Fünfundzwanzig Jahre - Ein nostalgischer Bilderbogen | Club Alpino Svizzero CAS
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Fünfundzwanzig Jahre - Ein nostalgischer Bilderbogen

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Emil Zopfi, Schwändi ( GL )

( 2 ) Altmann Die Frau fiel mir auf, während ich vorlas. Sie sass allein mitten unter den Studenten und Professoren, die die Aula zu einem Viertel füllten, hörte mir zu, umgeben von leeren Stühlen, aufmerksam und einsam. Sie gehörte nicht zum Publikum.

Nach dem Signieren kam sie auf mich zu, sagte: Altmann - erinnerst du dich?

Jeanine, sagte ich. Der Westgrat. Deine Fingernägel waren lang und lackiert. Und keinen einzigen hast du abgebrochen.

Jetzt waren ihre Fingernägel nicht mehr lackiert. Sie sagte: Die Erinnerungen an jene Zeiten haben mir geholfen, vieles zu überstehen. Jetzt bin ich allein.

Damals war ich noch jung, sagte ich. Ich wagte nicht mal, dir einen Gipfelkuss zu geben.

Wir holten ihn nach, bevor sie ins Auto stieg. Nach mehr als zwanzig Jahren.

( 3 ) Geister Allein wartete ich in der Carschinahütte auf einen Freund, als es an die Tür klopfte. Ich ging nachsehen, doch da war niemand, nur der Nebel schlich grau um die alte Bretterbude. Nach einiger Zeit klopfte es wieder.

( 1 ) Brief... hat das Klettern aufgegeben. Und einige sind in den Bergen umgekommen. Schrieb ich. Du hast mir zurückgeschrieben: Nicht alle Deine Freunde haben das Klettern aufgegeben oder sind in den Bergen umgekommen... Keiner vergisst die glücklichen Tage, sie bleiben ein Leben lang in Erinnerung...

Ich antwortete: Meine erste Erinnerung an Dich. Wir standen vor der Carschinahütte. Dein Vater zeigte uns im Feldstecher zwei Punkte im Ausstieg der Scheienwand. Sepp und Du.

Im folgenden Sommer trafen wir Sepp bei der Hütte. Er wollte mit einem Gefährten zur Drusenfluh, wir mussten ins Tal. Gewitter kam auf. Sepp wurde an jenem Abend im Biwak von einer Steinplatte getroffen, du weisst es.

Ein paar Jahre später kletterten wir selber in der Scheienwand, hinter uns führte Toni eine Seilschaft. Auch er lebt nicht mehr.

Und wieder war draussen nur die unheimliche Leere und Stille des nebligen Abends. Trieb da jemand einen Scherz mit mir oder war es ein Geist?

Halb gelähmt vor Schreck schlich ich beim dritten, deutlichen Klopfzeichen zum Fenster, spähte hinaus.

Eine Bergdohle pickte auf die hölzerne Türschwelle. Sie wollte gefüttert werden.

( 4 ) Lebensretter Ein einziges Mal waren wir zusammen am Seil. Das heisst, wir waren noch gar nicht am Seil, als sich zuoberst in der kleinen Kehle der Bockmattlitürme die Neuschneeschicht löste, über uns hinwegfegte, ein schwarzer, rauschender, reissender Sturm.

Heini stand vor mir, krallte sich an seinen Pickel, bis die Lawine über uns hinwegge-schossen war. Wir sahen hinab, unter uns eine überhängende Felsstufe, fünfzig Meter tief.

Heini hatte sich festgekrallt, hatte uns gerettet. Wir seilten an, stiegen ohne viel Worte weiter. Zwei Jahre darauf stürzte er am Ostturm ab. Sie hatten den Standhaken nicht richtig eingehängt.

