchern. Wir sind alle einig, dass wir so etwas noch nie erlebt haben! Doch der kleine Teufelskerl von Chauffeur bringt uns heil zur « Charybdis Schlund », und mit einem Seufzer der Erleichterung entsteigen wir dem Todeskarren! Unsere streitbare Gefährtin, mit ihren Nerven zäh wie Telephondrähte, setzt sich erledigt an das Strassenbord, was uns einige aufmunternde Bemerkungen abfordert! Die Quittung dafür wird umgehend präsentiert: wir hätten gut lachen, wir in unserem Alter! Als angehende Fünfziger müssen wir den weisen, schlagfertigen Spruch gelten lassen.

Der Weitermarsch in das durch riesige Lawinen gesperrte Tal hinein vollzieht sich eine Zeitlang ohne den gewohnten « munteren Fluss der Rede ». Der Frühling steht hier noch in hartem Kampfe mit dem sich nur langsam zurückziehenden Winter. Schneereste, Kot und Wassertümpel bezeichnen auf stundenlanger Strecke diese Kampflinie. Dann und wann taucht hinter einer Wegbiegung ein einsames Dorf, ein Weiler auf, und selten nur begegnen uns vereinzelte Talbewohner. Im Laufe des Nachmittags erreichen wir, des ewigen Skitragens schon etwas müde, den Hauptort des Tales, Savaranche, das Eingangstor zum berühmten Steinbock-Wildpark des einstigen Herzogs von Aosta, dessen Burgen und Schlösser über allen Höhen des langen Aostatales stehen. Ein Teil des Dorfes liegt in Trümmern, darunter das Pfarrhaus, das niedergebrannt wurde, weil der geistliche Herr verwundete Partisanen beherbergte. So folgen uns die Spuren des Krieges bis hinauf in die letzte Siedelung « Les Eaux Rousses », die wir bei einbrechender Dämmerung erreichen. Der Name des Weilers soll von heilkräftigen Quellen stammen, deren rote Wasser in der Nähe aus dem Boden quellen.

Der einzige kleine Albergo ist unter den paar wenigen, armseligen Hütten leicht zu finden. Durch eine Art Torbogen treten wir in ein Untergeschoss und von dort in einen vielfach gewölbten Winterraum, der gleichzeitig Gaststube, Küche und Schlafraum ist. Die Betten sind, wie in den Nordländern, als kastenartige Nischen eingebaut und vorn mit Stoffvorhängen abgeschlossen. Das Prunkstück des Raumes aber ist seine Bewohnerin, ein handfestes, etwa 20 Jahre altes Mädchen, etwa einem « wildschweifenden, schönen Raubtiere » vergleichbar, dessen hochblonde Mähne wahrscheinlich in den Eaux Rousses gebleicht wurde! Uns « jungen Männern » bleibt fast der Atem weg, solch ein Geschöpf wäre das letzte gewesen, was wir in diesem entlegenen Nest erwartet hätten, so mutterseelenallein hausend in dieser RäuberhöhleUnseren sonst nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden Cicerone hat das Erlebnis völlig aus dem Geleise geworfen, und nur zaghaft bringt er unsere Anliegen vor, während ich ihm, mühsam nach Worten ringend, zu Hilfe eile. Schliesslich aber erfahren wir doch, dass im oberen Stock gute Betten zur Verfügung stehen, dass aber sehr wenig Auswahl im Essen vorhanden sei, da um diese Zeit keine Gäste erwartet werden. Auch Wein ist vorrätig, und unser Kamerad, der Kenner, stellt rasch genug seine zweifelhafte Qualität fest.

Betreffend die Klubhütte Vittorio Emanuele können wir keine genauere Auskunft erhalten. Sie scheint in den letzten Jahren nur noch von Partisanen und Flüchtlingen benutzt worden zu sein.

Es ist inzwischen dunkel geworden, roter Feuerschein liegt über der Küchenecke, in der der Herd steht, und aus dem Halbdunkel leuchtet nur noch die lohende Mähne; zeitweise, wenn eine Pfanne mit Schwung ab- gehoben wird, brennt die ganze Gestalt im roten Lichte, das auch in die verrussten Nischen hineinzüngelt und schlaglichtartig Tag gegen dunkle Nacht setzt. Es ist ein ganz unwirklich-gespensterhaftes Bild — so Ähnliches mag seinerzeit Doktor Faustus im Bocksberg gesehen haben!

