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Herbsttage im Val de Bagnes

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Robert Helbling ( Sektion Bachtel ).

Von Schon manche Jahre sind verflossen, seit Herr Weilenmann seine vielen Erstlingsfahrten in den Bergen des Val de Bagnes gemacht. Uns Jüngere mutet es oft ganz eigentümlich an, wenn wir, die wir die club-hüttenlose Zeit nicht mehr gekannt, ihn erzählen hören von den Schrecken und Qualen seiner Nachtlager. Freilich damals war eben die Gegend noch terra incognita.

Heute ist 's anders geworden. Mehrere kleine Hotels sorgen in der Thalsohle für Unterkunft, und in der Höhe findet der Wanderer in zwei ausgezeichneten Clubhütten Schutz vor Sturm und Not. Seit den ersten Besteigungen der höchsten Gipfel durch Weilenmann und andere sind noch manche neue Touren gemacht worden. Berichte über sie findet man namentlich im „ Echo des Alpesdenn besonders Genfer und Lausanner Clubisten haben das Gebiet aufs neue in Aufschwung gebracht. In der Zeitschrift des D. u. Oe. A. V. haben die Herren Purtscheller und Dr. Diener eine eingehende Studie veröffentlicht. In den Jahrbüchern des S.A.C. findet man hauptsächlich in den älteren Jahrgängen interessante Arbeiten, so von Weilenmann, Ed. Hoffmann, Baltzer und andern. In neuerer Zeit hat Herr Euringer in Band XXVII eine sehr verdienstvolle und zuverlässige Arbeit über jene Gegend veröffentlicht.

Allein diese Aufsätze befassen sich fast ausnahmslos nur mit den Bergen im Thalhintergrund, und von den zwar niedern, aber auch interessanten Bergen, welche jenen höhern im Norden vorgeschoben sind, ist nur äußerst wenig Kunde zu finden in der alpinen Litteratur. Weil mich nun meine Wanderungen in jene weniger bekannten Gegenden geführt haben, wage ich es, mit einer Schilderung derselben vor die Leser des Jahrbuches zu treten. Ich hatte zwar zunächst die Absicht gehabt, den stolzern Gipfeln Besuche zu machen, allein ein Witterungsumschlag, der leider mit meinem bergeskundigen Freunde eintraf, machte alle hochfliegenden Pläne zu nichte.

Graud Tavé ( 3154 m ).

Seit die Sektion Genf an Stelle der alten fürchterlichen Panossière-hütte ein neues schmuckes Heim für Clubisten erbaut, ist 's um den Glacier de Corbassière herum belebter geworden, hat ja vergangenen Sommer sogar ein ganzes Pensionat „ höherer Töchter " seine Stille für einige Stunden unterbrochen.

Die Lage der Hütte ist eine wunderbar schöne, aber wer immer dorthin pilgert, ohne im Sinne zu haben, eine größere Besteigung zu machen, dem ist dringend anzuraten, sich ja die kleine Mühe nicht verdrießen zu lassen und noch etwas weiter zu gehen bis zum Gipfel des Grand Tavé; die noch zu überwindende Höhe beträgt ja kaum mehr 400ra. Ist schon die Aussicht von der Hütte aus eine wundervolle, so ist dies noch viel mehr der Fall von der Spitze des Grand Tavé.

Den 20. September 1894 hatte ich Fionnay 8 Dhr 20 Min. verlassen mit der Absicht, nur nach der Clubhütte zu steigen, welche ich schon in 3 Stunden 20 Min. erreichte. Es war ein herrlicher Tag und das Vergnügen, in eine mir völlig unbekannte Gletscherwelt hineinzuwandern, ein wahrhaft königliches.

Lange war ich vor der Hütte in der warmen Sonne gelegen, versunken im Anblick der umgebenden glitzernden Pracht. Da entschloß ich mich, noch höher zu steigen, auf den Grand Tavé, um noch mehr der Herrlichkeiten zu schauen. Etwa 30 Schritte nördlich der Clubhütte steige ich empor, über Schutt und kleine Schneeflecken direkt gegen den Gipfel. Irgend welche Schwierigkeiten sind nicht vorhanden, und obschon ich absichtlich langsam steige, bin ich in kaum 1'2 Stunden oben. ( Leicht kann man aber in einer Stunde oben sein. ) Wahrlich, ich hatte es nicht zu bereuen. Die Gipfel scheinen alle noch höher geworden zu sein; wie ein Fürst aber in blendendem Hermelin überragt sie alle der Grand Combin, in harmonischem Baue bis zum blauen Äther emporragend. Nicht minder fesselnd auf dein trunkenes Auge wirken des Herrschers Vasallen: der wilde Tournelon blanc zu seiner Rechten, die Kette der vielzackigen Aiguilles des Maisons Blanches und der Combin de Corbassière zu seiner Linken. Voller Lust schaust du auch hinüber zur stolzen Ruinette, zum mächtigen Mont Blanc de Seilon, zum scharfschneidigen Bec Epicoun und den übrigen wilden Gesellen in deren Nachbarschaft. Und möchte dir die Wilde der Gletscher und Zinnen fast zu groß werden, dann blicke hinab ins grünende Val de Bagnes, und mit doppeltem Genüsse wirst du aufs neue wieder bewundernd zum ewig schönen Grand Combin emporblicken.