( 5 ) Abseilen Unsere Spezialität war das Abseilen ohne Schlingen oder Haken. Wir legten die Seile um einen Felszacken, der erste, der unten war, musste probieren, ob sie sich abziehen liessen. Wir waren Lehrlinge, hatten zuwenig Geld, um Material zurückzulassen. So schafften wir auch den Abstieg von der Pioda die Sciora. Bis zur letzten Länge über dem Schrund. Hansruedi probierte, das Seil sprang über den Zacken, fiel hinab. Und ich stand ratlos vierzig Meter höher in der Wand.

Zufall: Ich fand zwanzig Meter Reepschnur im Rucksack. Zufall: Hansruedi konnte einen Riss hinaufklettern, genau zwanzig Meter. So konnte ich das Seil wieder hochziehen. Als ich endlich unten war, war mein Freund verschwunden. Ohne zu warten war er weiter abgestiegen. Wir hatten beide die Nerven verloren.

( 6 ) Veltliner Fünf Minuten nach der Ausstrahlung des Hörspiels klingelte das Telefon. Ein Herr gratulierte mir zu dem Stück. Im Gespräch stellte sich heraus, dass wir uns kannten, dass wir schon zusammen geklettert waren und einmal mit einer Gruppe in einer Alphütte gefestet hatten, getrunken, gesoffen, gesoffen wie die Löcher, dann gestritten. Er hatte uns im Rausch mit Mäusegift bestreut, ich antwortete mit einem Faustschlag in sein Gesicht, worauf er eine Flasche Veltliner, Jahrgang 52, aus der Jackentasche zog und auf meinem Kopf zerschlug.

Mein Kopf blieb ganz, unsere Freundschaft nicht. Wir sprachen am Telefon nicht darüber, wir sprachen über das Hörspiel, das ihm gefallen hatte. Und gelegentlich, sagte er, gehe er immer noch klettern.

( 7 ) Verletzung Wir waren im verabredet an jenem Samstag abend, doch Hans war nicht gekommen, war einfach nicht erschienen, und später redete er sich heraus, es habe ja geregnet. Es hatte geregnet, auch am Sonntag, doch konnte ich nicht entschuldigen, dass er mich im Stich gelassen hatte, ich war wütend auf ihn, wollte von ihm nichts mehr wissen.

Das sagte ich ihm auf einer Clubtour im Aufstieg auf die Krönte. Ich sagte: Ich komme nicht mehr mit dir klettern. Und er schwieg, er schwieg verletzt.

Wir sahen uns nie mehr, und einige Jahre später starb er unter einer Lawine. Dass ich ihn verletzte, schmerzt mich noch immer.

( 8 ) Sechser Die Route war lang gewesen und schwierig, noch kein richtiger Sechser, doch hart an der Grenze. Der Heimweg im Gewitter, auf Fahrrädern, hatte mich völlig fertiggemacht. Und am Montag musste ich wie immer um viertel nach fünf aus den Federn.

Bleich, zerschunden, fast krank schickten sie mich zum Lehrlingschef, der ein sofortiges und absolutes Kletterverbot aussprach. Sie fliegen aus der Lehre, wenn Sie sich nicht daran halten.

Die Woche verbrachte ich in der dunklen, dumpfen Fabrik wie immer, und draussen war strahlendes Wetter. Am Samstag kletterte ich meinen ersten Sechser.

( 9 ) Grab Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich seinen Namen schon gehört, er war ein bekannter, guter Bergsteiger. Und nun hatten wir uns getroffen, draussen vor der Stadt, es regnete und sie hatten Bretter über den aufgeweichten Boden des Friedhofs gelegt. Alle waren gekommen und alle griffen nach der Schaufel, warfen etwas Erde über den Sarg, und jeder dachte wohl bei sich an das Schneebrett, das ihn zugedeckt hatte, und warum er und nicht ich.

Dann standen wir noch eine Weile zusammen, beim Tor, unterhielten uns über den Schnee, die Verhältnisse, über andere Unfälle und dass wir hofften, der Sommer möge bald kommen.

( 10 ) Krönte Es gibt Tage, von denen man weiss, dass sie einmalig sind, und man wünscht sich, dass die Zeit langsamer ablaufen möchte, ein bisschen langsamer nur, so dass man das Glück bis zur Neige auskosten könnte.

