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Graubündner Fahrt

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Mit 3 Bildern ( 102-104Von Ernsf Otto Marti ( Aathal ) Prolog Vor vierzig Jahren, als der Erzähler noch ein Bub war und sein Vater noch jeden Sommer « über alle Pässe » von Tal zu Tal schritt, schenkte der gleichen Jahres von Landquart nach Shanghai ausgewanderte Freund zur Erinnerung an gemeinsame Freuden des Alpenwanderns dem Ätti das 1902 erschienene, reich illustrierte Buch « Graubünden » von Dr. Lechner. Im treuen Gedenken an den « chinesischen Freund », der in bessern Jahren die fremdartigen Gebirge seiner zweiten Heimat und des Inselreiches Japan durchstreifen durfte, hat sich das Lechnerbuch erhalten und ward so auch im Sommer dieses Jahres aus dem Schaft gezogen. Viele seiner Angaben sind veraltet und überholt; aber trotzdem war das heute vermutlich verschollene Buch der letzte Anstoss zu einer etwas altmodischen Wanderfahrt von Tal zu Tal; denn der nun ebenfalls bald ein Fünfziger gewordene Erzähler nimmt, den Stapfen seines Vaters folgend, den Wanderweg unter die Füsse und versucht, es ihm nachzutun. Sollte es wie zu Lechners idyllischen Zeiten noch immer das in abgelegenen Gegenden geben, wovon sein begeisterter Verfasser sprach, wenn er grüne Waldesruh, Bergfrieden einsamer Alpen und die hehre Grösse und Unberührtheit urwüchsiger Gebirgslandschaften in oft poetischen Schilderungen priesSo sei, mir zur Erinnerung, hoffentlich vielen andern zum Trost und zur gern gestatteten Nachahmung, in schlichten Tagebuchseiten von dieser Wanderfahrt erzählt!

Splügen, Sonntagabend, den 10. August Ein heftiger Gewittersturm mit ergiebigen Regenfällen zog gestern abend von Westen her über das Zürcher Oberland. Nachts 1 Uhr, 2 Uhr, 3 Uhr blickte ich besorgt nach dem Himmel. Der Regen hatte nachgelassen; aber die finstere Nacht schenkte keine tröstlichen Zeichen. Um 4 Uhr kam ich dem Wecker zuvor, fand wider Erwarten einige hellere Stellen zwischen langsamer treibendem Gewölk, machte mich reisefertig und verliess im schwachen Taggrauen das schlafende Haus. Noch ohne Regen kam ich bis zum Bahnhof; aber eine Stunde später goss es drunten in der Linthebene aus der grauschwarzen Wand vor dem verwölkten Speer wie mit Gelten. Das weite Tal, die von tiefen Gräben durchzogenen Riete und die spärlichen Dörfer am Bergfuss abschreckend traurig und vernässt; aber über dem Glarnerland öffnete sich eine Lücke blauen Himmels, und in Weesen zeigte sich die Sonne und silberte im windgekräuselten See. Blaugestufte Berge schälten sich aus noch wild bro- delndem Gewölk und enthüllten sich auf der Fahrt am Walensee immer ungescheuter und fröhlicher. Im Seeztal fuhren Sonntagsbauern saftige Fuder Grünfutter ein, schritten ernste Frauen und Töchter zur Kirche. Sonntagsgeläute überall; ihre Klänge begleiteten mich bis nach Chur, wo die mächtigen Töne aller Stadtkirchen das sonnenhaft aufleuchtende Tal zwischen Stift und Calanda feierlich auszufüllen vermochten.

Hier bestieg ich die Oberalpbahn; die Wagen waren zwar nur bis nach Disentis angeschrieben; aber so weit wollte ich ja gar nicht. Zwei Hochzeitsreisenden, die den für sie zu frühen Zug bestiegen hatten, riet ich an, den kurzen Aufenthalt in Disentis zu einem Gang zur Klosterkirche zu benützen, oder doch wenigstens vom Sonnaltan der alten Benediktiner Abtei den herrlichen Blick in das Tal und den leuchtenden Talhintergrund nicht zu versäumen. Sie dankten; hoffentlich haben sie meinen Rat befolgtWie lang ist es her, dass ich an Deinem Grabe stand, P. Maurus Carnot, Du sinniger Poet der Cadi? An der besonnten Kirchenwand über Deinem eingesunkenen Grabhügel hing damals ein vergilbter Kranz mit einer blassen, blauweissen Schleife der Schweizer Schillerstiftung. Und mir war 's doch, ich hörte Deine Zither klingen... horchte Deinen Bergliedern von Felsenfluh und Wald... In Versam bestieg ich den Postwagen, nicht den nach Spinna, nein, den andern, schlechter besetzten nach Safien-Thalkirch. Auch daran mochte das Lechnerbuch, sein warmer Lobkreis von der Einsamkeit und Schönheit dieses wilden, tiefeinfressenden Schluchttales mit seinem Wasserfall von mehreren hundert Metern Gefälle schuld sein. Den Wassersturz traf ich freilich nicht mehr an. Die einstigen Gletscher sind auch in diesem Bergland weit zurückgegangen; aber die Beschreibung des Safientales mit seinen wald-durchzogenen Hängen, seinen weiten Alpen, seinen uralten Häusern und merkwürdigen Kirchen wie der von Thalkirch, wo die Fahrstrasse endet, die gilt noch wie zur Jahrhundertwende, bloss dass an Stelle der Pferdepost geräumige Alpenpostwagen getreten sind. Aus dem wilden Trümmergebiet des Flimser Bergsturzes klomm der Wagen rasch hinauf, um ganz unerwartet einen ziemlich ebenen Bergaltan zu erreichen, ein hübsches Dörflein mit ergiebigem Obstwuchs, blühenden Gärten und leuchtenden Gesimseblumen, saftigen Wiesen und währschaften Holz- und Steinhäusern. Die Sonntagsmenschen, die auf die Ankunft der Post gewartet hatten - es könnte ja immer etwas Besonderes zu sehen gebenmusterten mich neugierig. « Nein, ich bin ein Talfremder, kein Einheimischer », dachte ich, « aber ich will Euch auch gründlich ansehen! » - Lechner hat den grossgewachsenen, schönen Menschenschlag dieser vor uralten Zeiten eingewanderten Walserkolonie, die vom Rheinwald her das Tal besiedelt haben mag, besonders hervorgehoben. Kein Wort daran ist heute noch unwahr oder übertrieben; er hat ein halbes Jahrhundert weiter recht behalten; denn diese Menschen, die im besten Gewand an der Gasse stehen, sind ausgesprochen hübsch. Männer, Frauen und Kinder, und die jungen Mädchen besonders. Durch Wald und Wildbachrunsen, drohende Lawinenzüge ging die Morgenfahrt in der angenehm wärmenden Sonne, an kleinen Weilern vorüber; überall wurde an der Strasse gebaut; den Grund sollte ich später erfahren.

Noch ein Stück steilen Anstiegs, und dann hatten wir Thalkirch erreicht; die Fussreise konnte beginnen. Auf diesem Wege holte ich mit ausholendem Schritt bald eine jüngere Safierin ein; sie nestelte an ihrem Haar herum, blieb dann stehen, als sie meinen Schritt vernahm und bat mich, ohne sich zu zieren, ihr ein Bienlein, das sich in ihre Flechten verflogen und drin verstrickt hatte, zu befreien. Ich tat 's nicht ungern; gestochen hat mich das Immlein nicht; aber die kleine Nächstenliebe, die es zu beweisen galt, belohnte sich mit einem kurzweiligen Gespräch, während wir selbander gegen das Turahus schritten. Mit einem besorgten Blick nach den droben an den Halden schier angeklebten Einzelhöfen erzählte mir die Talschöne vom schweren Lawinenwinter 50 auf 51; sie stamme zwar aus dem benachbarten Valsertal, aber nun wohne sie eben hier; ja, gefürchtet hätten sie sich damals schon; doch sei Safien eigentlich recht gut durch die Gefahr und Beschwernis gekommen, wenn man auch während längerer Zeit mit der Aussenwelt keinerlei Verbindung gehabt habe. Auf meine Bemerkung, da habe aber der Mann einen weiten und mühsamen Weg z'Hengert zurücklegen müssen, um seine Liebste zu besuchen, nickte sie heiter lächelnd: « Ja, wenn er mich dann überhaupt angetroffen hat - ich weilte einige Zeit in der Fremde! » Ihre Unbefangenheit hatte mir schon vorher verraten, dass sie auswärts gedient haben mochte; aber es bereitete mir Freude, zu sehen, dass sie unverbildet und unverstellt zugleich heimgekehrt sei, um hier drin im einsamen Safien als Bergbäuerin ihrem Haushalt vorzustehen.