Steige selbst hinauf, lieber Leser, und wenn dir ein Wettergott gleich hold wie mir, so wird der Anblick jener Herrlichkeiten auch in deiner Seele haften bleiben und in trüben Wintertagen dein Gemüt erheitern. Langsam stieg ich ab zur Hütte und ruhte dort noch ein wenig, dann aber trieb mich der Hunger hinunter ins Thal; außer einer Krume harten Brotes hatte ich den ganzen Tag über nichts genossen. Es dunkelte schon, wie ich nach 2 Stunden hochbefriedigt in Fionnay anlangte.

Eine glücklichere Tour hätte ich als Anfang nicht wählen können; denn wohl kein so leicht erreichbarer Punkt bietet eine ebenso instruktive Einsicht zugleich in die Gletschergebiete von Corbassière, Otemma und Giétroz.

Rosa Blanche ( 3348 m ).

Die Rosa Blanche, frühzeitig wohl schon von Jägern erstiegen, erhielt den ersten touristischen Besuch durch Herrn Weilenmann im Sommer 1865. Er bestieg sie vom Col de Sevreu aus, also nicht auf dem aller-bequemsten Wege.1 ) Gegenwärtig wird sie mit Recht sehr häufig besucht. Die Aussicht ist aber auch eine wundervolle.Vor allem prächtig erscheint natürlich der Grand Combin, neben ihm türmt sich, ein ganz anderes Bild bietend, die Mont Blanc-Gruppe empor. Die Berneralpen sind in ihrer ganzen Ausdehnung sichtbar, wie Soldaten stehen sie da die alten Recken in Reih'und Glied, von der Dent de Mordes bis zum Galenstock. Ungemein kühn ist auch die nähere Umgebung, vor allem die Aiguilles Rouges und der Mont Blanc de Seiion, der mächtige Mont Pleureur mit der schneeigen La Salle. Auch die stolzen Zermatterriesen sind sichtbar, unter welchen die Dent Blanche mit fast abschreckender Wildheit sich auszeichnet.

Die Rosa Blanche ist auch schon im Winter bestiegen worden, und zwar soll sie selbst den Bezwingern weniger Schrecken eingeflößt haben als der Verwalter des Hôtel Grand Combin in Fionnay, welcher die Clubisten, als sie bescheiden an der Thüre pochten, für Schmuggler hielt und mit dem Revolver in der Hand empfingAm Tage nach der Besteigung des Grand Tavé, also am 21. September, verließ ich um 9 Uhr 10 Min. ( früh aufstehen ist nicht meine Stärke ) Fionnay und stieg zur Alpe de Sevreu empor. Der Weg geht direkt hinter dem Dörfchen in vielen Zickzackwindungen aufwärts, in eine enge Thalschlucht führend, und zwar bedeutend weiter hinauf, als man aus der Karte schließen sollte, nämlich fast bis zur zweiten Thalterrasse, wo bereits die Vegetation aufhört. Dieselbe schmückt ein schön blaues Seechen, welches, wie man deutlich sieht, seine Entstehung den Moränen des Glacier de Sevreu verdankt. Kommt man von oben herab, so kann man es leicht als Wegweiser benutzen, um den kleinen Pfad, der thalwärts führt, zu finden; man muß nämlich rechts davon absteigen und nicht, wie man zuerst versucht sein möchte, links. Die letzte Partie zum Plateau des Col de Cleuson ( 2916 m ) ist etwas steil, aber nicht allzu mühsam. Ich stand 1 Uhr 05 Min. auf dessen Höhe und stieg ohne Verzug über den unschwierigen Westgrat zur Spitze der Rosa Blanche empor, die ich genau um 2 Uhr erreichte. Noch war zwar die Aussicht sehr gut, nur die Mont Blanc-Gruppe erschien in so intensiver blauer Beleuchtung, daß ich leider nicht mehr an einem baldigen Witterungswechsel zweifeln konnte. Kleine Wölklein stiegen plötzlich am Gipfel empor, verschwanden zwar bald wieder, doch räumte ich schon nach 45 Minuten, also um 2 Uhr 45 Min., das Feld. Es war aber doch ein herrlicher Genuß ganz allein in einer so großartigen Umgebung geweilt zu haben.

Beim Abstieg folgte ich zunächst dem Westgrate nicht, sondern stieg direkt zum Schneefeld an der Südwestflanke ab, um dort abzufahren. Rechtzeitig aber merkte ich noch, daß unter einer dünnen pulverigen Schneeschicht blankes Eis verborgen war. Daher strebte ich sachte wieder dem Grate zu und erreichte über denselben um 3 Uhr 20 Min. den Col de Cleuson. In 30 Minuten stand ich schon wieder beim blauen Seelein, wo ich eine herrliche Stunde verträumte. Der Erfolg des Tages, an dem ich bis zuletzt zweifelte, erfüllte mich mit so hoher und beseligender Zufriedenheit, daß ich mit keinem Menschen um den Preis jener kostbaren Stunde hätte tauschen mögen.