Aber mit der Zeit wurde der düstere Raum mollig und warm; es wird menschlicher und die Schauer lösen sich in ein sympathisches Fluidum auf, das sich geheimnisvoll aus der russigen Ecke zu unserem Tische ausbreitet. Paul rückt näher an den Herd und spricht mit Todesverachtung seinem « Sauren » zu, manch sinniges Wort zwischen kurzen Schlückchen einflechtend. Seine Vorliebe für Blond wird immer offensichtlicher, wennschon er seinerseits bis anhin der Meinung war, nur die Schwärze der Nacht entspreche seinen Gefühlen! Die Sphynx aber waltet in geheimnisvoller Unparteilichkeit ihres Amtes. Im Verlaufe des Abends erhalten wir so allerhand interessante Auskünfte, aber über persönliche Belange schweigt sie sich nach wie vor hartnäckig aus. Weder mit heimischem Piemontesisch noch schmelzendem Toscanisch vermag Cicerone in dieser Richtung Eis zum Schmelzen zu bringen. Mit umwölkter Stirne ziehen wir uns daher nach einigen versteckten Rück-zugsgefechten in unsere Schlafkammern zurück, deren Temperaturverhältnisse ganz geeignet sind, erhitztes Blut ruhiger fliessen zu lassen.

Es ist noch früher Morgen, als wir in der Hexenküche unseren Zaubertrank serviert bekommen. Der blonden Venus scheint unsere völlige Harmlosigkeit restlos aufgegangen zu sein, und auch die kühnen Züge unseres Kameraden mit dem scharfen Adlerprofil können sie nicht mehr beunruhigen. Unbefangen unterhält sie sich mit jedermann, und zuletzt kommt sie gar noch mit drei Wolldecken angerückt, für den Fall, dass etwa nichts Derartiges in der Hütte zu finden wäre. Mit gemischten Gefühlen schnallen wir auch noch das zusätzliche Paket auf unsere Rucksäcke. Dabei komme ich um die bittere Feststellung nicht herum, dass Cicerone das wärmste Stück erhalten hat. Es ist darum auch nur recht und billig, dass er schon beim Aufstieg von dieser Wärme gebührend profitiert!

