Geheimnisvolles Kailas, heiliger Berg der Tibeter
François Hans, Epalinges
Mani: Ein behauener Stein am Wegrand Jedes schöne Gebirge fordert zu seiner Besteigung heraus, noch unbezwungene Gipfel sind auf unserer Erde selten geworden. Warum ist dann der 6714 Meter hohe Gipfel des Kailas noch nie bestiegen worden?
Reinhold Messner, der Bezwinger von vierzehn Achttausendern, hatte 1987 von den chinesischen Behörden die Genehmigung zu seiner Besteigung erhalten. Er begab sich vor Ort - und verzichtete auf seinen Plan!
Dieser durch Berichte von Forschern und Schriftstellern genährte Reiz des Geheimnisses hatte zur Bildung unserer kleinen Gruppe von Alpinisten geführt. Geduldig haben wir mit den chinesischen Behörden verhandelt und erhielten schliesslich ( grünes Licht ) für Juni/Juli 1986. Rechtzeitig begaben wir uns nach Lhasa. Unsere Reise stand schon von Beginn an unter günstigen Vorzeichen: Wir waren alle für den Himalaya und seine Kultur begeistert und empfingen einige Wochen vor unserer Abreise in Digne, wo er gerade zu Besuch weilte, den Segen des Dalai Lama.
Vorbereitungen Um an diese geheimnisvolle, mehr als 2000 Kilometer von Lhasa entfernte Stätte im westlichen Tibet zu gelangen, werden wir zwei bei chinesischen Agenturen gemietete geländegängige Wagen benutzen, ausserdem einen Lastwagen, der für unsere Unabhängigkeit unerlässlich ist. Die Transport- und Versor-gungsprobleme sind nicht leicht zu lösen: Wir müssen für nahezu 3000 Kilometer Treibstoff mitführen und dazu Verpflegung für fast einen Monat. Für den Fall von Schwierigkeiten haben uns die Behörden einen Verbindungsoffizier tibetischer Herkunft zugeteilt, ausserdem mehrere Chauffeure. Mechanische Pannen würden uns sicher zu recht langen Aufenthalten bei der Suche nach einem Militärposten zwingen.
Die gewählte Jahreszeit ist günstig und würde uns die Härte des Winters mit seinen sibirischen Temperaturen ersparen. Zudem sind um diese Zeit die meisten Pilger unterwegs. Wir werden die sogenannte Nord-Piste wählen, die einen grossen Teil der Hochebenen des Chang-Tang durchquert; ein Tor zum Unbekannten öffnet sich, denn diese Route wurde sozusagen noch nie befahren.
Der Start Wir verlassen das ( zivilisierte ) Tibet in Lhatze, dem letzten Ort mit Tankstelle; dort überquert eine Fähre den Brahmaputra. Wir folgen der Piste nach Saka, dann nach Gertze: acht Tage, in denen wir unendliche Kilometer hinter uns bringen, mehr als 5000 Meter hohe Pässe überwinden, Hochebenen durchqueren, entlang herrlicher Salzseen fahren, deren Ufer von Salzkristallen glitzern, auf Flüsse treffen, die sich in der Wüste verlieren. Alles in allem mehr als 2000 Kilometer Piste.Von Zeit zu Zeit heisse Quellen, Nomaden - Dopkas, die einzigen Bewohner des Chang-Tang - mit ihren Herden. Wenn wir die Fahrt unterbrechen -leider oft nur allzu kurz -, haben wir die Möglichkeit, sie in ihrem Alltag zu erleben. Ihre Freundlichkeit gegenüber den Fremden in ihren Autos äussert sich stets in einem Lächeln. Wir durchqueren Gertze, einen enttäuschenden Flecken, kommen dann nach Tashigong.
Ein traumhaftes Weidegebiet für die Yakherden in der Region des Shisha Pangma ( 8013 m ) In dieser ziemlich bedeutenden Stadt am Indus, nahe dem Gebirgsland des Ladakh, finden wir Komfort in Gestalt eines betont chinesischen Hotels, in dem man uns fades, ge-schmackloses Essen serviert. Sollte dieser solide, aber phantasielose Neubau eine Liberalisierung des Tourismus ankünden? Eine Frage, auf die es - wie auf so viele andere - keine Antwort gibt.