Um 4 Uhr 50 Min. brach ich auf und fast wehmütig, einen so schönen Tag schon hinter mir zu haben, zog ich schon um 6 Uhr in Fionnay ein.

Folgenden Tags regnete es und mit dem Regenschirm in der Hand machte ich einen kleinen Bummel nach der Alp Lancey. Am 23. September aber sollte wieder einer dran glauben müssen:

Bec des Roxes ( 3225 m ).

Die Ehre seiner ersten Besteigung beanspruchen die Herren Thury, Maunoir und E. Viollier, Mitglieder der Sektion Genf des S.A.C.1 ) Leider haben diese Herren nichts von ihrer Tour veröffentlicht, ich kann also nicht sagen, welchen Weg sie eingeschlagen haben. Ich verließ Fionnay, da das Wetter nicht gar vielversprechend war, erst um 9 Uhr 35 Min. und stieg zur Alpe de Louvie empor. Der ordentliche Weg führt teilweise durch Wald. Oft hat man recht hübsche Blicke auf die Hütten von Fionnay hinunter.

Die Alp selbst ist eine herrliche Hochebene, umgeben von einem Kranz prächtiger Berge. Blickt man nach Süden, so sieht man den hehren Combin und seine weißen Nachbarn, unter denen besonders der Combin de Corbassière hervorsticht. Die Hütten vom Plan de Louvie erreicht man von Fionnay in lVa Stunden. Ich verweilte dort eine halbe Stunde, leider waren aber alle höheren Gipfel von Nebel umhüllt. Dennoch stieg ich weiter, dem Flüßchen entlang, welches vom Col de Louvie herunterkommt; dann klomm ich über steile Grashalden in nordwestlicher Richtung empor und bog hierauf in das Thälchen zwischen Bec des Roxes und Bec d' Aget ein, wobei ich ein klein wenig an Höhe verlor. Über Trümmer und eine kleine Halde kletterte ich in die Lücke zwischen den beiden oben genannten Gipfeln. Es war bereits 2 Uhr 10 Min. und mein Auserwählter leider in Nebel gehüllt. Üeber die einzuschlagende Richtung war ich zwar nicht im Zweifel, aber da der Grat in natura schon in seinen ersten Anfängen nicht so harmlos aussah, wie in effigie auf der Karte, beschloß ich, zu warten, bis ich einmal einen Überblick gewinnen könnte.

Nach 35 Minuten endlich wurde meine Geduld belohnt und sofort packte ich auf. Es ging gar nicht so übel, nur eine Stelle machte mir etwas zu schaffen, indem es an der Nordseite des Grates galt, über mit dünnem Eis und Neuschnee bedeckte Platten emporzukommen. Weiter oben wird der Grat recht steil, und man muß schon hie und da auch die Hände brauchen.

Dichter Nebel hüllte mich bald wieder ein, und als ich 3 Uhr 35 Min. auf dem Gipfel angelangt war, hatte ich Zeit und Muße genug, den stämmigen Steinmann zu betrachten, dessen Haupt zum Schütze gegen Thätlichkeiten profaner Menschenhände ein Blechtäfelchen ziert mit der bekannten Inschrift:

„ Défense d'y toucher sous peine de 20 à 100 frs. d' amende. "

Ich erschrak ordentlich, wie ich die las, und setzte mich in respektvolle Entfernung vor diesem Noli me tangere, aus lauter Angst, ein eigens hiezu besoldeter Polizist könnte hinter einem Felsblock hervorstürzen und mich am Kragen fassen, wenn ich dran lehnen würde. Einige Steine, die laut polternd von den Wänden des Mont Fort hernieder-stürzten, weckten mich auf aus meiner Geisterfurcht, und da gewahrte ich, daß die Nebel sich ein wenig gelichtet hatten; wenigstens konnte ich nun sehen, daß der Bec des Roxes doppelgipflig ist; denn direkt südlich von meinem Standpunkt erhob sich ein zweiter ebenso hoher Gipfel. Gerne wäre ich zu diesem hinübergestiegen und dann über den Südgrat in die Lücke zwischen ihm und Bec Termin hinabgeklettert. Allein mit Rücksicht auf die späte Zeit und meine Unkenntnis der Beschaffenheit des Grates gab ich diesen Gedanken auf.

Selbst die himmlischen Götter schienen mit meinem Entschluß zufrieden zu sein; denn ein Windstoß fegte auf einmal alle Nebel weg, und mit Vergnügen genoß ich einige Blicke auf den Grand Combin und die Mont Blanc-Gruppe, welche von hier aus noch schöner als von der Rosa Blanche ist. Auch die Berneralpen waren teilweise sichtbar, von Westen her bis zum Aletschhorn.

Ich war mit dieser Wendung der Dinge ganz zufrieden, mußte aber doch ans Abziehen denken; denn die Zeit war tüchtig vorgerückt und dem Wetter nicht allzu sehr zu trauen. Am liebsten wäre ich durch das Couloir hinuntergeklettert, welches zwischen den beiden Gipfeln ausmündet, doch hatte ich während des Aufstiegs in demselben Steine fallen hören. Da aber auf der lieben Welt kein Mensch wußte, wo ich steckte, so hätte auch eine kleine Verletzung durch einen Stein verhängnisvoll werden können. Also denn auf dem gleichen Grat wieder hinunter!

Noch kam es mir zwar in den Sinn, eine Karte in dem Steinmann zurückzulassen, aber wie ich die vermaledeite Inschrift nochmals las, machte ich mich schleunigst infectis rebus aus dem Staube, weg von dem l1km dicken rabautzigen Gesellen. Das ging nun ganz gut, bis ich zur schon erwähnten plattigen Stelle, kam, welche mir längere Zeit zu schaffen gab; es gelingt mir endlich, sie auf der Südseite zu umgehen, und genau eine Stunde nach Verlassen des Gipfels komme ich 4 Uhr 45 Min. wieder auf dem Col an. Die Stelle ist wohl ganz leicht bei aperem Zustand oder recht vielem Schnee, damals aber mochte ich sie allein, wie ich war, beim Abstieg nicht riskieren.

Nun hieß es sich sputen; ich ersparte mir den kleinen Umweg, den ich beim Aufstieg gemacht, und schlug die gerade Richtung nach dem Plan de Louvie ein. Ich eilte rasch, doch hieß es scharf aufpassen auf den riesigen wackligen Blöcken, um nicht zu Falle zu kommen. Mir sind zwar diese vielgeschmähten Trümmerfelder, wenn sie nicht zu einförmig, gar nicht so verhaßt; im Gegenteil, ich finde es sehr reizvoll, von Block zu Block im Sprunge zu gelangen, blitzschnell erwägend, wo die beste Stelle für den Fuß sich bietet.

So erreichte ich schon 6 Uhr 20 Min. den Plan de Louvie, löschte noch meinen brennenden Durst und verzehrte den letzten Bissen. Dann das Pfeifchen angezündet und in sausendem Galopp hinunter nach Fionnay, wo ich bei völliger Dunkelheit ankomme.

Mont Avril ( 3341 m ).

Den 24. September begrüßte ich mit freudigem Frohlocken; denn das Wetter schien wieder gut geworden zu sein. Leider wurde ich durch Briefeschreiben verzögert und konnte erst um 9 Uhr aufbrechen nach dem Mont Avril.

Der Mont Avril ist ein besuchter Aussichtsberg und fast nur zu leicht zu besteigen; denn mit der Leichtigkeit verbindet sich bei ihm eine gewisse Eintönigkeit infolge seiner geologischen Struktur. Dem Jahrbuch des S.A.C., Band XXVI, ist ein Teil seines Panoramas, gezeichnet von Meister Imfeid, beigegeben, und Herr Imfeid empfiehlt auch selbst angelegentlich eine Besteigung des Berges; denn offenbar muß bei klarem Wetter die Aussicht eine ganz treffliche sein.

Ich versprach mir nicht geringen Genuß von der Tour, hatte aber gleich anfangs Pech. Auf Alp Lancey blieb ich dummerweise auf der linken Thalseite, statt auf die rechte hinüberzugehen; dort führt ein guter Weg, nicht aber auf der linken, wie die Karte angiebt.

Oberhalb Grande Chermontane, in einer Höhe von cirka 2450 in, machte ich meinen ersten Halt. Leider war das Wetter nicht so gut wie mein Appetit. Graue Wolken fegten am Mont Gelé herum, hüllten die Ruinette ein und verdunkelten auch die Sonne. Aber umkehren mochte ich nicht, sondern um 1 Uhr 45 Min. brach ich wieder auf und stand auf dem Col de Fenêtre 2 Uhr 35 Min. In dichtem Nebel, den nur selten ein kalter Windstoß lüftete, stieg ich ohne Zögern zur Spitze empor, allerdings etwas mürrisch über das Wetter und das langweilige schiefrige Terrain. Ein ziemlich ausgeprägter Pfad führt vom Col bis zum Gipfel; auch zum Col führt ein Fußweg, der sehr leicht zu finden ist, da an kritischeren Stellen aufgestellte Steinplatten keinen Zweifel lassen über die einzuschlagende Richtung.

Der Col de Fenêtre wird sehr häufig von Schmugglern passiert. Ein zerfallenes Gemäuer auf dessen Höhe ist der lezte Rest einer italienischen Wachthütte, die schon längst aufgegeben. Die Schmuggler treiben ihr Gewerbe ziemlich ungehindert, die Zollwächter sind ohnmächtig ihnen gegenüber; denn die italienische wie schweizerische Bevölkerung steht auf Seite der Schmuggler.

Punkt 4 Uhr betrat ich die Spitze und veni vidinihil. Ich untersuchte schnell die Flasche mit den Karten und „ dampften nach 10 Minuten schon wieder ab. In 25 Minuten war ich auf dem Col und ging ohne Aufenthalt weiter. Auf Grande Chermontane stieß ich zu meiner großen Überraschung auf eine Menge Edelweiß, von denen ich mir sofort ein Büschelchen sammelte. 6 Uhr 15 Min. rückte ich in die Clubhütte von Chanrion ein. Ein gewaltiger Nimrod vor dem Herrn aus la Chaux-de-Fonds hatte sich dort mit drei Bagnards eingenistet und heute gute Beute gemacht. Alle Jahre kehrt jener Herr zur Jagdzeit hier in dieser gemsenreichen Gegend ein und ist bereits im ganzen Thale bekannt, zwar nennt ihn niemand anders als Monsieur Justin, und er selbst sagte mir lachend, er glaube, nicht einmal seine Jagdgefährten wüßten, daß er auch wie andere Sterbliche einen Gesellschaftsnamen habe! Am folgenden Tag wanderte ich bei leichtem Regen mit „ Monsieur Justin " in eifrigem Ge- sprach thalauswärts nach Fionnay, wo ich einen Bekannten traf, leider aber nicht meinen bergeskundigen Freund, sondern einen Herrn A., der von der Bergsteigerei eben noch blutwenig verstand.

Petit und Grand Mont Fort ( oirka 3100 » und 3330 m ).

Erst den 27. September war wieder an eine Tour zu denken, obschon das Wetter auch nicht allzu günstig war. Zum erstenmal rückte ich nicht allein aus, sondern mit Herrn A.; es sollte den beiden Monts Forts gelten ( siehe Jahrbuch S.A.C., Bd. IV, pag. 86 ). Zum erstenmal wurde der Grand Mont Fort bestiegen von Herrn Eduard Hoffmann in Begleitung der beiden Führer S. Felley und J. Bessard, am 11. Juli 1866.

Wann wir aufgebrochen sind, kann ich nicht mehr sagen; denn den Zeddel, auf dem ich die Zeiten notierte, habe ich verloren, sicherlich war 's nicht früh, wahrscheinlich um 9 Uhr. Als wir auf der Alpe de Louvie angelangt waren, hatte sich bereits das Wetter so verschlechtert, daß man von den beiden Monts Forts nichts mehr sah. Wir machten hier einen kurzen Halt. Die beiden Thäler von Sevreu und Louvie sind sehr ähnlich in ihren Erosionsverhältnissen; beide beginnen mit einem ziemlich jähen Abfall, ungefähr in gleicher Höhe verbreitern sich dann die Thäler zu flachen Ebenen, wovon diejenige von Louvie größer ist und ein ausgefülltes Seebecken darstellt. Dann wird die Neigung der Thalsohle abermals größer, und schäumend stürzen die Thalbäche über große Blöcke herunter. Zum zweitenmale verbreiten sich die Thäler zu ebenen Thalterrassen, gehen nochmals in einen Absturz über, um sich zum letzten und dritten Male zu verebnen, worauf beide nach kurzen Abstürzen in den Paßhöhen des Col de Cleuson resp. Col de Louvie enden.

In beiden Thälern führen an der rechten Bergflanke Pfade ziemlich hoch hinauf und man gelangt so ganz bequem in eine anständige Höhe. Den kleinen See, der, von enormen Trümmern umgeben, an der Basis des Petit Mont Fort liegt, haben wir um die Mittagsstunde erreicht und entschlossen uns, nach dem Col de Louvie zu schwenken; denn der Col du Mont Fortschien von dieser Seite aus sehr unangenehm zu begehen; zu dem bot eine Gratwanderung vom Col de Louvie über den Petit Mont Fort zum Grand Mont Fort an und für sich schon mehr Interesse.

Auf dem Col de Louvie standen wir bald, er bietet nicht viel Bemerkenswertes. Die Aussicht ist sehr beschränkt und entbehrt auch der großartigen näheren Umgebung, die uns sonst bei vielen Pässen das Fehlen einer Rundsicht gerne vergessen macht.

Zum Petit Mont Fort hinauf gelangten wir ganz mühelos, meist über leicht zu erkletternde Felsen. Mein Gefährte hält sich ganz wacker, auf dieser seiner ersten größern Tour. Gesehen haben wir auf dem Gipfel des leidigen Nebels wegen nicht viel. Eine kleine Rutschpartie brachte uns dann zum Col du Mont Fort hinunter. Von hier aus ist der Petit Mont Fort der respektable Bursche nicht mehr, der er von Süden gesehen zu sein scheint. Dies mag wohl der Grund sein, warum er auf der Karte nicht einmal eine Höhenquote trägt. Der Höhenunterschied vom Col ans mag cirka 70 m betragen. Einen Steinmann hatten wir oben nicht gefunden, der Berg wird wohl auch selten bestiegen, wahrscheinlich nur gelegentlich von Jägern. Wer aber den Col de Louvie überschreitet, sollte es nicht unterlassen, einen Abstecher auf diesen Gipfel zu machen. Das Stündchen mehr Mühe lohnt sich gewiß. Die Karte belehrt uns zur Genüge, daß man jedenfalls einen hübschen Blick auf das Combinmassiv und auf die Bernevalpen hat, was beides vom Col de Louvie nur in beschränktem Maße der Fall ist.

Herr Eduard Hoffmann bestieg seiner Zeit den Grand Mont Fort durch eines der drei Couloirs auf der Südostflanke des Berges. Seine Partie hatte viel unter dem brüchigen Gestein zu leiden, worüber wir auf unserer Route über den Ostgrat nicht zu klagen hatten, wenigstens nicht so, daß man es besonders hervorheben müßte. Die oberste Partie ist ziemlich steil, läßt sich jedoch bei einiger Vorsicht ganz leicht bewältigen, am leichtesten, wenn man etwas nach links ( links und rechts immer verstanden, als ob man von oben herunterschaute ) geht und zwischen dem südlichen nnd mittleren Gipfel auf den Grat steigt ( der Berg hat nämlich 3 Spitzen ). Um uns herrschte dichtes Nebeigewoge, welches nicht weichen wollte. Ohne auch nur etwas gesehen zu haben, mußten wir uns schließlich „ drücken ". Dies ärgerte mich besonders meines Gefährten wegen; denn eine so aussichtslose Tour zu Anfang der alpinen Thätigkeit wirkt nicht sehr ermutigend.

Die Aussicht wird jedenfalls sehr lohnend sein und ähnlich jener von der Rosa Blanche ' ).

Den Col berührten wir beim Abstieg nicht mehr, sondern stiegen etwas vor demselben direkt auf das Schneefeld am Fuße des Mont Fort ab. Wie wir unten waren, kam ich auf einmal auf die Idee, nun müsse noch ein dritter Berg erstiegen werden, nämlich der Bec d' Aget, der allerdings nur etwa 40 Minuten Marsch erfordert hätte hin und zurück von unserm Standpunkt, und ohne auf das Widerstreben meines Gefährten zu achten, stieg ich rüstig in südwestlicher Richtung demselben zu. Nach- dem ich bereits seinen Fuß erreicht hatte, sah ich auf die Uhr, es begann schon ganz leise zu dämmern, und als auch mein Kamerad nur langsam hinten nach kam, gab ich nun doch den Bec d' Aget auf.

In einer guten halben Stunde war die Nacht da, und wir waren noch in einer Höhe von fast 3000 m. Es handelte sich darum, noch vor Dunkelheit den Plan de Louvie zu erreichen, von wo ein guter Pfad nach Pionnay führt, den ich, wie ich wußte, auch bei größter Dunkelheit nicht verfehlen würde. Gelingt es uns aber nicht, vor dem Dunkelwerden aus dem Geröll herauszukommen, ist die wahrscheinliche Folge langes Umhertasten oder gar eine Nacht im Freien, was um diese Jahreszeit kein Spaß mehr ist. Alles wäre gut gegangen, hätten wir nur nicht mit meiner dummen Idee eine ganze halbe Stunde vergeudet. Nun galt es mit Minuten zu geizen. Ich sagte dies alles meinem Gefährten und bat ihn, sich aufs äußerste anzustrengen, dann werden wir schon noch hinunterkommen ins Thal. Allein der Gute vermochte mir nicht mehr zu folgen, er war eben, des Gehens ungewohnt, doch ermüdet.

Sonderbare Gefühle bewegten mich damals, von Müdigkeit spürte ich gar nichts, am liebsten wäre ich galoppiert; ich fühlte den pikanten Reiz, mit der Nacht um die Wette zu laufen, ich freute mich sogar darüber, aber wenn ich nach meinem Begleiter sah, verging mir die Freude, und ich überschüttete mich mit Vorwürfen. Alle zehn Schritte mußte ich wieder auf ihn warten, und so brach denn die Nacht schon ein, bevor wir noch die zweite Thalterrasse erreicht hatten. Von hier aus wäre zum Plan de Louvie etwa eine halbe Stunde gewesen, also so viel Zeit, wie durch meine Schuld verloren gegangen war.

Der kleine Pfad, der zwischen den großen Blöcken hindurchführt, war natürlich in der Dunkelheit jeden Augenblick verloren. Mir war himmelangst für meinen Gefährten, wie leicht hätte er sich verletzen können an den spitzen wackeligen Steinen; denn gestrauchelt ist er mehr, als aufrecht gestanden; er konnte auch die Steine infolge seine Kurzsichtigkeit gar nicht mehr recht sehen. Unter andern Umständen hätte mich so was furchtbar gaudiert, damals aber war mir unheimlich zu Mute; denn ich war mir wohlbewußt, daß bei irgend einem Unfall alle Verantwortung nur mich treffen würde, woran ich aber vorher schon hätte denken können. Von Zeit zu Zeit waren wir genötigt, Zündhölzchen anzuzünden, damit wir sähen, wo jeder stecke; hiebei sollte das Komische nicht zu kurz kommen. Mein Gefährte hatte nämlich nur bengalische Zündhölzchen bei sich, und so erschien er mir bald in rotem, in grünem oder in blauem Lichte, je nachdem. Wenn uns so Herr Oberländer gesehen hätte, den einen antreibend und gestikulierend, den andern tastend in rosigem Lichte leuchtend!

Nun, schließlich ist 's noch gut gegangen, und erleichtert atmete ich auf, wie wir bei den Hütten von Plan de Louvie standen. Nun durfte es noch einmal so dunkel werden, wir waren nun geborgen. Mit unge-wandten Begleitern aber nochmals so was zu riskieren, schwor ich bei allen Heiligen, werde nicht mehr geschehen.

Neun Uhr war schon vorbei, da langten wir in Fionnay wieder an, und zu meinem großen Vergnügen war mittlerweile mein Freund E. Labhardt ( Sektion Uto ) angerückt, was uns Anlaß gab, bei hellem Gläserklingen und Pläneschmieden den wechselvollen Tag erst spät zu beschließen.

Pointes de Torbesse und Parrain ( 3050 m und 3262 m ).

Von der Rosa Blanche senkt sich nach Süden ein ziemlich zackiger Grat bis zum Col de Sevreu hinunter, dort erhebt sich seine Kammlinie wieder bis 3262 m zu der Spitze des Parrain, macht dort eine Biegung nach Südosten, fällt hierauf wieder und erreicht in .den Pointes de Torbesse nur noch eine Höhe von 3050 m; worauf der Grat sich noch mehr senkt, bis er sich im Schuttkegel von Fionnay verliert.

Von einer Besteigung der beiden Gipfel verlautete bis jetzt in der alpinen Litteratur, wenigstens in der schweizerischen, nichts, nur im Echo des Alpesfand ich die kurze Notiz, daß die Herren S. Miney und E. Viol lier den Parrain am 2. August 1890 bestiegen haben und zwar wahrscheinlich zum erstenmal. Auf den Pointes de Torbesse fanden wir auf dem höchsten Gipfel eine Karte mit den Namen der Herren M. Benecke, M. Henry und A. Cohen, 12. Juli 1894.

Den 28. September verließen wir zu dreien Fionnay und stiegen auf bekanntem Weg zur Alpe de Sevreu empor; hier verließ uns Herr A., dem die gestrigen Thaten noch etwas in den Beinen steckten. Er begnügte sich mit einer genauem Erforschung der Mechanik des künstlichen Wasserfalles, welcher sich über eine hohe Felswand hinter den rauchgeschwärzten Hütten zu Thale stürzt. Freund Labhardt und ich stiegen links einem kleinen Wasserlaufe entlang, einem Fußwege folgend, zu Punkt 2410 empor, wo wir rasteten von 10 Uhr 15 Min. bis 11 Uhr 35 Min.; es hatte sich nämlich tief über alle Bergeshänge Nebel heruntergelassen. Eigentlich ohne uns recht orientiert zu haben, erklommen wir dann ein steiles Trümmerfeld, welches vor uns lag, traversierend in nordöstlicher Richtung, so kamen wir nach und nach in die Nähe des Grates, welchen wir in genau östlicher Richtung in einer kleinen Runse erklommen: glücklicherweise verzogen die Nebel, wenigstens in der nähern Umgebung. Den Grat erreichten wir in einer engen Lücke; südlich von uns, in unmittelbarer Nähe, erhob sich eine der Pointes de Torbesse, eine wirkliche Spitze von recht abenteuerlicher Form; wir ließen sie jedoch rechts liegen und kletterten in nordöstlicher Richtung zum höchsten Punkte hin, indem wir bald den GratSiehe E.d.A.., Heft 3, Jahrgang 1891, pag. 212.

Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 30. Jahrg.

selbst benutzten, bald seine linke Flanke.Von der Alpe le Crêt möchte der Grat wohl schwieriger zu erreichen sein. Die Kletterei über denselben ist ganz angenehm, erheischt aber doch etwelche Vorsicht und Gewandtheit; will man den höchsten Gipfel ganz bequem erreichen, so muß man, sobald man die kleine Ebene hinter Punkt 2410 erreicht, immer in nordöstlicher Richtung über Trümmer und Grasflecken emporsteigen, ohne den Grat zu erklimmen, bis man das Schneefeld zu Füßen der höchsten Pointes de Torbesse erreicht hat, von wo aus man ohne Mühe diese selbst ersteigt.

Es war 12 Uhr 50 Min., als wir auf dem höchsten Gipfel angekommen waren. Die Aussicht auf die grandiosen Steilabstürze des Mont Pleureur und der Salle war sehr gut, sonst aber verdeckten die Nebel wohl manchen hübschen Blick.

Unser Gipfel ist ein eigentümlicher Blockhaufe, da ein runder Trümmerwall eine tiefer liegende Centrumsfläche einschließt. Nach einem stündigen Aufenthalt steckten wir noch unsere Karte zu derjenigen unserer Vorgänger, worauf wir zum südlichen Arm des dreiteiligen Glacier de Sevreu abstiegen. Über denselben ansteigend erreichten wir den Fuß des Parrain über Felsen und Blöcke in kurzer Zeit, daDn seine Spitze selbst um 2 Uhr 45 Min. Die Aussicht ist jener der Pointes de Torbesse ähnlich, nur erscheint der Mont Pleureur noch massiger und wilder. Nach Norden ist die Aussicht auch etwas freier.

Wir fanden auch hier die Karten unserer Vorgänger vom 2. August 1890. Seither scheint niemand mehr oben gewesen zu sein, oder hat dann wenigstens nicht das Bedürfnis gehabt, eine Karte zurückzulassen. Nachdem wir dies gethan, beschlossen wir, nach dem blauen Seelein abzusteigen, von welchem bereits gelegentlich der Besteigung der Rosa Blanche die Rede war.

3 Uhr 10 Min. begannen wir den Abstieg und bogen dann um einen westlichen Ausläufer des Parrain herum, dem nördlichen Arm des Glacier de Sevreu zustrebend. Da wo jener Kamm aber in jähem Absturz endigt, war das Schneefeld, welches auch ziemlich geneigt war, glashart vereist. Zurückgehen und dann über endlose Schutthalden absteigen mochten wir nicht, wir hieben also tüchtig Stufen in das harte Eis und gelangten dann zur mächtigen linksseitigen Moräne des nördlichen Armes des Glacier de Sevreu; über dieselbe gingen wir rasch hinunter und standen genau um 5 Uhr bei dem blauen Seelein. Allein ein kalter Wind verleidete uns das Ruhen bald, und schon nach einer halben Stunde marschierten wir thalwärts weiter. Noch hatten wir die Freude, ein Rudel flinker Gemsen in eilender Hast an der linken Thalseite emporfliehen zu sehen, und waren dann um 7 Uhr wieder in Fionnay. Parrain und Pointes de Torbesse können natürlich niemals mit der nahen Rosa Blanche konkurrieren; dem Touristen aber, welcher jene Gegend genauer kennen lernen will, sind sie sehr zu empfehlen; beides sind hübsche Touren.

Bec Termin ( 3052 m ).

Die beiden folgenden Tage schneite es in Fionnay wie im Winter; hinter dem Ofen sitzend, rauchend wie Rauchschlote, versuchten wir beim edlen Spiel des Jasses Zeit und üble Laune zu vertreiben. Als aber am dritten Tag, den 1. Oktober, noch trübe Wolken tief hinunterhingen an den Hängen und die ganze Landschaft verschneit war, da beschlossen wir, des Wartens und Nichtsthuns milde, heute müsse wieder etwas geschehen, und sollte die Frucht einer Exkursion auch nur die Erkenntnis sein, daß es für einmal mit den Touren vorbei sei.

Zehn Minuten vor 11 Uhr verließen wir Fionnay, um vorderhand bis zur Alpe de Louvie emporzusteigen. Der Weg war verschneit, und zwar stellenweise ordentlich tief, kurz vor dem Plan de Louvie über einen halben Meter. So langten wir denn bei den Sennhütten an, unschlüssig, ob wir nicht besser thaten, alles weitere aufzugeben. Ein momentanes Lichten der Nebel ließ uns zu unserem Erstaunen entdecken, daß in den höhern Regionen viel weniger Schnee gefallen war als in der Tiefe, ja, daß derselbe sogar an einigen Stellen verschwunden war; dort mußte offenbar die Sonne hingeschienen haben. Das genügte, um uns zum Weitergehen anzuspornen. Aufhellen wollte es allerdings nicht mehr; da ich aber jene Gegend nun schon näher kannte und wir Karte und Kompaß bei uns hatten, gingen wir im dichtesten Nebel weiter, indem wir einfach eine Richtung einschlugen, bei deren Verfolgung wir schließlich auf den Grat gelangen mußten. Die Steigung war ziemlich beträchtlich und blieb sich fast immer gleichmäßig. Bald über Schutthalden, bald über Rasenhänge steigend, gelangten wir schließlich zu einem ziemlich breiten Couloir, dessen Ende wir zwar der Nebel wegen nicht sehen konnten. Wir benutzen dasselbe dennoch. Unsere Stimmung war nicht gerade mutvoll oder thatenfreudig: Hoffnung, noch irgend etwas zu sehen, hatten wir längst keine mehr, stiegen eigentlich nur weiter, weil uns noch nichts Ernstliches in den Weg getreten war.

Da beginnen auf einmal die Nebel über uns lichter zu werden, es scheint uns fast, als sei das Blau des Himmels nur noch wenig verschleiert. Noch einige Schritte steigen wir in aufregender Erwartung empor und — wir befinden uns in der hellsten, glänzendsten Landschaft, nur von Sonnenschein umflossen. Niemals hatten wir auf einen solchen Genuß gehofft, denn wir hatten ihn uns nicht einmal vorstellen können. Das muß man selbst erlebt haben, das Entzücken, so unerwartet aus dem hoffnungslosen Grau der Nebel in eine feurige, von der Sonne bestrahlte Landschaft enthoben zu werden. Ein armer Sünder, der durch einen Rechnungsfehler bei der himmlischen Bilanz zu den frohlockenden Engel-chen kommt, statt in den finstern Tartarus zu den schmutzigen bösen Teufelchen, kann nicht mit größerer Freude, mit aufrichtigerem Froh- locken seine veränderte Situation betrachten, als wir das liebliche Blau des Himmels und das glitzernde und strahlende Weiß der Bergeshäupter, die stolz das unheimliche Gewoge und Kochen der Nebel unter ihnen überragten.

Eiligen Schrittes erklommen wir noch die kleine Strecke bis zum Grate, und ohne Aufenthalt, meist über den Kamm kletternd, nur selten links oder rechts einem ungefügen Blocke ausweichend, strebten wir dem Gipfel des Bec Termin zu. