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Grigna

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Mit 1 Bild ( 41 ) und 6 SkizzenVon Alfred Amstad

Von kleinen Bergen, grossen Schwierigkeiten und allerlei Nachdenklichem ( von Walter Beutter, Zürich ) ( Zürich-Rehalp ) Grigna! Wer kennt die Bedeutung dieses Wörtleins? Ist es etwa der bescheidene, aber wohlklingende Name einer schwarzgelockten Schönen aus dem Tessin oder aus unserem südlichen NachbarlandNein, es ist ein kleines Berggebiet in den Bergamasker Alpen. Es liegt über dem östlichen Seitenarm des Comer Sees, dem Lago di Lecco. Seine Oberfläche beträgt 160 km2 und entspricht damit ungefähr der Ausdehnung von nur zwei Dritteln des Kantons Zug.

Das Gebiet zerfällt in eine südliche und eine nördliche Gruppe. Hier ist nur von der südlichen die Rede; denn da befinden sich die eigentlichen Kletterberge, denen die Grigna ihren Ruf verdankt, ragen, eng zusammengedrängt, über 50 Zacken und Türme, einer kühner als der andere.

Um einen Begriff der Grigna zu vermitteln, genügt es, wenige, besonders typische Bergfahrten zu charakterisieren:

Fungo 1713 m FungoPilz ) ist der treffende Name für die Form dieses Berges. Die Felssäule des Fungo ist nämlich mit einer Felsmasse gekrönt, die über die vertikalen Turmwände vorspringt und den Gipfel so als Riesenpilz erscheinen lässt. Wer den Fungo oder andere Grignagipfel zum erstenmal erblickt, der Fungo hält sie für unersteiglich oder schätzt die Erklimmung als ausserordentlich schwierig ein. So kann man es eigentlich kaum glauben, dass die Erkletterung dieser imponierenden Spitze nicht bedeutendere Mühe bereitet. Am eindruckvollsten ist die Ausgesetztheit in der Gipfelplatte, welche das Geheimnis zur Überwindung des Pilzdaches birgt. Wegen dieser Stelle wurde der Fungo in alpinen Kreisen weit über die Grenzen Italiens hinaus bekannt. Köstlich ist endlich die Abseilstelle über den Rand des Pilzdaches hinab, hinaus in die freie Luft.

Sigaro Du kühnster Turm der Grigna! Wenn du auch nicht das originelle Dach des Fungo zur Schau trägst, so kannst du dich gleichwohl mit ihm messen; denn dein Aufbau ist ungemein stolz, schwindelerregend. Wie eine mächtige Zigarre ( daher der Name Sigaro ) erhebst du dich vor der faszinierend wilden Kulisse des ersten Torrione Magnaghi ( Magnaghi-Turm ).

Lange Jahre hindurch galtest du für unbezwingbar.

Versuche, deine Spitze mit einer Seiltraverse vom ersten Magnaghi-Turm aus zu erreichen, wehrtest du ab, bis Sigaro mit Anstiegsroute ( T = Traverse ) im Jahre 1915 eine Seilschaft deinen Gipfel in direktem Anstieg erklomm. Eine glänzende Leistung, wenn man bedenkt, dass sie 30 Jahre zurückliegt!

Die Kletterei an dir begeisterte mich restlos vom ersten Meter an. Wie könnte es anders sein, wenn der Fels so tadellos solid ist? Die Muskeln spielen sich im Einstiegskamin für das Schwierigere ein. Nach einer guten Seillänge schwenkt die Route nach links in die lotrechte Turmwand hinaus. Auf winzigen Tritten quert man unter leicht überhängendem Fels. Je weiter die Entfernung vom Kamin, um so grösser wird die Exponiertheit. 0 ja, diese Ausgesetztheit am Sigaro ist einzigartig, fabelhaft. Das Herz lacht mir im Leib, wie ich mich aufmerksam in die Wand hinausbalanciere. Diese Traverse ist klassisch; man möchte sie lieber zehn- als nur einmal klettern und auskosten ( bei T im Bild ). Dann folgt ausserordentlich steile Wandkletterei, bis plötzlich das Gipfelkreuz vor einem steht, zu dem die düstere Wand des ersten Magnaghi-Turmes, der sich dahinter aufbaut, einen ernsten, zur Besinnung mahnenden Hintergrund malt. Dreht man sich um, so liegen die Alpen der Grigna, übersäht von Gasthäusern, Klubhütten, Villen und Ställen, friedvoll zu Füssen.