Ein vergangenes Königreich Etwa am zehnten Tag haben wir uns der Hi-malaya-Kette genähert. Plötzlich entdecken wir zu unsern Fussen einen gewaltigen sandfarbenen Canyon, in dem sich der Sutlej ( Sad- letsch ), der im Gebiet des Kailas entspringt, mühsam einen Weg bahnt: Wir sind im einstigen Königreich Guge.
Dieses Königreich war lange Zeit ein wirtschaftliches Zentrum und Ort kulturellen Austausches. Aus diesem Grund haben wir uns aufgemacht, die Überreste seiner einstigen Grösse zu besuchen, seine beiden Hauptstädte Tholing und Tsaparang, die im 11 Jahrhundert dank der Ausbeutung von Goldminen und der Belastung der Karawanen mit Gebühren ihre grösste Blüte erlebten. Von hier aus nahm der Buddhismus seinen Aufschwung, Dutzende von Tempeln wurden errichtet, vor allem durch aus Kashmir zugewanderte Künstler. Übriggeblieben sind zahllose Ruinen und einige Tempel mit Fresken von strahlender Frische. Aus den Werken einiger weniger Forscher, unter anderen Tucci, erfahren wir, dass im 11 .Jahrhundert ein Konzil alle Mönche Tibets in Tholing vereinigte, bei dem die Reformbewegung eingeleitet wurde, die zur Gründung der ( Gelben Kirche » des Lamaismus führte, aus der der jeweilige Dalai Lama hervorgeht.
Die Abgelegenheit des Gebietes hat die bemerkenswert gute Erhaltung bedeutender Stätten über die Jahrhunderte bewirkt. Heute gleicht Tsaparang einem Irrweg durch Ruinen, der zu einem befestigten, zum Teil in die Felswand eingefügten Palast führt. Man erreicht ihn über Steintreppen, die durch unterirdische Galerien laufen. Während der chinesischen Kulturrevolution wurden zwar viele Statuen zerstört, doch die Fresken in den Räumen sind erstaunlich schön geblieben. Dies ist den besonderen Farbstoffen und der überaus reichlichen Verwendung von Goldstaub zu danken, die herrliche Darstellungen aus dem Leben des Buddha ermöglichten. Im Licht der Lampen entdeckt man im Staub Waffen und Kult-gegenstände in wirrem Durcheinander. Das ganze Felsenschloss erinnert an einen gewaltigen Käse mit zahllosen Löchern, den Höhlen, die einst Eremiten zur Wohnung dienten.
Anders die Ruinen von Tholing, das Tsaparang benachbart und nahe den auf indischem Boden entspringenden heiligen Quellen des Ganges liegt: Sie sind das Ergebnis einer planmässigen, gründlichen Zerstörung in jüngster Zeit. Ein Hoffnungsschimmer: die Anwesenheit einer Gruppe tibetischer und chinesischer Archäologen an diesen Orten.
Blauer Himalayamohn Bäder, die zum Nachdenken einladen Jetzt ist der Berg Kailas nur noch ein oder zwei Tage Fahrt entfernt, und um dorthin zu gelangen, fahren wir die indische Himalaya-Kette entlang. Das gibt uns Gelegenheit, uns einen Traum zu erfüllen und das Lager nahe Tirtarpuri aufzuschlagen - einer Gegend mit heissen Quellen, aus denen Dampfwolken aufsteigen, zwischen denen einige Gebetsfahnen zu sehen sind -, vor allem aber es uns in den von der Natur geschaffenen ( Badewannen ) wohl sein zu lassen. Eine kurze Ruhepause für unsere von der Fahrt über die oft mühsamen Pisten geschundenen Rücken. Dieser dank seiner heissen Quellen so angenehme Ort ist ein beliebter Treffpunkt von Pilgern; wir begegnen ihnen in immer grösserer Zahl auf unserm Weg, sie erinnern an die Bedeutung des Gebietes um den Kailas. In einem Weltbild, Auf den Hochebenen des Chang-Tang:Wandernde Herden weiden das karge Gras zwischen den Salzseen.