Es lässt sich prächtig ausschreiten auf dem hartgefrorenen Schnee, und in gehobener Stimmung erreichen wir schon nach einer kleinen halben Stunde die Ansiedelung « Les Ponts ». Ein hübsches Sommergasthaus steht auf diesem lieblichen Alpgelände, das den Blick freigibt nach dem Talanfang, der über sanfte, lange Hänge hinaufsteigt in den blauen Südhimmel hinein, sich in fein geschwungenen Gräten absetzt, links gegen die Gipfel des Gran Paradiso, rechts gegen die des Grand Sassière. Zu unserer Rechten gabelt sich das Tal zum Übergang in das Val de Rhèmes, während nach der andern Seite ein Pass ins Val de Cogne hinübergeleitet. Wir aber wandern noch ein Stück weiter über den offenen, ebenen Talboden und folgen dann nach links einer alten Spur, die sich durch eine kleine Schlucht von Band zu Band hinaufwindet. Der Aufstieg ist äusserst steil und führt über hartgefrorenen Schnee. Die letzte Felsstufe, in der die schluchtartige Kehle ausmündet, überklettern wir mit aufgeschnallten Ski und gelangen so auf etwas gangbareres Gelände. Durch Mulden und um Bänder herum erreichen wir schliesslich die breite Stufe, auf der die Hütte liegt. Schon von weitem erblicken wir die glänzende, halbtonnen- förmige Blechschachtel, welche dereinst die neue Hütte sein soll. Die alte, schwer zu unterscheiden, erhebt sich etwas oberhalb nur wenig aus den Felsschroffen. Mit gespannter Erwartung nähern wir uns diesem flachen Bau, der mehr einem Alpstall als einer Klubhütte ähnlich sieht. Wir umkreisen sie, um einen Zugang zu finden, aber Türen und Tore liegen tief unter Eis und Schnee vergraben. Schliesslich entdecken wir einen « Eingang » an der Ostseite, ein Laden ist dort losgerissen und die Fenster sind eingedrückt. Durch die so gebildete Öffnung schicken wir unsere Gefährtin mit der schlanken Linie auf Kundschaft. Bald hören wir nur noch einiges Rumoren, und dann herrscht Stille. Wie ist'sGut ist'sHat's DeckenDecken und Stroh in Hülle und FülleWir erweitern den Eingang und springen von der Brüstung ins Halbdunkel. Nun sehen wir mit was für einer Sorte von Komfort wir es zu tun haben. Der Raum ist zu einem Drittel mit Schnee angefüllt und auf den Pritschen liegt ebenfalls molliger Pulverschnee, also Decken mehr als uns lieb ist! In der Mitte des Ganges steht ein runder Blechkübel, ebenfalls im Schnee vergraben! Wir sehen einander an. Ja, hier müssen wir uns schon auf eine abwechslungsreiche Nacht gefasst machen, wenn wir nicht lieber auf den Paradiso verzichten und gleich wieder zu Tal fahren wollen. Aber daran denkt von uns keiner. Das Wetter ist ja wundervoll und verspricht einen, herrlichen Aufstieg auf den so schwer umworbenen Viertausender. So machen wir uns denn mit Eifer an die Arbeit, um unsere Gletscherhöhle wohnlicher zu gestalten. In stundenlangem Mühen schaufeln wir den Schnee mit Brettern zum Fenster hinaus, werfen die Eisbrocken nach, graben den « Kochherd » alias Blechkiste heraus und bringen schliesslich auch den richtigen Eingang frei. In der nur halb vollendeten neuen Hütte liegt auch genug Abfallholz herum, und unter der Pritsche finden wir ganze Baumstämme, so dass wir auch gleich mit der Heizerei beginnen können. So lange ein Feuerlein unter unserem Kessel brennt, gibt keiner nach!

Unterdessen geht der lange, strahlende Bergnachmittag und mit ihm auch der herrlich warme Sonnenschein seinem Ende entgegen. Langsam versinkt die Sonne im blauen Dunst der Grajischen Alpen, und die eisigen Schatten der Nacht greifen auch nach unserer angenehm durchwärmten Hütte.

Wir schliessen das « Entrée » und verstopfen die zerbrochenen Fenster mit Stroh, verwandeln unsere Blechkiste in einen Dauerbrenner und stellen uns vor, dass er prächtige Wärme verbreite. Abwechslungsweise blasen wir in die Glut und versuchen mit Beharrlichkeit, dem Rauch den richtigen Weg zu weisen. Zuletzt verkriechen wir uns zwischen Stroh und Decken und schlafen, wenigstens zeitweise, den Schlaf derer, die ein gutes Gewissen haben — was ja den Bergsteigern vorab zukommt.

Da uns keine überschüssige Bettwärme zurückhält, sind wir zeitig auf den Beinen, und bald treten wir, geschützt und gewappnet gegen die steife Bise, vor die Hütte. Nach einem verharschten Schräghang und einigen hundert Metern Aufstieg traversieren wir in eine ziemlich flache Mulde hinein, die so harmlos zur Höhe geleitet, dass in uns der Verdacht aufkommt, das dahinter aufsteigende Gipfelgebilde könne doch keineswegs zum Gran Paradiso gehören. Wir queren daher noch weiter nördlich, um eine Gratrippe zu gewinnen, die den Gletscherhang umgeht. Auf diesem Umweg steigen wir weiter oben, wo die Übersicht eine klare Entscheidung erlaubt, wieder in die Mulde hinein. In mühsamer Spurarbeit erreichen wir schliesslich den steilen Südabfall des Berges und erklettern ihn über einen zerrissenen Trümmergrat — mit geschulterten Ski.