Sigaro, du bist mein liebstes und schönstes Grigna-Andenken!

Torre Costanza 1723 m Es spricht der Berg:

« Ich bin der Hohepriester unter den Grignagipfeln. Kein anderer übertrifft mich an würdevoller Grösse und Ebenmässigkeit. Majestätisch, als faltenlose Toga, gleiten die Felswände meiner Flanken zur Tiefe. Die Sonne umfliesst mich, weiss schimmernd am Morgen, gleissend am Mittag, und am Abend stehe ich im Schein tausend und aber tausend rotbrennender Kerzen, die mir gehuldigt werden. Audienzen gewähre ich jedem, der sich meiner würdig erweist. Die meisten Pilger schlüpfen ergeben durch die Kamin-folge von Norden ins Audienz-zimmer beim Gipfelkreuz; wenige Auserwählte kämpfen um den Zugang durch die E-, W- oder S-Pforte, und diesen bereite ich stets einen ehrenvollen Empfang, weil sie sich über Kraft, Kühnheit und Disziplin ausweisen.

Wer je in die Grigna kommt, wird mich, den Hohepriester, sehen wollen und um meine Gunst werben, um mich, Torre Costanza! » Torre Costanza von E Punta Giulia 1563 m Sie ist die würdevolle Pförtnerin des mächtigen Torre Costanza. Aus der Nähe gesehen, ist sie der granitenen Fiamma im Bergell vergleichbar. Keck, kraftvoll und geschmeidig zugleich reckt sie sich über dem blauen Lago di Lecco, den Zugang zu ihrem Herrn und Gebieter klar überblickend. Vielen Pilgern stellt sie die Bewilligungen für die Audienzen beim Hohepriester aus, nachdem sie bei ihr Zeugnis ihrer Fähigkeiten abgelegt haben. Nachher schickt sie die stolze Pförtnerin den glühend heissen, steilen Südhang zum Torre Costanza empor, innerlich über die Armen lächelnd, welche hier zahllose Schweisstropfen opfern. Je höher die Pilger steigen, um so mehr sinkt die Pförtnerin in sich zusammen und ragt bescheiden, doch pflichtbewusst im Steinwirrsal der Grigna. Der Pilger hat die Pförtnerin bald vergessen und steht dann ganz im Bann des Torre Costanza.

Punta Giulia von N Ago Teresita Diese Felsnadel übertrifft an Kühnheit die meisten der andern und gilt mit Recht als einer der elegantesten und schlanksten Grignaberge. Mein Freund Nino will diese Spitze durch die heikle, lotrechte Verschneidung angehen, welche direkt in den Bocchetto dell' Ago leitet, und über den Nordgrat den Gipfel ersteigen. Da kann ich ihn wieder einmal bewundern, wie er, gleich einer Katze, anscheinend ohne Anstrengung, schwierige Stellen meistert. Alle seine Bewegungen sind überlegt; der Geist hat die Fülle seiner Kraft und Geschmeidigkeit geschickt gebändigt. Und wer nach einsatzvoller Kletterei sofort ein Lied erschallen lässt, das ist Nino. So lebt er in meiner Erinnerung: als Könner im Fels und als fröhlicher Kamerad. Oft denke ich an meinen lieben Seilgefährten und frage mich, wo er wohl heute weilt, der damalige « Capitano degli alpini », dessen Nachrichten ich seit langem ver- misse. Meine besten Wünsche begleiten ihn immerdar, und die stille Hoffnung glimmt, dass unsere Lebens- N= Nord-Grat B=Bocchette dell'Ago V= Verschneidung wege wieder einmal zusammenführen zu gemeinsamer Fahrt am gleichen Seil in treuer, auch schwere Zeiten Ago Teresita von E überdauernder Bergkameradschaft.