nach dem die Erde flach ist und Asien ihre Mitte, ist der Kailas das Herz der Welt, von ihm gehen die lebenspendenden Ströme aus, der Indus und der Brahmaputra. Als einziger Ort, an dem eine Verbindung mit den Göttern möglich ist, gilt er den Hindus als . Er ist auch die Achse, die die unterirdische Welt der bösen Mächte mit der Erde der Menschen und dem Himmel, dem Reich der Götter, verbindet. Hier treffen die beiden ältesten und bedeutendsten Kulturen der Welt, die indische und die chinesische, die beide während Jahrtausenden ihre Traditionen intakt bewahrt haben, zusammen. Die Hindus geben dem Berg den Namen Meru, er ist für sie nicht nur der physische, sondern auch der metaphysische Mittelpunkt der Welt und der Sitz Shivas. Buddhisten sehen in ihm ein gigantisches Mandala buddhistischer Götter. Häufig zeigen Skulpturen und Gemälde das Bild Shivas, der auf dem Berg Kailas sitzt. In tibetischen Gemälden sieht man oft den Kailas zwischen seinen beiden heiligen Seen, dem der Sonne zugeordneten Manasarovar und dem mit dem Mondzyklus verbundenen Rakastal.
Am Tor zu einer geheiligten Welt Wir machen uns wieder auf den Weg: Zu unserer Rechten ziehen berühmte Gipfel, auch der Nanda Devi, vorbei. Dann plötzlich ein Schock: Links taucht ein glänzender Gipfel
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Der gewaltige Gipfelklotz des Kailas vom Tal der Roten Felsen aus
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auf, unser begehrtes Ziel, der Kailas, ein in den Himmel aufsteigender weisser Schrein.
Die im Vergleich zu den Versammlungen indischer Gläubiger wenig zahlreichen Pilger gruppieren sich in Darchen, einer Art Basislager mit einigen von Nomadenzelten aus geflochtenem Yakfell umgebenen rohen Steinbauten. Hier beginnt und endet der heilige Weg. Von hier aus gibt es keine befahrbare Piste mehr, man muss zu Fuss gehen. Man rechnet für die vollständige Umschreitung des heiligen Berges fast drei Tage.Von glühendem Glauben beseelte Pilger legen den Weg in nur einem Tag zurück und vollenden mehrere Um-schreitungen.
Etwas ausserhalb der Zeltstadt schlagen auch wir unsere Zelte auf. Wir erhalten neugierige Besuche verschiedener Pilger: junge Mädchen aus den fernen Regionen des Kham ebenso wie Familien aus der fast 2000 Kilometer entfernten Provinz Lhasa. Kaum kann man sich vorstellen, dass die meisten von ihnen den Weg zu Fuss zurückgelegt, Qualen und Entbehrungen Trotz geboten haben. Der Begriff der Zeit hat hier wenig Bedeutung. Und das unaufhörliche Lächeln dieser Pilger verbreitet, mehr als ihre für uns schwer verständlichen Worte, eine ansteckende Freude.
Ein durch spirituelle Erhebung geleiteter Aufstieg Darchen bei Tagesanbruch: Blaue Rauchspiralen steigen langsam in die Morgenluft. Allmählich erwacht das Lager; an den Feuern hantieren Pilger und machen Teewasser heiss. Hinter dem Lager, dort, wo der Weg für die Umschreitung des Kailas anfängt, bezeichnen zwei lange Reihen aufeinandergetürmter Steine, Manis, den Beginn der Wallfahrt. Mit langsamen Schritten kommt ein Mönch heran, spricht leise Gebete oder Mantras. Erst nachdem er die Manis umschritten hat, nimmt er den Pilgerweg unter die Füsse. Über dem riesigen, noch im Schatten liegenden tibetischen Plateau ragt, von der Sonne umstrahlt, die mächtige Silhouette des Guerla Mandatashan ( 7728 m ) auf.
Eingang zum Tal der ( Roten Felsen>: eine enge Schlucht, durch einen Steinmann markiert, über dem Gebetsfahnen flattern. Genau an dieser Stelle wird der Kailas wieder sicht- bar, und zwar seine in der Sonne strahlende Südwand.
Ein vertikaler Wasserlauf kreuzt in halber Höhe des Hangs eine vom Schnee betonte horizontale Schicht; diese Linien bilden eine gewaltige Swastika, Symbol der ewigwährenden Schöpfung.
Der Weg dringt in das Tal ein; ein Bergbach begleitet die Wanderer. Zu unserer Linken liegt hoch an den Felsen, wie frei hängend, das Kloster der ( Roten Felsen ) und blickt zum Kailas. Um dorthin zu gelangen, müssen wir den durch magere Weiden strömenden, breiten, eisigen und von der Schneeschmelze angeschwollenen Gebirgsfluss überqueren. Einige Mönche empfangen uns. Auf der Terrasse ragen mächtige Masten auf, daran Gebetsfahnen, die im Wind schlagen und mit dem heiligen Berg ein Gespräch zu führen scheinen.