Dort, wo er in die steile Firnhalde ausläuft, setzen wir uns auf herrlich durchwärmten Felsplatten zu einer längeren Rast. Die Aussicht ist so prachtvoll und die Ruhe so verlockend, dass wir uns fast versucht fühlen, auf den zähen Rest des letzten Aufschwunges zu verzichten, um so mehr als dessen sturmzerfressene Schneeflanke keine besonderen Abfahrtsfreuden verspricht. Aber, wie gewohnt, lassen wir unsere defaitistischen Gefühle nicht laut werden und besinnen uns auf das bergsteigerische bessere Ich. Einen steilen Eiswulst überlisten wir nach links und stehen plötzlich vor einem Riesenab-sturz, einer Eisschlucht, die den ganzen Berg durchreisst. Auf schmalem Harteisband queren wir nach rechts und übersteigen so die Schlucht. Dann stapfen wir die gewaltige Freitreppe hinauf, die der Wind in unermüdlicher Arbeit in den harten Schneehang gesägt hat. Oben, vor der Scharte, wo der eigentliche Gipfelgrat beginnt, lassen wir unsere Ski zurück und traversieren die Lücke, Stufen schlagend, möglichst tief. Die Vorsicht ist sehr am Platze, denn plötzlich löst sich bei einem Pickelschlag die ganze Firnmasse, die die Scharte ausgefüllt hat und stürzt mit donnerähnlichem Getöse über die gewaltige Ostwand zur Tiefe. Noch lange hallt das Krachen in den Bergen wider, und tief unten auf dem Ghiacciaio della Tribolazione sehen wir die gewaltige Lawine rauchen. Mit doppelter Vorsicht höhlen wir unsere Stufen und erreichen bald den sicheren Gratfelsen. In anregender, leichter Kletterei übersteigen wir die letzten Blöcke und Zacken und stehen dann endlich auf dem Gipfel des Gran Paradiso.

Die Aussicht ist umfassend und reicht von den Ostalpen bis zum Ligurischen Meer. Sie ist so weit, dass das einzelne völlig verschwindet. Bekannte Schweizer Gipfel suchen wir mit Mühe aus diesem ungeheuren Kranz von Bergen; sie sind klein und unbedeutend geworden und bar ihrer besonderen Eigenart, die sie uns so teuer macht. Dafür werden wir gepackt von dem Eindruck ungeheurer Weite; einem gewaltigen, in bläulichem Dunste liegenden Meere gleich ruht die lombardische Ebene vor dem weitgespannten Bogen der Alpenkette, die in den schneeigen Zinnen des Mont Blanc ihren Angelpunkt zu haben scheint. Von unseren heimischen Bergen gesehen, bedeutet der Mont Blanc so etwas wie der Endpunkt der Alpen; vom Paradisogipfel hingegen erkennen wir zu unserem Staunen, dass sich in einem ebensolangen Band Gipfel an Gipfel bis zu den Ligurischen Alpen anreiht. Aber trotz aller Grossartigkeit fehlt der Eindruck der unmittelbaren Nähe, der Blick in gewaltige Eisflanken und Abstürze, auf zackige Gräte und wilde Felstürme. Diesen einsamen Riesen, zu denen der Paradiso gehört, mangelt die eindrucksvolle Nachbarschaft, wie sie z.B. unseren grossen Wallisern eigen ist. Dafür aber sind sie umweht von einem Ahnen der Unendlichkeit, von ewiger Ruhe und Grosse.

Da wir nun einmal unsere Bretter zur Hand haben, versuchen wir die Abfahrt über den Steilhang, der von hier aus wie einem erstarrten Meere gleicht.

!'Jft Es ist hier jede Technik angebracht, die heil und sicher nach unten geleitet! Mit aufrichtiger Freude begrüssen wir den ersten Muldenhang der wieder freies Schwingen gestattet. Doch ist der Schnee weiterhin schwer und ungleich. Erst oberhalb der Hütte liegt zügiger Frühlingssulz, und es ist ein Singen und Jubeln, wenn die zischenden Kristalle in unserer Spur aufrauschen.

Wir haben uns heute nirgends lange aufgehalten, aber der Gran Paradiso hat uns doch mehr Stunden abgefordert, als wir voraussehen konnten. Zudem sind die Schneeverhältnisse in tieferen Lagen zu dieser Tageszeit die denkbar schlechtesten und eine auch nur einigermassen genussreiche Abfahrt auf unserer Aufstiegsstrecke ist bei den gegebenen Geländeverhältnissen ausgeschlossen. So einigen wir uns denn auf der Linie des von mir schon auf dem Paradiso ausgeheckten Planes: die ganze Paradisogruppe ungefähr in Hüttenhöhe südwärts zu traversieren und auf diesem Wege den Abschluss des Val Savaranche zu erreichen. Unvorhergesehene Hindernisse und übliche Überraschungen müssen dabei in Kauf genommen werden.