Wir hatten keinen Menschen angetroffen in der Hütte, es war später Herbst, und nun kletterten Christa und ich über den Südturm, durch kleingriffigen, glimmernden, duftenden Gneis. Eine Föhnmauer stand im Süden und der Himmel war wolkenlos, dunkel, fast schwarz, so dass wir glaubten, am Tag die Sterne zu sehen.

( 11 ) Einstieg Zwei Tage alt war unser Sohn, Christa im Spital, und wir fanden den Einstieg nicht am Telli-Südpfeiler, den verdammten Einstieg, nachdem wir uns über endlose Schrofen hochgerauft hatten. Zwei Tage alt ist er jetzt, sagte ich, als wir gegen elf Uhr den ersten Haken entdeckten, und ich bin erst einmal im Spital gewesen.

Wir stiegen trotzdem ein. Steiler, schwerer Fels. Gewitter im Abstieg. Nachts um neun rief ich im Spital an. Man(n ) vergisst sich beim Klettern. Lebt in einer andern Welt.

( 12 ) Salbit-Süd Es war noch in der Hartschuhzeit. Hanspeter, der Anfänger, trug bereits einen leichten, weichen Finken. Mir, dem erfahrenen Alpinisten, behagte das nicht. Einmal verstieg er sich und musste sich, welch ein Graus, mit einem Sprung retten. ( Für mich war es ein Sturz. ) Im Abstieg rutschte er auf hartem Schnee aus, flog in einen Bach. Der erfahrene Alpinist warnte: Hanspeter, wenn du so wei-termachst, bist du bald ein toter Mann.

Er machte so weiter. Bald kletterte er mit Slicks und mit jüngeren Partnern. Wir verloren uns aus den Augen. Fanden uns, per Zufall, an einem Computer wieder. Fanden, dass wir es nochmals versuchen sollten. Dass wir vielleicht beide inzwischen gelernt hätten. Ich wollte es versuchen.

Aber nur mit Slicks, bestimmte er. Ich versuchte es und begeisterte mich für die weichen Schuhe, für die neue Art des Kletterns. Und für meinen neuen Freund.

( 13 ) Liebesgeschichte Sie stiegen in St. Gallen ein, zwei junge Männer, eine Frau. In Ziegelbrücke wartete die zweite Frau auf dem Perron, trug einen vollbepackten Rucksack, Ski, Turnschuhe. Sie war jung, hübsch, sie winkte. Es war Ostern und strahlendes Wetter.

Der eine Mann stieg aus, umarmte die junge Frau, küsste sie, nahm ihr den Rucksack ab. Sie stiegen ein, der Zug wartete noch einen Anschluss ab.

Irgendwann fragte sie: Hast du meine Skischuhe mitgebracht? Er verneinte, erschrocken, verstört.

Und nun diskutierten sie aufgeregt. Was konnten sie tun? In Glarus aussteigen, Skischuhe mieten? Nein. Wenn sie in Glarus ausstiegen, verpassten sie das Postauto auf den Urnerboden, wo sie für Ostern Zimmer bestellt hatten. Gemsfairen, Claridenstock.

Oder sollten sie nach Luzern fahren, wo sie ein Zimmer hatte, und anderntags auf den Oberalp?

Oder doch in Glarus aussteigen und eine spätere Fahrgelegenheit auf den Urnerboden suchen?

Der Anschlusszug fuhr ein. Jetzt standen sie wieder draussen auf dem Bahnsteig, berieten weiter. Ich konnte ihre Stimmen nicht mehr hören. Dann entschieden sie sich, küssten sich. Er stieg ein. Drinnen fiel ihm ein: Sie hat noch unsern Proviant.

Sie riss eine gefüllte Tragtasche aus dem Rucksack, reichte sie durchs Fenster des anfahrenden Zuges. Dann stand sie wieder auf dem Perron, allein, mit dem Rucksack am Rücken, den Skiern, in Turnschuhen. Und winkte.