Der immer spärlicher gewordene Wald lag hinter uns; fern in der Gegend von Tenna, das man erst von hier aus erblicken konnte, leuchteten die kleinen Getreidezeigen wie helles Gold in der Sonne dieses noch recht kühlen Sommermorgens; aber ich empfand eitel Lust an diesem klaren Tag mit seiner seligen Himmelsbläue, die nur noch wenige kleine und unbedrohliche Wolken langsam durchzogen wie geschwellte Schiffe meiner Hoffnung auf eine Reihe schöner und heiterer Tage. Das brauchte es am ersten Wandertag; so hatte ich es mir gewünscht, als ich den Plan dazu mir zurechtgelegt.

Beim Turahus trennte sich die junge Frau; ihre Schwester komme dort oben von der dritten Alphütte herab. Meine Begleiterin wünschte mir gute Reise, ich ihr einen gesegneten Sommer. Dann schaute ich zu, wie die beiden Schwestern sich begegneten. Sapperlot, dachte ich, als ich das bildhübsche Menschenkind betrachten konnte, ohne dass es das übelnahm, Lechners Frauenlob ist beizupflichten, und das 1902 schwarz auf weiss Gedruckte gilt nach wie vor. Gestalten, die man nicht so bald wieder vergessen kann; und auf einmal nehmen sie geheimnisvolles neues Leben an, werden unbewusst dem Erzähler zu Vorbildern im Ablauf seines Dichtens und Berichtens. Ja - so müssen diese Bergmenschen bleiben, aufgeschlossen, von natürlichem Stolz und dennoch von gütigen Umgängsformen begleitet, so fest in ihrer schlichten Anmut oder von der betonten und ausgesprochenen Charakterart wie der Safierpfarrer, der bis zur Strassenabzweigung nach Tenna mitfuhr oder jener eindrückliche Mann vorn im ersten Dorf, Gemeindepräsident, Grossrat und weiss ich was noch mehr, der mir so starken Eindruck machte mit seiner achtunggebietenden, stattlichen Figur und dem markanten und doch geistvoll ziselierten Gesicht.

Bei einem Glas dunklen Veltliners und kräftigem Bindenfleisch stärkte ich mich auf die Passfahrt, ehe ich den Übergang nach Splügen in Angriff nahm.

Ich hatte ein stilles Bergtal erwartet mit stiebenden Wasserstürzen, schrillen Murmel-tierpfiffen, weidenden Herden hoch am Sonnenhang, Gemsenlosung und kühnem Adlerflug in den Flühen des vergletscherten Weisshorns; statt dessen empfing mich ein paar hundert Schritte drin das leider auch an diesem Bergsonntag nicht ganz ruhende Getriebe einer hässlichen Baustelle; wird doch hier ein mächtiger Stollen in den Berg vorgetrieben, der dem künftigen Zervreilawerk zugut kommen soll. Gold hat man bisher nicht aus dem Tunnel herausgekratzt, der offenbar schon tief in den Berg hinein gestossen worden ist; denn mächtige Felsmassen erfüllten weithin das Umgelände. Friede und Reinheit dieses herben Talabschlusses mit seinen letzten niedern Hütten und Gaden vor dem aufwuchtenden Berg sind gebrochen, das Gleichgewicht der Natur ist gestört, der Sinn jedes aufrechten Berggängers verletzt und das Auge, das urwüchsige, unverfälschte Natur gesucht hat, schmerzlich verwundet. Was fragt man schon nach uns Aussenseitern, die derartige Verschandelungen einfach nicht ohne Leid und Sorge hinnehmen können?

Raschen Schrittes wende ich mich, einem schmalen Pfade folgend, der mich sogar einmal in die Irre weist, von diesem Baracken- und Maschinendorf zur Höhe und suche den Anstieg zum selten begangenen Safierberg. Dass er selten begangen wird, davon kann ich mich heute überzeugen; trotz der Ferienzeit und des herrlichsten Wetters, das sich im Laufe des Morgens bereits eingestellt hat, begegnen mir nur vier Menschen, ein bejahrtes und ein jüngeres Menschenpaar, bergsinnige Passwanderer wie ich, die meinen Gruss freundlich erwidern.

Droben im Grateinschnitt, wo aus der letzten Weltkriegszeit ein währschaftes Steinhaus für die da oben Dienst tuende Truppe steht, das aber, weil es verschlossen ist, nicht einmal als Notunterkunft bezogen werden kann, werfe ich einen letzten Blick nach Norden und nehme Abschied von einem schönen und dennoch bergernsten Hochtal; dann steige ich, oft von Stufe zu Stufe springend, ins verlassene Stutzbachtal hinab; wenn es möglich ist, will ich noch das letzte Postauto erreichen und vielleicht bis Cresta und Juf ins Avers gelangen, um dort oben unter einem Dach des kleinen Dörfleins zu schlafen, das lange als das höchstgelegene Europas gegolten hat und seit dem schönen Buche Stoffels über sein Land und seine Leute es mir in aller Heimlichkeit angetan hat.

Doch unterwegs lege ich eine längere Rast ein; nein, ich will ja nicht eilen, ich will mir alle Zeit lassen, ich will die Raschheit des halb zum Städter gewordenen Unterländers ablegen; ich will meine Sinne weit öffnen, will diese selten gewordenen Bergtage mit aller Liebe und Leidenschaft in mich aufnehmen, darf mich daran gewöhnen, kein Auto und keinen Eisenbahnzug mehr zu hören.

Und so sitze ich auf bemoostem Stein, nehme die Melodie des klaren Bergbaches in meine Ohren auf, lausche dem feinen Wehen des Windes, der von den steilen, grauen Kalkbergen niederkommt, betrachte die schon etwas vereinsamten letzten Sommerblumen, ihre Glocken- und Körbchenblüten, frage nicht nach ihren Namen und Familien, beschaue das einfach für mich hin, Blumen, Gräser und Hahne, unterscheide das tiefe Orgeln der Hummeln vom schwächeren Brummen der Bienen, freue mich an Käfern und Fliegen, an den Schmetterlingen, die hier ihren seligen Liebes- und Honiggarten finden dürfen, nahe bei Fels, Steinkar und ewigem Schnee; es war eine glückliche Stunde an diesem Frühabend, und weit und breit kein Mensch, kein Herdentier, keine Hütte und kein Geissbubengaden - wie gut das einmal nur im langen Jahre tut, dieses Rasten, Verweilen, diese Hingabe! Ich trinke von einem frischen Quell, schaue den Munggen zu, die sich vor mir in Sicherheit wähnen und auf den sonnigen Steinplatten spielen; ich schliesse halbwegs die Augen und blinzle in den milden Abendhimmel hinein. Und niemand weiss um mein Glück. Freilich, wer sich nicht ein Stücklein inneren Friedens retten konnte, auch drunten im Gehetz und Getriebe des Alltags, der wird auch in dieser himmlischen Bergstille umsonst den Frieden suchen; aber vielleicht genügt einem Armen schon das Heimweh nach einer kurzen Feierstunde, dass sich ein schweigendes Glück einstellen darf, damit das Laute, Grelle, das die Sinne nur kitzelt, still und klein wird und das immerfort Dauernde sich ankündet; mag auch die Natur sich wandeln und selbst der stolze Berg vor mir in Staub zerfallen, dass einer ein Mensch ist, der fühlt und denkt, und - dabei auch an den göttlichen Baumeister denkt und voll Lobes und Dankes dem Unsichtbaren sich nähern darf und danken darf für Leides und Liebes, Leichtes und Schweres, wie es das Schicksal mischte, das macht unsern innern Wert aus, und das hilft weiter.

Zufrieden stieg ich ins Sonntagabenddorf hinab, gerade als die grosshörnigen Bergziegen, von ferne nicht Grattieren unähnlich, springend und schellenbimmelnd ihre Ställe und Pferche suchten, willkommen geheissen von Frauen und Kindern des ganzen Dorfes.