Die Ostwand des Corno del Nibbio 1368 m Über lichtem Gebüsch und blumigen Wiesen hängt diese abschreckende Felsmauer. Lange schien sie unbezwingbar. Erst 1933 brach der bekannte Dolomitenführer Emilio Comici den Nimbus der Unersteigbarkeit und bahnte einen Weg zum Gipfel, dem sich in den folgenden Jahren vier weitere, untereinander unabhängige Anstiege anschlossen. Gewisse Routen sind nur kletterbar unter Anwendung moderner Technik, wobei der Mauerhaken voll und ganz zu seinem Recht kommt.

Die Via Comici, die bekannteste und meistbegangene Route der Wand, ist frei kletterbar. Einige wenige Haken erhöhen die Sicherungsmöglichkeiten.

Wir stehen am Einstieg, Nino und ich. Die lotrechte, kleingriffige Einstiegswand bietet uns Zutritt zu einer Verschneidung. Ein überhängendes Dach schliesst sie ab. Welch luftige Kletterstelle! Die folgenden senkrechten Meter gehören meines Erachtens zum heikelsten der ganzen Wand. Nach bangen Augenblicken folgt endlich ein anständiger Stand. Dann löst eine prächtige Kletterstelle die andere ab: an einer lotrechten Wandstufe lehnt eine Platte. Ihre Kante leitet zum Beginn einer atemraubenden Verschneidung. Unvergesslich ist der kitzlige Quergang nach links zu einer Felskanzel. Wie ein Adlerhorst hängt sie in der Wand. Beim glatten Fels darüber heisst es die Finger richtig in den spärlichen Ritzen einhängen. Die Füsse begnügen sich mit supponierten Tritten! Fast wortlos wickelt sich die Kletterei ab; das Seil verbindet eben zwei Menschen zur Einheit, die vom gleichen Wollen beseelt sind. Schwierigkeiten zu überwinden, ist uns tägliche Selbstverständlichkeit und mit ihnen fertig zu werden, beglückendes Streben.

Nach zweistündiger Kletterei liegt die Wand unter uns. Sie wird gelegentlich und zu Unrecht kurzerhand als eine Route des 6. Schwierigkeitsgrades 1 bezeichnet. Der zuständige italienische Klubführer nennt es einen 5. Grad mit Stellen, die dem 6. angehören, und er gibt als Aufstiegszeit fünf Stunden an. Der kürzeste Wanddurchstieg soll eine halbe Stunde betragen. Welch ein Widerspruch liegt in diesen FeststellungenDie Via Comici ist eine schwierige, ernstzunehmende Kletterei. Einen wirklichen Ostwand des Corno del Nibbio mit Comiciroute 6. Schwierigkeitsgrad würde sie je- doch nur darstellen, wenn es eine ununterbrochene Folge der schwierigsten Stellen und wenn die Wand um ein Vielfaches höher wäre, so dass die ständigen Schwierigkeiten und die Länge der Bergfahrt die Kräfte zermürbten. Immerhin kann die Comiciroute am Corno del Nibbio als Vorgeschmack des 6. Grades gelten.