Am Abend treffen wir auf Anhänger der Bön-Sekte, sie haben Gebetsmühlen in der Hand. Entsprechend ihrem Ritus beschreiten sie den Weg in umgekehrter Richtung gegenüber den anderen Buddhisten. Ihre geordnete Menge bewegt sich sehr schnell, wir verlieren sie bald aus den Augen.
In der klaren Luft sind Distanzen nur schwer richtig einzuschätzen, mehrfach scheint uns der Kailas bereits in Reichweite, obgleich er noch etwa zehn Kilometer entfernt ist. Auf dem gesamten Pilgerweg gibt es kein Lager, in dem man die Nacht zubringen könnte; die meisten Pilger schlafen unter freiem Himmel, im Schutz einer Höhle von Hirten oder Einsiedlern. Wenn die Sonne hinter den Gipfeln versinkt, wird die Temperatur eisig, die Bäche erstarren. Unsere kleine Gruppe hat sich ins Zelt verkrochen, unsere von den Lasten befreiten Yaks weiden in der Zwischenzeit. Ab und an rufen ihre aufmerksamen Wächter sie mit einer Schleuder, die sie unter dem Mantel hervorziehen, zur Ordnung.
Unsere unmittelbaren Nachbarn, indische Pilger, sind aus Kalkutta gekommen. Ein glückliches Geschick für uns, ihnen an diesem Ort zu begegnen, denn es ist bekannt, wie dornenreich die chinesisch-indischen Beziehungen sind: Sie lassen nur ganz wenige Gruppen, fast wie mit dem Tropfenzähler, die nahe Grenze passieren. Recht erschöpft von den Stunden des Marsches und vor allem von der Höhe, singen sie am Abend, um ein schwaches, mit Yakfladen genährtes Feuer geschart, Lieder zu Ehren von Shiva.
Am nächsten Morgen brechen wir unser Lager früh ab und beginnen den Aufstieg zum Pass des Dolma-Ia, der Gottheit des Mitleidens: Apotheose der Pilgerschaft. Streiflicht erhellt den Eisgipfel des Kailas und lässt die Unebenheiten des Felsens hervortreten. An der Spiritualität des Berges ist kein Zweifel möglich. Die Landschaft wird karger. Ein teilweise gefrorener Bergbach stellt uns vor Probleme: Unsere Tibeter überspringen ihn nach einigem Zögern; die indischen Pilger haben sich den Yaks auf den Rücken gesetzt und klammern sich so fest wie möglich an das Feil.
Auch hier treffen wir auf einige Pilger, die den Weg - wie wir es schon auf dem Parkor, der heiligen Strasse von Lhasa, gesehen haben - in Prostration zurücklegen: Bei jedem Schritt strecken sie sich in voller Länge, die Arme voraus, auf die rauhen und scharfen Steine des Weges. Um Knie und Hände nicht zu verletzen, tragen sie Lederschurze und einen Schutz an den Händen. Ihre immer wiederholten Bewegungen, das Aufklatschen der Hände, die Gebete, all das kann uns nicht gleichgültig lassen. Diese Pilger brauchen mehrere Tage, um den Pass zu erreichen.
Aufenthalte an geheiligten Felsen unterbrechen den Aufstieg, dort neigen die Pilger zum Zeichen des Grusses ihre Stirnen sanft in eine Art kleiner Schalen. Die vollständige Umschreitung des Kailas stellt symbolisch den Zyklus eines Lebens dar. Der Aufstieg auf den Pass ist der Zeitpunkt, an dem der Pilger im Spiegel des Todesgottes Jama all seine früheren Taten erblickt. Mit geschlossenen Augen stellt er sich dem Urteilsspruch; um wiederge- 163 In Darchen am Morgen unseres Aufbruches: Der blaue Rauch der Feuerstellen steigt langsam in den Himmel.
boren zu werden, muss er diese Vision durchlebt haben. Während des langen Weges entledigt sich der Pilger seines bisherigen Lebens.
Ein langer verschneiter Hang kündigt den Pass an; die Welt ist mineralisch, uns umgeben Schutt und Gletscher, wir sind auf mehr als 5700 Metern Höhe. Doch trotz des Mangels an Sauerstoff werden die letzten Schritte lächelnd zurückgelegt. Auf dem Pass kommt dann die Freude zum Ausbruch. Vor dem grossen Steinmann, wo unzählige Gebetsfahnen flattern, sammeln sich die Tibeter; die erschöpften Hindus kommen, während sie Opfergaben vorbereiten, wieder etwas zu Kräften, dann singen sie, mit dem Dreizack in der Hand, zum Lobe Shivas. Jetzt besteht auch Gelegenheit, gesalzenen Tee zu trinken und Tsampa zu essen; die Tibeter haben ihre traditionellen Schalen aus den Gewändern gezogen.
Als der Pass überquert ist, steigen die Pilger wieder ins Tal ab. Der Weg verläuft oberhalb eines smaragdgrünen Gletschersees, des Sees des Mitleidens. Neue, verwandelte Menschen kehren jetzt nach Darchen zurück. Wie um den Anbruch eines neuen Lebens für die Gläubigen zu feiern, hat sich die Natur mit den Göttern verbündet: In dem breiten, grünen Tal bricht überall das Leben auf. Yak-Herden wei- den hartes Gras ab, am Wegrand folgen uns Hasen und Murmeltiere mit dem Blick. Das Tal ist so schön, dass sich der grosse Dichter Mi-larépa dorthin zurückzog, er erweiterte seine Einsiedlergrotte durch eine Armbewegung. Der Felsen, auf dem er stand, soll - wie es heisst - seinen Fussabdruck bewahrt haben. Wir verbringen die Nacht zusammen mit den indischen Pilgern in dem völlig kahlen Tempel.
Am nächsten Tag geniessen wir nach einigen Stunden Wegs wieder den Anblick der blauen Pracht der beiden Seen Manasarovar und Rakastal. In der Ferne hält die Himalaya-Kette die Monsunwolken zurück, als wollten die schönsten Berge der Welt sich als Verbündete des heiligsten unter ihnen erweisen.
Bergsteiger-Gedanken Sicherlich liess uns ein solcher Berg auch aus bergsteigerischer Sicht nicht gleichgültig, und einige unter uns konnten nicht anders, als sich etliche Aufstiegsrouten zum Gipfel auszudenken und von ihnen zu träumen. Aber keinen Augenblick hatten wir den zwingenden Wunsch, zu besiegen, oder auch nur eine Spur Bedauern, darauf verzichtet zu haben. Ein religiös empfindender Mensch legt sehr viel grösseren Wert auf die geistige Erhebung als auf Heldentaten beim Klettern. Für ihn ist der Berg ein Symbol des Gottes, und sowenig er den Fuss auf ein geweihtes Bild setzen würde, sowenig wird er wagen, den Gipfel zu besteigen. Es sei an Reinhold Messner erinnert, der anlässlich einer Konferenz erklärte: ( Als ich mich vor Ort begeben hatte, spürte ich, dass dieser Berg nicht bestiegen werden sollte; er muss in all seiner Heiligkeit unberührt bleiben wie ein blauer Kristall, der nur durch Gebet und Meditation zu erreichen ist. ) Die beiden heiligen Seen Einige Stunden Fahrt bringen uns an die Ufer der heiligen Seen, an den Rakastal, den See des Dämons oder der Finsternis, und an den Manasarovar, den See des Geistes, Symbol der Unergründlichkeit des Schöpfergei-stes, als er die Welt formte. Der Rakastal ist manchmal stürmisch, als rühre der über das tibetische Plateau fegende Wind seine Wasser auf. Der Manasarovar dagegen bleibt ru- hig und unbewegt. Zwischen beiden steigt der Kailas auf, den wir gerade verlassen haben. Bei heftigem, böigem Wind schlagen wir unser Lager auf den Kieseln am Ufer des Manasarovar auf. Über uns erhebt sich ein felsiger Grat mit einem winzigen Kloster. Sein einziger Bewohner ist ein kleiner altersloser Mönch. Die Pilger, die zum Kailas ziehen, denken jedoch an ihn und versäumen nicht, ihm Opfergaben zu bringen. Zu Fussen des Klosters trennt ein Sandstreifen die beiden Seen, aus heissen Quellen steigen schweflige Dämpfe auf, und nahe der wenig tiefen Lagune haben Goldsucher ihr Lager. Im Rakastal sammelt sich das direkt vom heiligen Berg kommende Wasser. Der Manasarovar liegt höher; wenn er über die Ufer tritt, ergiesst sich sein Wasser über jenen Sandstreifen in den Rakastal. Man sieht in diesem Ereignis ein sehr gutes Vorzeichen, die Verheissung günstigster Verhältnisse in der Welt; merkwürdigerweise ist es seit der chinesischen Invasion nie mehr eingetreten.