Die Sonne vergoldete den Guggernüll und das kecke Einshorn über dem bereits schattigen Schutzwald; von ihrem Schein blieb das Rheinwald bis zu seinen Gletscherbergen weit im Tale hinten noch einige Minuten warm erfüllt; dann stieg die Nacht aus ihren Klüften, wo sie sich tagsüber verborgen hatte; Kühle wehte mich an, der Lärm der Alpenstrasse klang aus mit den letzten lebhaften Gesprächen parlierender Bergamasker, und schliesslich kehrte auch auf dem grossen Dorfplatz die satte Ruhe der Alpennacht ein, kaum gestört vom unermüdlichen Rauschen des Hinterrheins...

Champfèr, Montagnacht, 11. August Heute bin ich in vielstündiger Wanderung von Cresta im Avers über die Forcellina und den Lunghinpass, den alten Säumerweg über den Septimer schneidend, ins Engadin gelangt. In der tauigen Morgenfrühe eine erquickliche Fahrt von Splügen zur Roffna, wo ich bei einem warmen Glas Milchkaffee abermals auf die Averser Post warten musste, die mich nach Cresta mitnahm. Meinen Platz hatte ich vorsichtigerweise vorausbestellen lassen, sonst würde ich den weiten Weg zu Fuss zurückgelegt haben müssen. Ins tiefe, oft schluchtartig verengte Tal drang die Sonne selten; doch der blaue Himmel über den Bergwäldern und grauen Berghäuptern versprach und hielt mir auch heute einen guten Wandertag. Beim Ausgang des Val di Lei, wo die italienische Grenze bis zur Strassenbrücke reicht, waren linker Hand Gemsen bei friedlicher Ätzung zu beobachten, die über steile Felsbänder bis schier an den Rhein herabsteigen, ohne sich um den geringen Verkehr auf der oftmals kühnen und schmalen Bergstrasse zu kümmern. Ich habe auch die Edelweiss wieder an derselben Stelle angetroffen, wo sie im späten August des letzten Jahres zum Greifen nahe mit ihren Silbersternen von nahen Felsköpfen in den Wagen herabgrüssten, zum grossen Ergötzen einiger Kinder, die unter uns sassen. Ich musste an Vroni denken, die damals beim Weiler Juppa drin schier mit dem ganzen Gewicht ihres Persönleins in einem Munggenloch verschwand, um den scheuen Tieren nachzusehen, die noch eben auf ebener Wiese vor den erstaunten Augen der Kinderschar gespielt hatten, auf den besorgten Pfiff eines alten Tieres blitzschnell in ihren Höhlen verschwunden waren. Kinder sind, wenn recht angeleitet, unbefangene und begeisterungsfähige Naturfreunde.

Die Averserbauern lagen dem Talheuet ob; in den steilen Wildheuplanggen blitzte da und dort ein Senslein und juchzte ein Mäher. Wie köstlich die Heuwiesen des Avers sind, wie säuberlich von den geringsten Steinen befreit! Bald hatte ich die letzte Wetterarve hinter mir; das langgestreckte Tal lag vor mir mit seinen einsamen Gehöften. Ich schritt wacker aus, um trotz der vorgerückten Mittagsstunde und ungeachtet aller Wärme mein Vorhaben auszuführen. Wenige Schritte hinter dem Potestatenhaus holte ich einen jungen Buben ein, der seinem Öhi, der ein Stück hinter Juf heuete, die warme Mittagssuppe zutragen musste, eine oft recht schwere und mühsame Arbeit, wie der Christian weiter erzählte, und er besorge dieses Ämtlein noch während einer Reihe von Wochen. Die Mutter stamme aus Juppa, der Vater sei in Ems in der grossen Fabrik angestellt; so weile er in den langen Sommerferien in Mutters Heimat. Der Knabe war aufgeweckt, wusste über Weg und Steg genau Bescheid, stellte mir manche Fragen, wollte wissen, wohin ich heute noch zu gehen gedenke, und meinte, ja, er sei sicher, so weit komme ich schon, ich sei ein guter Läufer. So schlössen wir Freundschaft; ich trug ihm den Kessel mit dem Mittagessen für Grossvater und Knechte. In Juf trennten wir uns; als ich eine halbe Stunde später bei den letzten Häusern vorüberschritt, grüsste er lächelnd aus der Gesellschaft der Heuerleute und mochte mir nachschauen, wie ich zur Forcellina hinaufstieg.

Die Alpen - 1953 - Us Alpes19 Nun muss man wissen, dass in Juf sommerüber ein ergrauter Veteran des SAC haust, ein Zürcher, der gesundheitshalber die kurzen Sommermonate da oben verbringt und in seinem kleinen Laden alles Mögliche und Unmögliche feilhat, was Passwanderer unterwegs brauchen.

Mit meinem Plane, jetzt, zur Mittagsstunde noch über zwei Pässe nach Maloja zu wandern, konnte er sich nicht befreunden, riet mir davon ab und sagte Nachteinbruch und wilde Nebel voraus, ehe ich mein Reiseziel erreicht hätte. Höchstens nach Casaccia oder Bivio solle ich gehen, alles Weitere sei von Übel. Ich musste den guten Mann enttäuschen, der 's sicherlich ernst meinte; allerlei Erfahrungen und Beobachtungen werden ihn zwingen, andere zur Mässigung zu mahnen. Und doch bin ich nun zufrieden, dass ich den weiten Weg ins Engadin noch gleichen Tages unternommen habe. Es war ein rechter Tag nach meinem Wunsch, zweimal bergauf, zweimal hinunter, das zweite Mal recht ergiebig. Aber auch in Nacht und Nebel hätte sich bei der guten Markierung der Niederstieg nach Maloja gefunden. Menschen begegneten mir wiederum nur wenige; bei den Ruinen des einstigen Hospizes auf dem Septimer erklang ein frohes Berglied; eine Schar junger Menschen rastete dort angesichts des gewaltigen Bergbildes, das zwischen Piz Forcellina und Piz Lunghin sich auftat, der Blick in die kühnen Kletterberge des obern Bergells. Einsamkeit umfing mich auf dem leichten Anstieg zum Lunghin; Wolken wuchsen und zerflatterten wieder, Fels, Grate, Alpen ringsum, keine menschliche Behausung, dafür kleine Blumenpolster und vor allem eines: diese weihevolle, gewaltige Stille, noch eindrücklicher heute als gestern nachmittag auf dem Safierberg. Am dunklen Lunghinsee vorbei, wo zwei junge Menschen-paare vesperten, gelangte ich endlich zu der Stelle, wo sich der Blick öffnet in die erhabene Welt des Engadins. Unzählige Dichter haben sein Lob gesungen; man kann sich seiner Schönheit niemals verschliessen. Hier ist alles gross und einfach, die Luft war auch heute von deutlichster Klarheit und Reinheit, und die Farben Segantinis erfüllten die einfachen Dinge dieser Hochgebirgswelt, grüne Wiesen, dunkle Wälder, der spiegelglatte Süser See, Alpen und Berge, Gletscher und Eiszacken, Nähe und Ferne wundersam verwoben in ein ergreifendes Gemälde. Lange stand ich auf meinem erhöhten Auslug und schaute und schaute, und nur der fortschreitende Abend mahnte, in die Tiefe zu steigen; denn es war nicht ausgemacht, dass sich im ersten Dorf schon ein einfaches Bergsteigerquartier auftue. Nur eines wünschte ich mir weg, diesen unsinnigen Hotelkasten, dieses furchtbare Zeugnis schlechten Geschmackes und prahlerischen Aufwandes da unten mitten im schönsten Abschluss des Engadins.