So erwartet uns eine zweite Nacht in unserer romantischen Behausung. Aber es ist inzwischen ein grimmiger Ostwind erwacht, der die Annehmlichkeiten des Aufenthaltes in der Hütte entscheidend beeinträchtigt. Durch alle Ritzen und Löcher kriecht bittere Kälte in unseren Eiskeller, und eine ruppige Bise verunmöglicht die Erwärmung des Raumes, indem sie nicht nur den Rauch, sondern auch das Feuer aus unserem Blechherd treibt. Im Fussboden entdecken wir breite Spalten, die wir umsonst zu schliessen versuchen. Daher ziehen wir uns auf unser letztes Réduit, die Pritsche, zurück, wo wir uns unter den spärlichen Strohhäufchen verkriechen, bis uns die durchdringende Kälte zu neuer Aktivität treibt. Mit ungeteilter Freude begrüssen wir daher die Anzeichen des grauenden Tages, der neuerdings Wärme und Sonnenschein bringen soll.

Der Morgen ist zwar noch sehr kalt, aber der Wind hat doch nachgelassen, so dass einem frühzeitigen Aufbruch nichts im Wege steht. Unsern eventuellen Nachfolgern lassen wir noch eine Flaschenpost zurück, und dann beginnen wir die oben erwähnte Traverse, entlang dem Ciarfaron und andern sagenhaften Gipfeln, von denen im Verlaufe der Stunden immer wieder ein anderer hinter seinem Vorgänger hervortritt. In der Nähe der Passböhe erlaubt uns endlich eine steile Schneerinne die Abfahrt durch den sperrenden Riegel der Felsbarriere, die uns so lange die Fahrt ins Tal verwehrt hat.

Was nun folgt, ist ein Geschenk des scheidenden Winters, ein jubelnder Abschied, ein letzter herrlicher Rausch, ein Tanz in den Frühling hinein. In weiten Wellen wogt der Muldenhang zur Tiefe, immer besser wird der Schnee, immer müheloser die beschwingte Fahrt. Aus der Tiefe klettern uns grüne Föhren und helle Birken eilig entgegen, in mühelosen Schwüngen umkreisen wir sie, setzen über Rinnen und Gräblein, schiessen in Falten und Mulden und lassen uns in federnden Sprüngen über fröhliche Buckel und Hügel tragen. Es ist ein herrliches Spiel in den von Sonnenglast und Pulverschnee verzauberten Wald hinunter! Mit weiten Stockstössen durchpfeilen wir den Sulz des fast ebenen Talbodens, und dann ist unsere Fahrt « rund um das Tal Savaranche » bei den bekannten Hüttlein der Alp « Les Ponts » geschlossen.

Durch den immer tieferen Naßschnee stöckeln wir hinunter nach « Les Eaux Rousses ». Überall fliessen und tropfen die Schmelzwasser, rutschen aufgetaute Schneereste von Ästen und Schindeldächern; in den durchwärmten Baumbeständen der Sonnenhalde singen Finken und Amseln dem einziehenden Frühling entgegen. Uns aber verlangt nach Blumen und Tannenduft, nach hellem Lärchengrün am fröhlichen Wiesenbach, nach schimmerndem Birken-glanz vor blauendem Lenzeshimmel. Alles dies wird uns geschenkt in verschwenderischer Pracht, als wir wieder hinauswandern durch das sonnen-erfüllte Tal. Bei der Burgruine auf gewaltiger Fluh über Neuville halten wir die letzte Rast, angesichts des herrlichen Aostatales, das mit seinen schon grünenden Wiesen, den zahlreichen Burgen und Königsschlössern inmitten der grandiosen Bergumrahmung wie ein geöffnetes Buch zu unseren Füssen liegt. So ist uns der Frühling in diesem Nachwinter zweimal geschenkt worden, einmal in Brig, als wir schmerzlich von ihm Abschied nehmen mussten, und heute, wo er uns mit doppeltem Jubel neuerdings empfangen hat.

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