Rückfahrt entlang der Himalaya-Kette nach Nepal Bald sind drei Wochen in diesen öden, verlassenen Gegenden vorüber. Wir müssen uns auf den Rückweg machen. Die Piste verläuft den Brahmaputra - auf Tibetanisch heisst er Tsampo - abwärts, überquert ihn einige Male, und immer gibt sie einen herrlichen Blick auf die hohen Berge frei. Freude bewegt uns, aber auch Angst vor der Traversierung des oft hochgehenden, wilden Wassers an den Furten; da gibt es Stunden des Abwartens, der Sondierungen und der Suche nach dem geeigneten Ort. Mehrfach werden unsere schweren Wagen von den Fluten hart angepackt und einige Dutzend Meter abgetrieben bis zu einer Kiesbank, die wohl die Vorsehung geschickt hat.
Die Fahrt über die riesigen Flächen mit spärlichem Gras macht uns die von der derzeitigen Trockenheit verursachten Probleme bewusst. Sie gehen auf den Ausfall der Niederschläge zurück, ein Phänomen, das in den letzten Jahren auf den Hochebenen des Chang-Tang immer wieder aufgetreten ist und zu einem Wandel der jahrtausendealten, auf Viehzucht beruhenden Wirtschaftsform zu führen beginnt.
Im Verlauf der verschiedenen Etappen begegnen wir Nomaden mit ihren Yak- oder auch Schafherden. Die mächtigen Hütehunde tragen stählerne Stachelhalsbänder. Das ist nötig, weil Wölfe herumstreifen; wir haben mehr als einmal Gelegenheit, sie fliehen zu sehen. Wir haben auch das Glück, das mythische Tier der Gegend, den Kiang, zu bewundern. Diese beigefarbenen Wildesel galoppieren in kleinen Gruppen über die Steppe. Ausserdem gibt es in diesen Gebieten, die durchweg über 4000 Meter liegen, Murmeltiere und Hasen in Unmengen; regelmässig sehen wir auch einige furchtsame Gazellen. Leider hat die Tierwelt in den letzten Jahren unter der ( intensiven Jagd> durch das chinesische Militär stark gelitten.
Am Rand einiger der auf unserm Weg immer noch häufigen Salzseen begegnen wir endlich Karawanen von mit Salz beladenen Schafen, letzten Zeugen eines einst blühenden Handels mit Indien und Nepal. Jedes Tier trägt rechts und links an den Flanken je einen Leinensack voll Salz; so zieht es mehr als zwei Monate, bis es Ladakh, Dolpo oder andere ferne Regionen erreicht.
Einige Ruhetage im Basislager des Gosainthan ( Shisha Pangma ), eines grossartigen, 8013 Meter hohen Gipfels, an dessen Fuss sich weites blumenübersätes Wiesenland er- Ein Pilger legt den Weg in Prostration zurück. Seine Hände sind mit einer Art von Handschuhen geschützt. Um den heiligen Berg auf diese Weise zu umrunden, benötigt er 25 Tage.
streckt; hier treffen wir auf Herden von Yaks und auf Nomaden, die uns in ihren Zelten Gastfreundschaft bieten. Das ist eine Gelegenheit, einige Worte zu wechseln, ihren getrockneten Käse zu kosten, Milch zu trinken. Natürlich gehört auch das unvermeidliche Ritual des gesalzenen Tees und der Tsampa dazu. Das Wiesenland ist so grün, dass man eine neue, des Paradieses würdige Farbe zu entdecken meint!
Nachdem wir einige reizlose Orte passiert haben, müssen wir die Gebirgskette in Richtung Nepal überqueren. Wir kommen nahe Dingri auf die berühmte Piste Lhasa-Kat-mandu. Dank der sommerlichen Monsunregen sind die Farben prächtig, neben blühenden Rapsfeldern begegnen wir auch Gersten- und Kartoffeläckern; bald ist Erntezeit.
Noch eine besondere Freude erleben wir: den blauen Mohn des Himalaya in voller Blüte. Dann geht es, nach einem letzten Blick auf die verschneiten Gipfel, in schwindelnder Fahrt durch die Schluchten der Hölle hinunter nach Katmandu, in ein im Monsunregen ertrinken-des Land.
Aus dem französischsprachigen Teil übersetzt von Roswitha Beyer, Bern Die berühmten Fresken der Tempel von Tsaparang ( ca. 15. Jahrhundert )