Nicht müde, mich freuend auf die Abendreise am See entlang, schritt ich auf der Strasse gegen Sils. Aber in Sachen Wanderweg hat sich da allzuviel geändert; statt einem guten Weg traf ich auf harten, unbarmherzigen Asphalt; kein Wunder denn, dass mir auch nicht ein einziger Fussgänger begegnete. Diese Strasse gehört leider nicht mehr dem Wandersmann, der auf Schuhmachers Rappen fürbass ziehen möchte. Unzählige Autos und Motorräder, auch viele Velofahrer aus allen Windrosen sausten und schnellten an mir vorüber, mit einem Lächern mochten mich diese Fremden messen, und ich kam mir wirklich ebenfalls als ein Anachronismus vor, wie ich da so versuchte, etwas zu unternehmen, was selbst geeichten Fussen unbequeme Blasen bringen musste. Hätte ich Autostop machen sollenIch wollte nicht, und zweitens war ich auch überzeugt davon, dass meine schweren Tricounibeschläge, bestaubt und zugriffig, wie sie nun einmal sind, so wenig in den Fond eines schönen Personen-wagens passten wie der Mann, der sie trug, in kurzen Socken, Knickerbockerhosen aus längst dutzendfach bewährtem Manchester, dem breitgeladenen Rucksack mit dem aufgepflanzten Pickel - nein, und dazu noch sonnverbrannt, verschwitzt, kurzärmelig: ich sah wenig einladend aus.

So hielt ich bald nach der Bergnase von Buera, wo der Süser See sich verbreitert, das fünfte Postauto auf, und sein Chauffeur hatte Erbarmen und nahm mich auch noch in den bereits vollen Wagen; von Sils weg konnte ich dann endlich meine Füsse ausruhen lassen, die Nacht kam rasch, und als ich Champfèr erreichte, leuchtete bereits der erste Stern hoch über dem St. Moritzer Hahnensee im wolkenlosen Himmel.

Und so sitze ich nun in einer echten Engadiner Stube, und Frau Giovanoli schenkt mir reichlich Milch und Kaffee ein, ich gebe mich der verdienten Freude des Abendbrotes hin -auch das ist dem Menschen erlaubtsehe mich in der arvengetäferten blitzsaubern Umgebung um, freue mich, dass hier Stabellen am Tische stehen, dass die Kissen und Decken die unverkennbar echten Bündner Muster an ihren Stickereien zeigen, denn darum weiss ich Bescheid, weil meine Buben im Pestalozziheim der Stadt Zürich winters solche Vorlagen besitzen, wenn sie für Mutter und Tante eine .Weihnachtsarbeit machen.

Draussen liegt die Bergnacht, hoheitsvoll und beinahe still; denn die laute Strasse führt nicht an diesem Haus vorbei. Der wilde Bergbach wird mich in den Schlafsingen; ohne Zweifel werde ich bald genug von ihm eingewiegt worden sein. Ich bin rechtschaffen müde, eine Zeitlang umspielen mich noch die herrlichen Nachbilder des vergangenen Tages, zuletzt dämmert auch das letzte Bild, das Engadin mit den abendlich verblühenden Berghäuptern des Pizzo della Margna und des Piz Lagrev ein, verblasst der Silberscbimmer der Seen, in denen sich die ersten Lichter von Baselgia und Silvaplana gespiegelt haben.

Gute Nacht, ihr Lieben fern und nah!

Fuorcla Surlej, Dienstagmittag Wie einen herrlichen Filmstreifen lasse ich diesen Wandermorgen vor meinen Augen abrollen.

Noch im Schatten des Piz Rosatsch schritt ich, diesmal ohne Rucksack, der den Weg nach Pontresina allein finden mochte, dem morgenkühlen See von Champfèr entlang, meistens durch frischbetauten Wald, über Moos und sammetweiche Erde. Auf stillen Waldwiesen standen Bergamaskerburschen in der Mahd; meinen Gruss nahmen sie nicht ab; vielleicht sind sie nicht daran gewöhnt, von den fremden Besuchern des Engadins angeredet zu werden; schade! Aber das Sirren und Rauschen ihrer Sensen klang mir noch lange durch die Stämme und das Astwerk des Bergwaldes in den Ohren nach.

Erst kurz unter der Alp Surlej öffnete sich der Bergwald und gewährte den ungehinderten Blick über die morgenstillen Seen von Silvaplana und Sils. Vom Julier herüber klang gedämpft und melodisch der Dreiklang gelber Alpenwagen, die langsam um die Kurven zur Passhöhe emporstiegen.

Durch niederes Buschwerk und beerenübersäumte Sträucher gewann ich die Höhe der Alp. Der Meistersenn, den ich um ein Glas Milch bat, hielt mich zu einem halbstündigen Plausch auf dem sonnigen Auslug vor der Käshütte fest, zog mich in ein unterhaltsames Gespräch und zeigte mir auch das Innere seiner Behausung. Wie viele Alphütten habe ich wohl schon betretenAber eine solche mustergültige Ordnung und Sauberkeit fand sich nicht oft. Der Senn, ein Unterengadiner aus der Gegend von Sent, Nachkomme einer einst aus dem benachbarten Tirol eingewanderten Familie, hirtet schon bald ein halb Jahrhundert lang im Bergland, früher im Gebiet von Nufenen, seither da oben über den Seen des Engadins. Hat ihn, dieses echt Segantinische Gemälde, das er stündlich vor seinen Sinnen sieht, so abgeklärt und gereift? Denn es ist nicht das Alter allein, das den Menschen weise machen kann. Ich freute mich an seinem scharfen Verstand, seinem hellen Kopf, seinem Eingehen und Mitgehen auf allerlei brennende Tagesfragen, auf die wir zu reden kamen, und ohne den Blick in das schöne Land zu vergessen, das sich vor meinen Augen entbreitete, vernahm ich gern, was er dachte und empfand. Zwar mit seinen vier Hirten ging er nicht in allen Stücken einig; aber er schrieb ihr Unvermögen, so zu hirten, wie er es wünschte, der bittern Kriegs-und Notzeit zu, die hinter den Burschen lag. Ich erlebte ein Muster davon, wie sicher und bestimmt er einen der vier Jünglinge, der in der Nähe der Hütte herumstand, an seine Pflicht und Arbeit wies, und dachte, dass der Meisterhirt einen tüchtigen Unteroffizier wahrhaft in den Schatten stellte.

In der Hütte liess er mir das Wasser in den Trog laufen und seine Temperatur prüfen; ich zog die Finger rasch zurück, so eiskalt war es. « Es ist ausgeschlossen », erklärte er mir lächelnd, « damit zu arbeiten, wenn man nicht rasch Gicht und Rheumatismen bekommen will. Ich dulde es auch bei den Hirten nicht. Darum wird es immer mit heissem Wasser gemischt! » Ich freute mich auch an dem peinlich glänzenden Geschirr, dem Besteck und den Trinkgläsern auf Gestell und Laden. Draussen berichtete er mir von seiner Heimat. Mit kurzen, prägnanten Sätzen umriss er die leidige Situation, das bestätigend, was mir bereits eine bejahrte Frau aus dem untern Imitale erzählt hatte: « Man muss uns Engadiner begreifen, wenn wir im Spölwerk einen Ausweg, für manche einen Ausweg aus wirklicher Not sehen. Viele Engadiner leben von den Erträgnissen der bergbäuerlichen Landwirtschaft. Wir besitzen aber auch Boden drüben im Italienischen. Mit diesen Erträgnissen lebt sich 's heute nicht mehr. Heuschrecken und anderes Ungeziefer haben uns im Livignotal alles Heu und Weidgras gefressen. Dabei hängt der Engadiner an seiner Heimat. In der Fremde hat er Heimweh nach dem eigenen Tal und Dorf; und sein höchster Wunsch geht dahin, wenigstens daheim den Lebensabend zu verbringen und in der Heimaterde begraben zu werden. Wie hat seinerzeit Bundesrichter Bezzola auch in Lausanne auf seinem hohen Posten dieses heisse Heimweh in seinen unvergesslichen Gedichten und Liedern ausgedrücktJa, Ihr habt recht, wir lieben den Nationalpark nicht weniger als Ihr übrigen Eidgenossen; er ist ein Teil von uns; aber manche verstehen nicht, warum man seine Kräfte nicht nützen soll, mancher hofft, er finde Arbeit und könne ein besseres und genügendes Auskommen finden, wenn die Wasserkräfte elektrische Kraft erzeugen... » Und doch, mir schien 's, während er mir so das Dilemma vieler Engadiner auseinandersetzte, es tue ihm rechtschaffen leid, wenn der Nationalpark in seinem Wesen und seiner Unberührtheit angetastet werde. « Bedenkt auch », Schloss er, « der Fremdenverkehr und die Hôtellerie geben uns nicht mehr so viel zu verdienen wie einst. Viele Besucher des Engadins rasen mit ihren Vehikeln nur noch durch das Land, lassen uns den Staub und geben uns nichts zu verdienen. » Und mit einem Blick auf die berühmten Dörfer am See: « Das ist vorbei, dieser Glanz - aber vielleicht ist 's gut! » Gedankenvoll steige ich nachher zur Fuorcla. Wie ein Schatten liegt es vor der Sonne und dämpft mir auch jetzt die Herrlichkeit dieses Blickes in das Berninamassiv.