( 14 ) Messner Tausendfünfhundert Leute waren gekommen, um seinen Vortrag zu hören. Und dann funktionierte der Diaprojektor nicht. Es blieb dunkel. Der Horror jedes Referenten.

Doch er blieb ruhig, kühl, wechselte die Lampe, während die Stimmen im Saal lauter wurden. Er hatte die Lampe gewechselt, doch blieb es immer noch dunkel. Sehr ruhig fragte er nach einem Elektriker. Unter tausendfünfhundert Bergsteigern gibt es mit Sicherheit einen Elektriker. Es meldeten sich mehrere, und einer fand dann heraus, dass ein Stecker herausgezogen war.

Ich bewunderte Reinhold Messners Ruhe.Viel mehr als alles, was er uns anschliessend auf seinen Dias zeigte.

( 15 ) Cengalo Während des nächtlichen Anstiegs durch Moränengeröll sagte Fredy zu mir: Die ALPEN haben einen literarischen Wettbewerb ausgeschrieben. Machst du mit?

Nein! war meine Antwort. Habe schon mal mitgemacht, nichts gewonnen. Jetzt habe ich keine Lust mehr.

Später dann, auf dem Gletscher, wo wir uns Stüfchen hackend hinaufschwindelten, weil wir keine Steigeisen dabei hatten, fiel mir Klucker ein, der grosse Bergführer und unermüdliche Stufenhacker, der hier vielleicht als Geist umging, der ewige Stufenhacker, dachte, ich könnte doch eine Geschichte schreiben über diesen Tag und über eine Krankheit, Kluckeritis genannt.

Ich schrieb. Und gewann den Wettbewerb.

( 16 ) Morgiou Acht Schüsse waren gefallen in der Nacht, ich zählte sie, sagte zu Hanspeter: Ein ganzes Magazin. Acht Schüsse, Schreie, die von den Klippen widerhallten, dann die Stille, der Wind in den Kronen der Pinien, das Atmen der Brandung in der Bucht.

Ein besoffener Polizist, sagte der Barmann am andern Morgen, zeigte auf die durchlöcherte Verkehrstafel. Um zwei Uhr wollte er noch einen Whisky, der Chef sagte nein. Da wurde der Polizist wütend und Schoss.

In der gleichen Nacht wurden allen Bergsteigern die Autos aufgebrochen und ausgeraubt. Einige Stunden verbrachten wir also auf der Hauptwache in Marseille, bis wir das Papier für die Versicherung hatten. Beim Namen ( Winterthur ) geriet der Inspektor ins Erzählen. Nach dem Krieg war er als Flüchtlingskind nach Winterthur gekommen. Damals war alles noch anders gewesen. Er beklagte sich bitter über die Zustände in seinem Land. Das Verbrechen greift um sich und wir sind machtlos. Wenn wir einen Dieb etwas unsanft anfassen, schreibt nachher die Presse.

Ich dachte an die acht Schüsse in der Nacht, ich hatte Angst gehabt.

( 17 ) Geranien Seit Jahren waren die Verhältnisse nicht mehr so gut gewesen für den Tödi, deshalb fasste ich mir ein Herz und rief an. Seit Jahren waren wir nicht mehr zusammen gegangen. Er freue sich, doch leider habe er seiner Frau schon versprochen, Geranien einzukaufen für die Blumenkisten. Sie müssten jetzt gesetzt werden, und zudem seien sie Aktion.

Die Verhältnisse sind traumhaft, komm doch wieder einmal mit, sagte ich. Doch er bedauerte. Und wünschte schöne Tour. Ruf doch ein andermal an. Ich ging mit meinem Schwager. Die Verhältnisse waren wirklich einmalig, Pulver auf dem Gletscher und tiefer unten Sulz.

Angerufen habe ich nie mehr.

( 18 ) Schuhe In der Treschhütte hatte noch ein anderes Ehepaar übernachtet, ein älterer Herr und eine junge Frau. Zu Hause stellte Christa fest, dass sie die Schuhe verwechselt hatte beim Aufbruch, vermutlich mit denen jener Frau. Über den Hüttenwart fand ich Adresse, Telefonnummer, rief an. Eine Dame meldete sich.

Sie waren doch letzthin in der Treschhütte, fragte ich. Nein, sagte die Dame.

Ich habe Ihre Adresse vom Hüttenwart. Sie haben doch dort übernachtet mit Ihrem Mann. Meine Frau hat Ihre Bergschuhe verwechselt.

Ich besitze gar keine Bergschuhe, sagte die Dame. Mein Mann macht gelegentlich Wanderungen. Aber er geht immer allein.

Entschuldigen Sie, sagte ich. Dann ist es ein Irrtum.

( 19 ) Sturz In jenem Sommer schrieb ich an einer Erzählung, die von einem älteren Bergsteiger handelt, der wieder zum Berg seiner Träume zurückkehrt. Der dann Gelegenheit findet, mit einem Jungen eine schwierige Wand zu klettern. Und einmal stürzt. Ich hatte den Sturz bereits beschrieben, als mich Ueli anrief und fragte, ob ich mit ihm an den Villigerpfeiler komme. Der ältere Bergsteiger und der Junge. Ich kannte die Route von früher, sie war einer unserer Träume gewesen.

An der Schlüsselstelle, dem abdrängenden Wulst vor einem Riss, rutschte ich mit dem linken Schuh weg, der rechte Fuss blieb in einer Schlinge hängen, ich fiel kopfüber ins Leere. Stürzte unendlich langsam, weich, staunend in die federnden Seile. Noch im Sturz dachte ich an meine Geschichte.

Die Wirklichkeit hat meine Fiktion überholt.

( 20 ) Gipfelbuch Ich sass am Schreibtisch, als das Telefon klingelte: Kantonspolizei Glarus.

Kann ich Ihren Mann sprechen?

Ich bin selber ein Mann.

Sie sind eine Frau! Ich höre das an Ihrer Stimme.

Bedaure, sagte ich. Ich bin ein Mann. Meine Stimme klingt am Telefon etwas hoch.

Besitzen Sie ein Töffli?

Ja, ich besitze eines. Ist es gestohlen worden?

Waren Sie einmal in Sool damit?

Vor drei Wochen. Ich habe den Schild bestiegen.

Ich hatte den Schild bestiegen, von Sool aus, an einem einsamen, kühlen Herbsttag. Auf dem Gipfel lag schon der erste Schnee. Während des Aufstiegs war ich keinem Menschen begegnet, und aus irgendeinem Grund, gegen meine Gewohnheit, schrieb ich meinen Namen ins Buch. Das erzählte ich dem Polizeibeamten, nachdem er mich lange verhört hatte. An jenem Morgen hatte man eine Frau mit einem blauen Rucksack von meinem Töffli weggehen sehen, Richtung Schild, und später hatte man ihren Rucksack gefunden. Von der Frau fehlte jede Spur.

Sind Sie einer Frau begegnet?

Nein, sagte ich. Aber mein Name steht im Gipfelbuch des Schild. Sie können das überprüfen, es ist mein einziges Alibi.

Eine Mordgeschichte? Ein Irrtum? Ich war froh, dass ich mich eingeschrieben hatte.

( 21 ) Eldorado Heinz, den Philosophen und Kletterfreak, habe ich an einem Stand kennengelernt. Er führte die Seilschaft hinter uns, sagte beim Einrichten: Du hast einmal in meiner Klasse vorgelesen. Wir mussten dir anschliessend Briefe schreiben.

Ja, ich erinnere mich schwach, sagte ich.

Er schrieb mir wieder. Wir könnten doch auch einmal zusammen klettern. Und so fand ich einen Freund, mit dem ich im Eldorado, am Grimselsee, meine drei schönsten Klettertage erlebte: Motörhead, Metal hurlant, Septumania. Risse, glatte Platten, Freikletterei in herrlichem, festem, warmem Granit.

Heinz, du bist mein Glücksbringer, sage ich manchmal.

( 22 ) Duftstrassen So bezeichnete ich in einem Text die Routen am Grimselsee, auf denen sich die Kletterer wie Ameisen tummeln. Viele verstanden den Begriff nicht, deshalb soll ihm folgendes Erlebnis etwas Farbe verleihen - oder eben .

Vier Seillängen lang folgt die Route Septumania einer in die Platten geschliffenen Wasserrinne. Zehn Meter über dem dritten Stand hatte eine schlecht erzogene Ameise ein Geschäft verrichtet, direkt auf dem Grund der Rinne, so dass wir ziemlich artistisch über den duftenden Fäkalienhaufen hinwegturnen mussten.

Die Natur hatte sich gegen uns verbündet. Nach der sechsten Länge begann es zu regnen, wir seilten ab. Am Stand unterhalb des Freiluftklos stürzte ein plötzlicher Schwall Wasser die Rinne herab. Seither weiss ich, wie einer Kanalratte zumute ist, wenn oben jemand die Spülung zieht. Die Natur hat einen Hang zur Selbstreinigung. Anderntags war die Septumania wieder tipptopp sauber. Wir ebenfalls.

( 23 ) Vrenelisgärtli Auf einer meiner ersten Bergtouren, in der Guppenwand, habe ich einen Menschen abstürzen sehen. Der Felsblock, der ihm ausgebrochen war, zerschlug das Seil, er stürzte hundert Meter tief auf ein Firnband, starb zwei Monate darauf.

Ich hasste den Glärnisch deswegen, hasste sein brüchiges, faules Gestein, nie in meinem Leben wollte ich ihn besteigen.

Doch jetzt, wo ich an seinem Fuss lebe, wo ich täglich zur Guppenwand hinaufsehe, ist es Zeit, mich zu versöhnen. Allein breche ich auf, steige von Käseren zur Glärnischhütte hinauf und über den flachen, weiten Gletscher und einen kurzen Grat auf den Gipfel.

Ein stiller, klarer Tag im Herbst. Über dem Land liegt Nebel. Ein junger Mann und seine Freundin kommen die Wand herauf, stören mich mit ihrer lärmigen Fröhlichkeit.

Eigentlich wollte ich etwas ins Gipfelbuch schreiben, eine Erinnerung an Hannes, einen Folgende Seite: Blick auf die Badile-Nordkante mit der nach links abfallenden Nord(ost)wand ( Bergeil ) Photo Martin Bra nachdenklichen Satz. Ich lasse es bleiben, steige ab. Bei mir ist die Erinnerung besser aufgehoben.

( 24 ) Traum Tausendmal wiederholt in Gedanken, ein dutzendmal beschrieben in Texten, unser Aufstieg durch die Badilewand, 1962. Die Angst jener Stunden, als sich die Schlechtwetterfront näherte, Hagel, Gewitter, während wir um unser Leben kletterten.

Das Glück, als wir den Grat erreichten und uns der Sturm Graupelkörner ins Gesicht trieb. Und tief unten, ameisenklein, sich die andern Seilschaften über den Gletscher entfernten. Neunzehn war ich damals und neu geboren.

Immer wieder träume ich von jener Wand, und mein grösster Wunsch ist, sie nochmals durchsteigen zu können. Doch die Angst ist geblieben.

( 25 ) Schreiben Wenn im November der erste Schnee lag, tippte ich auf der Schreibmaschine meines Vaters die Erlebnisse des Sommers. Die ALPEN druckten einen ersten Text mit dem Titel

Nach einer Lesung fragte mich jemand: Wenn Sie wählen müssten zwischen dem Schreiben und dem Klettern, wofür würden Sie sich entscheiden?

Klettern, antwortete ich ohne zu zögern.

Doch ich muss ja nicht wählen.

Zum Glück.

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