Der sechste Schwierigkeitsgrad 1 Wie das Rad der Zeit, so dreht sich im Alpinismus das Rad der Entwicklung. Die letzten Kanten und Wände, welche vor kurzem in der Grigna und auch anderswo noch unbezwungen sich aufrichteten, wurden erobert. Es sind zum Teil Klettereien, die nach heutigem Ermessen nur gelingen, wenn sich zu einem Maximum an Kletterfähigkeit bestes Training und grösste Erfahrung gesellen. Solche Bergfahrten liegen an der Grenze des menschlich Möglichen und erhielten den Summa-cum-laude-Titel des Klettersportes, den 6. Schwierigkeitsgrad, zuerkannt. Wieviel Druckerschwärze hat dieser 6. Grad schon verschluckt! Wie oft wurde er verkannt und erniedrigt! Er bedeutet, wie schon erwähnt, etwas Maximales, einen Kampf mit dem Berg auf Biegen und Brechen, auf Leben und Tod. Alles andere ist eben kein wirklicher 6. Schwierigkeitsgrad. Erstklassige Gänger, die unter andern aus 1 1. Grad = leicht, 2. Grad = mittelschwierig, 3. Grad = schwierig, 4. Grad = sehr schwierig, 5. Grad = ausserordentlich schwierig und 6. Grad = äusserst schwierig.

der Grigna-Felsschule hervorgegangen sind, vollführten in den Hochalpen unerhört kühne Taten. Ich erinnere dabei nur an die NE-Wand des Piz Badile, an die NW-Wand der Punta Civetta, an die N-Kante der Walkerspitze der Grandes Jorasses, an die SW-Wand der Marmolata und viele andere. Die enormen Schwierigkeiten — bei gewissen Grignarouten auf eine kurze Strecke zusammengedrängt — wurden da auch am grossen Berg bei langer Grat- und Wandroute bezwungen. Unglaublich erscheinende Leistungen wurden vollbracht, die — vom sportlichen Standpunkt aus — höchste Bewunderung abringen. Allerdings sind einige der besten Gänger vom 6. Schwierigkeitsgrad nicht mehr zurückgekehrt...

Das zwingt zur Besinnung; denn hier erhebt sich die Frage, welche sich jeder Bergsteiger einmal stellen muss, ob der Mensch sein Leben für den Berg, für eine Wand oder einen Grat aufs Spiel setzen darf. Ich antworte mit einem entschiedenen Nein. Bei ausreichender Erfahrung, bei genügendem Training und genügender Vorbereitung, beim Abwarten günstiger Verhältnisse und bei Vermeidung von Routen, die durch objektive Gefahren übermässig bedroht sind, lassen sich nämlich mit grosser Sicherheit auch ausserordentlich schwierige Bergfahrten ausführen. Um diesen Voraussetzungen nachzuleben, braucht es viel, oft sogar sehr viel Vernunft. Nur so dient aber das Bergsteigen seiner eigentlichen Bestimmung und ist ein unversieglicher Quell von Schönheit, von geistiger und körperlicher Kraft, von Verinnerlichung der Liebe zur Heimat im besonderen und zur Bergnatur im allgemeinen.

Der Schweizer Bergsteiger verkörpert — von unvermeidlichen Ausnahmen abgesehen — diese Auffassung und meidet den 6. Schwierigkeitsgrad, jenes Gehen am Abgrund des Todes, und gerade wer auf Grund ver-nunftmässiger Überlegungen auf den 6. Grad verzichtet, bezeugt wahres Alpinistentum und echte Bergsteigergrösse.

Allerdings kann auch der 6. Grad Berechtigung haben. Gerät eine Partie durch unvorhergesehene Verhältnisse am Berg in eine schwierige Lage, so ist es selbstverständlich, dass sie das Menschenmögliche tut und wagt, um dem Verderben zu entrinnen.

Und sogar zur Pflicht kann der 6. Grad werden: zur Pflicht dem Nächsten gegenüber, wenn es gilt, ihm in Bergnot Hilfe zu bringen, und zur Pflicht der Allgemeinheit gegenüber, wenn das Vaterland in Gefahr ist und militärische Notwendigkeit die Leistung des 6. Grades verlangt.

Weder unvernünftiges Draufgängertum, weder Rekordhascherei noch Prahlerei, noch Ehrgeiz rechtfertigen einen 6. Grad. Nur die Erfüllung höchster menschlicher und vaterländischer Pflicht gibt ihm Sinn und prägt seine endgültige Definition.

Die Alpen - 1945 Les Alpes13

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