Ich mag nicht unter den vielen Menschen draussen sitzen und nehme Platz an einem Fenster der Bündnerstube. Draussen wird laut geredet und geschwatzt; Gläser klirren, Essbesteck lärmt. Abseits auf den gletschergeschliffenen Felsplatten sitzen mehr die Sinnenden und suchen, mit Ferngläsern bewaffnet, Einzelheiten in der Landschaft an sich heranzuziehen. Es werden vermutlich keine Partien mehr auf Piz Bernina und Piz Roseg zu beobachten sein; dazu ist es reichlich zu spät. Der Ansturm dieses Schneeglanzes überwältigt auch am Fenster die Augen. Aber man müsste in einer stilleren Stunde ganz einsam da oben verweilen und die grenzenlose Hoheit dieses Bergebildes in sich aufnehmen dürfen. Doch, ich werde ungerecht! Weiss ich denn, wie andere dieses Schöpfungswunder aufnehmen? Weiss ich, wie in ihnen dieses vielleicht einmalige Erlebnis eines langen Lebens nachklingt? Jahre später, wenn sie in alten Erinnerungen kramen, die nach Hause geschickten Ansichtskarten und ihre eigenen Aufnahmen vor sich liegen haben, den Blick werfen nach dem in St. Moritz oder Pontresina gekauften Bergstock, wie sie scheu mit der Hand über eine gepresste Bergblume hinwegfahren, das farbige Tüchlein, das sie an einem Kiosk erworben, mit stiller Wehmut auf die Schulter legen, ein kleines Stück Felsgestein, wie sie hier zu Millionen unbeachtet herumliegen, mit Fingern und Augen prüfen und in der offenen Hand wägen? Kenne ich diese Fremden aus Italien, England, den Niederlanden, aus Frankreich, Amerika, Deutschland? Irgendwie sind sie diesem Mittag verhaftet, erschüttert und angesprochen und zehren von diesen Stunden, während wir Schweizer ob so viel Schönem, das unsere Heimat uns schenkt, den schuldigen Dank vergessen haben... Bloss den bergsteigenden Frauenverein, lauter Damen aus dem frühen Mittelalter, sähe ich lieber nicht in den allzu das Feminine ( oder doch nicht ?) betonenden reichlich kurzen Shorts; ich bin beileibe kein Frauenverächter; aber was zu viel oder zu wenig ist, ist eben zu viel oder zu wenig! Und in böser Anwandlung wünsche ich den nacktschenkligen Frauen, die auch etwas zu laut miteinander reden, einen bloss geträumten kräftigen Sonnenbrand an ihren rundlichen Kniepartien!

Ein junger Zürcher leistete mir Gesellschaft. Er hat einen schweren Offiziersrucksack heraufgebuckelt, erklärt aber, dieser gehöre seinem Vater, der früher oft und leidenschaftlich gern zu Berg gestiegen sei, jetzt aber infolge eines Leidens vom Bergsteigen ausgeschlossen sei. Dafür schicke er Frau, Schwester und Bruder zu Berg und warte irgendwo im Tal mit dem Wagen auf die Rückkehrenden. In kurzen Worten enthüllt sich mir ein Schicksal von Verzicht und Entsagung. Da erzähle ich dem Jungen, der mir aufmerksam zuhört, von meiner nun bald zehn Jahre zurückliegenden Morteratschfahrt mit dem jähen Schluss, als ich beim Überqueren des Bergschrundes einen Unfall erlitt, der die Freunde ( leider auch siezur Umkehr und zum mühsamen Abstieg zur Tschierva zwang. Ich kann ihm aus eigener Erfahrung bekennen, was Bergkameradschaft heisst, und erwähne auch Bergführer Götte, der draussen vor der Hütte den beiden zufälligerweise anwesenden jungen Samariterinnen aus Chur zuschaute, wie sie mich fachgerecht schienten und für den Transport über die Moräne ins Tal Roseg fertigmachten. Ich suche mit meinen Augen die neue Tschierva, suche den steilen Felshang, wo ich abgeseilt wurde, weil ein Transport auf diesem Wege nicht gut möglich war. Lief alles schliesslich auch glimpflich ab, die Erinnerung an jenen « Weg » über Eis und Felsenwüstenei von 3300 Meter Höhe, stundenlang in der ermüdenden Hitze eines föhnklaren Septembertages anno 1943, bleibt unvergessen.

Die alte Tschierva steht nicht mehr; Bergführer und Hüttenwart Götte schläft seinen ewigen Schlaf seit dem Lawinenwinter 1950/51. Hut ab vor dem braven Manne, der sein Leben wie mancher andere in der Nächstenliebe aufopferte! Eine Blume treuen Gedenkens auf dein Grab!

Ich bin wieder allein und halte stilles Gedenken, frage den sonngleissenden Bernina, dich, kühner Berg, wie manche Opfer auch du im Kranze der Berge schon gefordert hast. Wo schlafet ihr, die vor wenigen Jahren ein jacher Windstoss vom Biancograt ins Verderben riss? Der Berg schweigt; doch machtvoll gleisst das Mittagslicht über Gletschern und Graten. Langsam verschieben sich die dunklen Schlagschatten des Piz Roseg, und hart nebeneinander stehen hellstes Leuchten und dunkelste Schwärznis. Ein Gleichnis ist 's. Ich schliesse das Wanderbüchlein und mache mich zum Gehen bereit.

Pontresina, in der Nacht darauf Ja, damals glaubte ich, auf der Tragbahre liegend, die Bergführer Morf tragen half, während sich hinten die Kameraden gütig ablösten und ich bald mit ganz offenen, bald halb geschlossenen Augen an diesen vorbei abschiednehmend den letzten Blick zu den entschwindenden, sich aber immer höher und höher steigenden Schneegipfeln warf, es wäre meine letzte Gletscherfahrt gewesen.

Nun lockt und ruft es von neuem. Wozu hätte ich sonst den Pickel mit ins Engadin genommen?

Hier im Gletscherdorf, nach dem durstgequälten Gang durch das staubige Rosegtal hinaus, an der Colanihütte vorbei, ward mir Antwort.

Am Bahnhof las ich zufällig - oder gibt es keine Zufälleden Anschlag über geführte und vom Bund subventionierte Hochtouren im Berninagebiet.

Eine halbe Stunde später hatte ich mich im Verkehrsbüro, wo eine junge Dame und ein ebenso junger Herr, beide sehr nett, liebenswürdig und dienstbereit, dem gewaltigen Ansturm der Zimmersuchenden kaum mehr entsprechen konnten, für eine Palüfahrt eingeschrieben, den lachhaft geringen Führeranteil entrichtet und gleichzeitig auch eine Adresse bekommen, die mir zehn Minuten später zu einem Zimmer verhalf, das meinen Ansprüchen vollständig genügt. Dazu schlafe ich jetzt erst noch direkt hinter dem Campellhause, und ich weiss die Gletschertäler nahe. Eine stille, milde Nacht liegt über dem Dorf, und wenn mich seine Hotelkasten auch nicht ansprechen, so versöhne ich mich heute mit ihnen, weil sie Raum liessen für dieses Bündnerhaus und die Dachschräge, wo es sich ebenso gut hegen .und schlafen lässt wie im vornehmsten Daunenbett. Ich kann so auch ein wenig an den früheren CP-SAC denken, an ihn und seine Frau, die mir damals den gebrochenen Fuss eingipsten, als die Röntgenaufnahme gottlob keine so schwere Verletzung, als anfänglich befürchtet worden war, feststellte. Das frohe Lächeln der Arztfrau, die selber eine richtige Ärztin ist, wie sie mir den Bericht aus dem Röntgenkabinett brachte, während Dr. Campell und seine Tochter, die ich ein Jahr später mitten im Chor der hübschen Engadinerinnen anlässlich des Zentralfestes wieder erkannte, alles zum Eingipsen bereit legtenEr soll 's nicht wissen, der Herr Doktor, dass ich hinter seinem prächtigen Engadinerhaus während dieser Nacht schlafe, ich habe ihn nicht aufgesucht; abraten soll er mir die abgemachte Tour auf den Palü nicht Morgen mittag fahre ich nach Berninahäuser und steige zur Diavolezza, um dort auf meine Kameraden und Führer Spinas zu warten, der seit mehr als einer Woche fortgesetzt im Berninagebiet weilt. Tiefe Stille ist eingetreten; die Sterne stehen hoch in ihren Geleisen und ziehen ihre Bahn. Wenn ich gut aufpasse, höre ich den Berninabach rauschen, der zwischen Bahnhof und Dorf auf kühner Brücke überschritten wird.

Nur ein Gedanke beseelt mich jetzt, der an den Palü, ich kann ihn mir nicht verwehren.

Abend, 14. August, Diavolezzahütte Ich sitze am Zimmerfenster und schaue in die einfallende Nacht. Vor geraumer Zeit ging die Sonne unter. Einen langen, lieben Tag hat sie uns ununterbrochen Licht und Wärme geschenkt. Früh ist es heute ruhig geworden in der Hüttenstube. Sie alle, die unter diesem Dache liegen, wollen morgen auf den Palü, manche sogar bis zur Bellavista, und einige werden versuchen, auch die Bernina am gleichen Tage zu bezwingen. Ich frage mich, ob ich schlafe und träume. Soll die Palütour wirklich schon hinter mir liegen?

Ich schaue hinauf zu dem wundervollen Dreigestirn aus Eis und Firn. Ist es wahr? Stand ich heute morgen halb 8 Uhr dort oben?

Um 3 Uhr pochte Führer Spinas unmissverständlich an meine Zimmertüre. Ich habe ausgesprochen miserabel geschlafen, gebe ich etwas kleinlaut zu. Bange Träume, wie sie sich nicht ungern vor einer Hochtour einzustellen pflegen, peinigten mich wie ein Alp. Trotzdem fühlte ich mich dann doch frisch und munter. Zuerst der bekannte fragende und forschende Blick nach Himmel, Sternen und dem Berg, den jeder Hochtourist so gut kennt und von dessen Ergebnis er sich ein Bild zu machen sucht, so oft und arg er schon getäuscht haben mochte. Abweisend, kalt, fahl und gespenstig stand der Palü drüben, unnahbar, fremd, ja abweisend, schien es. In der Nacht mussten sich drüben gewaltige Eismassen gelöst haben. Seine grausen Trümmermassen haben wir denn auch im schärfsten Eiltempo durchquert. « Rasch! Rasch! » trieb der Führer uns darüber hinweg. Ihm gefiel dieses Chaos ganz und gar nicht: « Wie los das Zeug da oben hängt, gespalten und gekeilt, und wen es trifft, ob lebend oder tot, der hat nichts mehr zu wollen! » entschuldigte er sich nachher. « Ich werde mir einen andern Aufstieg suchen! » Punkt 4 Uhr verliessen wir die Hütte. Das Windlicht brauchten wir nicht. Im Felsengewirr vor uns wankten ein paar Gestalten. Als die Steigeisen angezogen werden mussten - ich machte die Partie ohne solche und hatte guten Stand dank meiner griffigen Beschläge-, holten uns die Fremden ein. Freundlich, aber deutlich gab der Führer es ihnen zu verstehen: « Ich habe absolut nichts dagegen, dass eine führerlose Partie uns zu folgen versucht; aber das mindeste, was jedermann erwarten darf, ist ein Gruss am Morgen. Am Berg, wenn 's nottut, gehören wir doch alle zusammen. » Ein gutes Wort am rechten Platz. Die Unbekannten murmelten eine Entschuldigung; der Fall war abgetan, man kam nicht mehr darauf zu sprechen. Gesehen haben wir die uns Folgenden den ganzen Tag über nicht mehr; sie waren noch weit unten im Aufstieg begriffen, als wir den Ostgipfel erreicht hatten und uns dort zu einem kurzen Halt niederliessen. Wir standen nun in der Morgensonne. Wohlig durchwärmt von ihren Strahlen, schwiegen wir vor uns hin, dem ergreifenden Ausblick nach Süden ergeben, wo aus den Spalten des Palügletschers immerfort neue Nebelschwaden heraufwallten und dann doch zerfaserten und zergingen und kein Unwetter zu brauen vermochten. Berge, Berge, so weit das Auge zu sehen vermochte. Ihre Gipfel, ihre Namen, in jeder Palüfahrt lässt sich das Panorama nachlesen. Warum wiederholen, was schliesslich tiefstes Erlebnis sein darf, dem man mit allen Namen nicht nachzukommen vermag? Unter denkbar besten Schnee- und Witterungsverhältnissen ist die Palüfahrt weiter nichts Bewegendes; aber da ich nun bald mit meinen Kameraden hinter Führer Spinas, der uns in allen Stücken aufmerksam und vorsichtig betreute, den höchsten Punkt dieses schon so lange sehnsüchtig herbeigewünschten Gipfels unter mir wusste, da packte es mich wie die andern; es war einem jeden anzumerken, wie sehr ihn dieser bergsteigerische Erfolg freute. Ein Augenblick im Leben eines kleinen Bergsteigers vor dem Herrn, man kann das nachfühlen, auch wenn man Matterhorn, Mont Blanc oder gar die Giganten fremder Kontinente bezwungen hat. Diesem Augenblick kam höchstens jener gleich, als wir uns vom Seile lösten, als wir einander abschiednehmend die Hände drückten, drunten auf dem Morteratschgletscher, als ich mich von der Partie trennte und über Isola Pers und Persgletscher ganz allein, aber im Hochgefühl dieses herrlichen Tages, wiederum zur Diavolezza anstieg, um abermals eine Nacht in dieser Höhe zu verbringen. Es war ein guter Beschluss, dass ich mich so entschlossen hatte. Morgen früh gedenke ich in die Tiefen zu steigen, ins Puschlav und weiter ins Veltlin, und wer weiss, wie oft das Leben mir einen Tag wie diesen gewährt und ob es nicht das erste- und letztemal zugleich sein muss, dass ich da oben stehe, den Berg so nah und immer noch nah, den zu besteigen ich viele Jahre vergeblich wünschte... Unvergessen diese Höhenstunden, wie sie der Mann braucht, der in den Niederungen sein Tagewerk zu erfüllen hat; solche Augenblicke geben ihm die Kraft, andere Situationen zu bestehen, die Widerstände zu überwinden, mit Ausdauer zu bestehen, in der Erinnerung an die Höhepunkte des Lebens jenen Depressionen, wie sie in jedem Leben und nicht bloss im Wetterablauf der Natur üblich sind, schliesslich doch das mutige « Dennoch » abzutrotzen, wenn bittere Enttäuschungen und schwere Erfahrun- gen am Lebensmark zu nagen versuchen. Diese Stunde gehört der Einkehr, du schöner Berg, und niemand soll mir diese Gelegenheit rauben!

Wie, habt Ihr drunten in Morteratsch oder gar in Pontresina die Flasche Wein getrunken, Signor Piemontese, Kamerad Bosshart und Führer Spinas? Ihr weilt bei Euren Lieben; durch den Draht habe ich mit Frau und Kindern gesprochen, und es geht mir nah, was meine Frau zur Antwort auf meinen begeisterten Kurzbericht sagen konnte... « das mag ich Dir nun von ganzem Herzen gönnen, dass Dir dieser langjährige Wunsch in Erfüllung gegangen ist... » So spricht eine Frau, die den Sinn des Bergsteigens versteht.

Nun ist die Bergnacht da. Im Scheine meiner schwachen Taschenlampe werfe ich noch ein paar Zeilen hin; ich werde sie daheim ins Reine schreiben und aus den Stichwörtern, wie sie mir gerade einfallen, diese Bergfahrt in notwendiger Kürze zur Erinnerung aufbewahren. Sonne und Glanz über dem Palü. Es war nichts mit der berüchtigten Hölle am Palü. Das mag ein zügiger Filmtitel sein. Warum auch nicht? Aber Höllenfahrten führen meistens durchs innere Labyrinth. Dann stehen äusserliche Dinge für innere Erlebnisse: Nebeltreiben, Windböen, Bergschrund, schwache Schneebrücken über dunkel gähnenden Spalten, Sprünge über Klüfte, Tiefblicke in schwindelnde Abgründe, drohende Wächten und Eiswände; die Frage auch: Bist du, Berg, uns wohlgesinnt? Hast du gute Tritte und Griffe, leitest du uns gnädig zum Tale hin, woher wir gekommen sind? Antwort geben kann der Berg nicht. Wenn er redet, hiess ihn ein Gott zu sprechen? Der antwortsuchende Mensch legt seine Antworten in das Walten der Naturkräfte hinein. Die Hauptsache, dass er ein Grösseres, ein Ewigwirkendes erkennen kann, so erkennt er auch seine eigenen Grenzen, und was darüber ist, als seine Ohnmacht, deren er sich nicht zu schämen braucht.

Ein jeder schafft sich seine nötige Philosophie selber, eine kleine Abart, eine schlichte Spiegelung grosser Gedanken und Erkenntnisse, wie sie den Geistesweg der Menschheit bezeichnen. Und wenn er bloss ein winziges Glied darin vorstellt, zu etwas nütze sein an seinem Platz, das macht den menschlichen Wert aus.

Andere werden lächeln - wie gross sind die Ziele, die sich der Stolze steckt! Die Zünftigen reden von den letzten Siegen in der Hochwelt zwischen Indien und Tibet. Der Sieg ist vielleicht nur noch eine Frage von Wochen und Monaten. Sind das die letzten ungelösten Probleme des Bergsteigens, und was nachher, Hochtouren auf Mondgebirgen und auf dem Mars? Wo bleibt der Berggänger von einst? Besteht die Bergsteigerei noch vor jenen Grosstaten, die unter Zuhilfenahme der abgefeimtesten technischen Finessen schliesslich geraten werden, wenn - ja wenn die Berge das wollen? Sie müssen, sagt man, ja, und dann, wenn sie gute Miene machen, wenn der Mensch den Fuss auf das höchste Berghaupt der Erden-kugel gesetzt hat, als Sieger niedersteigt? Davor erblasst der Ruhm jener, die als Pioniere des Alpinismus es mit Viertausendern aufgenommen haben - erblasst er wirklich? Wenn der Alpinismus zum Selbstzweck geworden sein wird, ohne dass der Mensch in seiner Seele zu erleben vermag, was die grossen Bergsteiger, die Klassiker unter ihnen, bewegte, dann gibt es die Bergsteigerei nicht mehr, die den ganzen Menschen ergriff. Dann hat der nackte Intellekt gesiegt - aber die Berge werden ihm immer verloren sein, weil er nicht jene Ehrfurcht an sie herantrug, die dem Menschen geziemt, wenn er sich an ihnen misst.

Morgen wird ein einziger Führer sechs junge Amerikaner ganz allein bis zur Bernina führen. Wenn das Wetter gut bleibt, kann das Vorhaben gelingen. Setzen wir für Wetter einen tieferen und trefflicheren Begriff - und wenn das Wetter sich plötzlich verändert, wenn es umschlägt, wie werden diese sechs jungen Menschenkinder, Mädchen und Jünglinge, vor dem, was wir gemeinhin das Wetter nennen, bestehen können? Ich kann es nicht verstehen - sechs junge Menschen, ein Führer, sechs Menschen, die den Berg in seiner Tücke und Gefahr und seiner Drohung nicht kennen - schenke ihnen der Himmel einen ungetrübten Tag! Bloss nicht die Prahlsucht nach der gesegneten Heimkehr! Jetzt heult der Wind auf, Wolken treiben vom Zuppot her - eine Eislawine donnert mit langem Widerhall durch das Dunkel.

Ich steige morgen früh zu Tal. Ich danke für diesen Tag. Ich danke für sein Glück, seinen Sonnenschein, sein Gelingen. Wolken, dunkel wie Särge, fahren jetzt vom Bernina her gegen den Palü, den Piz Cambrena. Das Kerzenlicht flackert auf dem Tischlern neben dem Fenster. Seltsam, zu wissen, dass morgen andere in unsern Stufen und Stapfen zur Höhe steigen werden; was ich ihnen von Herzen gönne, dass sie mit der rechten Einstellung an den Berg herankommen und dass ihnen ein tiefes, inneres und anhaltendes Erleben zuteil werden möge wie uns. Eine Bereicherung ihres Lebens und ein Anstoss zum Beharren auch dann, wenn Berg und Schicksal abweisend aufragen und nein sagen, wo wir von beiden ein leichtes Gewähren verlangen. Ein letzter Blick - der Himmel ist wieder klar geworden, hell stehen die Sterne über dem Palü; ein Dichter nannte die Berge « Gottes Gedanken ». Wie einfach und gross ist das Bild dieses Berges da drüben!

Sta. Maria im Münstertal, Freitagabend Tag der Gegensätze, vom frühen Morgen bis jetzt!

Ich schlief in den jungen Tag hinein; denn der Bernina stand schon im strahlenden Glanz der Sonne, von einem tiefblauen Himmel überwölbt. Der harsche Wind war verstummt. Es herrschte die Stille eines Sonntagmorgens. Weit droben, kaum eine halbe Wegstunde unter dem Ostgipfel des Palü, gewahrte ich, dicht aufgeschlossen wie es aus der Entfernung schien, an ein halbes Dutzend Partien, die sich in zügigem Aufstieg befanden... Warm und rötlich grüssten die besonnten Flanken des Berges; daneben wieder die blauen Dunkelheiten kalter Schatten. Ich stieg zu Tal. Vom einsamen Hochtal der Berninastrasse in das festtägliche Lachen des Puschlavs, von den ernsten Arven zum lächelnd verspreizten Gefieder der Edelkastanien, von der Kargheit der Alpen zur Üppigkeit des Wachsens und Reifens sommerlicher Felder und Äcker; und hatte ich, versteckt hinter einem wuchtigen Felsbrocken, des Morgens eine verspätete Alpenrose blühen sehen, hier unten rankte die Rebe, lebensfroher und reicher, als ich sie je am Stock gesehen hatte, hier strebte der Mais übermannshoch mit seinen zitternden Fahnen zum satten Veltliner Himmel. Droben selten ein Mensch, in Tirano das laute, lebhafte Gewühl eines Volkes, das überhaupt nur auf den Strassen und Plätzen seiner Stadt zu leben schien. Es war Feiertag. Ein Tag, wie sich 's die zahllosen Marien dieses katholischen Alpenlandes nicht schöner wünschen konnten. Dort die Strenge der Berge, hier viel Lieblichkeit; dort Stille und Andacht eines Einsamen, hier die laute Promenade gut angezogener Menschen, die schon oder noch nicht zu Mittag gegessen hatten. Auf der Diavolezza noch die Frische und Kühle der nahen Eiswelt; da drunten die Bruthitze. Und von all diesen Gegensätzen lebte dieser Tag, wenigstens für mich. Die Fahrt durch das Puschlav im schwach besetzten Zug wie eine Märchenreise in die Ferien, und so hätte sie fortgehen können, über alle Berge und Täler hinweg bis zum fernen Meer. Doch drückend wurde der Mittag zwischen Steinhäusern und etwas verlotterten Palästen; selbst die frischen Trauben stillten den Durst nicht, im Gegenteil! So war ich schliesslich froh, dass ich in einem, wenn auch überfüllten, Car sitzen konnte, der bis zum Stelvio fuhr. Ich hatte einen guten Fensterplatz, vorn, neben der Türe. Aber der Blick in das wald- und rebenreiche Tal bot keine Augenweide: Gras und Laub mit einer dicken Staubschicht bedeckt; wie lange mochte es hier nicht mehr geregnet haben! Die Luft mit quälendem Staub erfüllt, Staubwolken, wenn sich andere Autos auf der Strasse zeigten. Und dennoch:

Die Alpen - 1953 Les Alpes20.

ein herrlich schönes und gesegnetes Tal, und vielleicht doch schade, dass es damals die Bündner für immer verscherzt haben.

Doch froh war ich eigentlich erst, als ich den Chauffeur vor der IV. Cantonniera bat, mich bereits hier aussteigen zu lassen. Ich hielt es nicht mehr länger aus im Wagen. In ein paar Schritten stand ich am Schweizer Schlagbaum. Ein Blick auf meinen Rucksack genügte den Grenzwächtern, mich passieren zu lassen. Ich warf keinen Blick zurück. Da öffnete sich das einsame Land des Umbrails. Erinnerungen stiegen mir auf, weither geholte, an die Knabenzeit, als wir den Vätern und Lehrern Briefe an die Dreisprachengrenze schicken mussten, uns die grenzdiensttuenden Soldaten da oben in Schnee und Kälte Wache haltend vorstellten. Wahrhaft ein herbes und verlassenes Tal, wie ich es mir einsamer nicht vorgestellt hatte. Die Strasse war schlecht, den Abkürzungen nach ging 's nicht viel besser hinab. Auch hier begegnete mir kein Fusswanderer; der junge Italiener, der sein Rad bergaufwärts stiess, klagte, dass er « due chilometri » hinter Sta. Maria beim Antritt ein Pedal seines Rennvehikels abgebrochen habe. Eine Träne in seinem Auge - ja, hatte er sich denn darauf gefreut, den Umbrail im Sattel zu erklimmen? Komische Menschen, dachte ich. Für ihn gab es wohl nur Kilometersteine - denn für seine Umgebung hatte er keine Sinne; er sah mich auch erst, als er dicht vor mir stand. Sausersüss folgte er den zahlreichen Kehren und verschwand.

Und je länger ich unterwegs war, um so mehr begannen nun wirklich meine Füsse zu brennen; die Zunge lag trocken an meinem Gaumen, Staub, Staub, ganze Wolken, wenn ein Auto heraufschoss und um die Kurven flitzte. Die Luft unbewegt, der Staub schwebte in der Höhe und wollte sich nicht senken.

Doch auch dieser letzte Wandertag nahm sein Ende.

Da sitze ich an einer engen Dorfgasse, die eher an eine Stadt denken lässt, denn an ein Bergtal. Haus an Haus, Kraftwagen sumsen und hupen vorüber. Und jetzt ist der Geissbub mit seinen Horntieren heimgekehrt. Aus dem unversehens verwölkten Himmel fällt ein warmer Regen. Die flachen Dächer dampfen. Ich habe das letzte Postauto verpasst, sonst wäre ich noch nach Fuorn gefahren, um dort inmitten des Nationalparkes zu versuchen, etwas, wenn auch nur wenig, von seiner Unberührtheit zu sehen. Den Plan gebe ich auf, in den nächsten Tagen ihn selber zu durchwandern. Meine Augen sind müde. Ich habe viel gesehen im Laufe dieser einen Woche. Es ist ein weiter Weg von Safien auf den Palü und durchs Veltlin und Bormio nach dem Münstertal. Hier sitze ich freilich unter lauter Motorisierten. Das Geschlecht der Alpenstrassenwanderer ist ausgestorben. Mit Bedauern stellte ich das fest. Schuhmachers Rappen sind von den Landstrassen verwiesen. Das Gehen darauf ist eine Qual und Enttäuschung geworden. Viele Werte gingen dem Menschen da verloren; doch abseits, auf weniger stark begangenen Wegen und Pfaden wartet ihm ein neues und reines Glück. Es ist kein Genuss, dem Staub und Gestank der Bergstrassen ausgeliefert zu sein. Mich dauern die engen Dörfer, die unter diesen Segnungen der Zivilisation zu leiden haben. Wie staubig scheinen selbst die schönen Nelken und Geranien auf den Gesimsen der Häuser an dieser Gasse!

Im Zuge auf der Fahrt nach Chur Was bedeuten schon ein paar rasche Blicke in die Wildnis der Bergwälder beim Spöl! Aber ich war doch erschrocken, als ich mir vorstellte, wie diese Landschaft vielleicht in wenigen Jahren aussehen wird, wenn das Werk gebaut wird. Der Mensch, während Jahrzehntausenden der kaum spürbar ins Gewicht fallende Nutzniesser der Natur, hat sich in wenigen Jahrzehnten eine unheimliche Macht und Machtbefugnis angeeignet. Vor keinem Vorhaben schreckt er mehr zurück. Hat er innerlich Schritt gehalten damit? Wir alle sind gefragt, angesichts dieser gefährlich um sich greifenden Ersatzreligion, ob Technik und Motor jenen « Kinderglauben der Altvordern » endgültig begraben werden, um an seine Stelle zu treten.

Im Domleschg begann es zu regnen. Ein Gewitter stand mit schwarzem Gewölk über dem verschatteten Heinzenberg. Die Gipfel der Schamser Berge hüllten sich in Wolken. Ich fahre heim, heim.

« .Hoch vom Säntis an... » Vierzehn Tage später ( 28. August ) Ein Epilog?

Tief im Süden steht der Palü im Morgenlicht, entrückt und fern. Vor zwei Wochen, auf die Stunde genau, stand ich dort drüben und suchte den Berg, der mit meinem Leben wie kein zweiter verknüpft ist, nicht, weil 's der erste Berg war, den ein achtjähriger Bub erstmals bestiegen hatte, aber vielleicht darum, weil damals das begann, von dem ich nicht mehr loskommen werde. Das Bergsteigen.

Es ist der rechte Ort, die Sommerfahrt zu bedenken, das letzte Blatt zu den Notizen zu legen, die mir später, vielleicht, wenn es mich gelüstet, in Erinnerungen zu kramen, Freude und Vergnügen bereiten werden. Aus dem kleinen Buben, der damals auf dem Gipfel dieses vielbesuchten Aussichtsberges stand, ist ein Fünfziger geworden, in einem Jahre ist es so weit. Meine braven Füsse haben mich von Berg zu Berg getragen. Die Wanderfreude ist zu einer schlichten Wanderphilosophie geworden, zu einer Philosophie überhaupt. Ihren Niederschlag hat sie in Büchern gefunden, die der eine mag und der andere nicht. Das muss und wird immer so sein. Ich habe die Berge nicht entdeckt. Aber ich habe für mich das Glück des Bergsteigens finden müssen. Es mag verlockend sein, immer im Fond des Wagens zu sitzen und sich mühelos von Tal zu Tal tragen zu lassen. Es braucht dazu freilich Geld. Reichtümer dieser Art sammelt nicht jeder. Aber auch der Arme darf Schätze heben, die jener unmöglich finden kann. Der Rausch der Eilfahrten von Land zu Land, um am Montag darauf sagen zu können, « das und jenes haben wir auch gemacht, sogar innert kürzester Frist, mit 60, 65, 70 Kilometer Durchschnittsgeschwindigkeit... » Dieser Rausch mag seine Schönheit haben, von der ich nichts verstehe; ich hielt es, wenn es darauf ankam, mit unserer braven Alpenpost, und wenn 's auch kein Viergespann mehr ist, das schellenklingelnd über die Pässe stampft, ich meine, in der klugen Abwechslung, jeder Einseitigkeit abhold, liegt die Kunst. Auch unsre Kunst.

Aber Frieden, Stille, Einsamkeit und Ruhe fanden sich eher dort, wo Benzingestank und Motorenlärm nicht hinzugelangen vermochten. Wer aber bloss seine banale Alltags-natur zum Berge trägt, dem sagen sie nicht das, was sie zu geben vermöchten. Mode und Sport stehen im harten Gegensatz zu dem dringenden Bedürfnis des modernen Menschen, in den stillen Kammern des Gemütes Ordnung und Gleichgewicht zu schaffen und im Aufblick zum Erhabenen und Gewaltigen den Maßstab zu finden, wie er dem Menschen gebührt, der sich nicht überheblich und allgewaltig empfindet. Dieses tiefe Erlebnis ist dem Bergsteiger immer zuteil geworden, auch wenn er es nicht in Worten auszudrücken versuchte. Ja, im Grunde ist es immer eine kleine oder grosse Anmassung, das Erhabene in menschliche Worte und Begriffe zu fassen. Es gibt eine Sprache, die jenseits aller sprachlichen Ausdrucksmittel liegt, das Erleben, und wenn es den Menschen erschüttert, dann weiss er: « Hier ist heiliges Land, ziehe deine Schuhe aus und beuge deine Knie! »

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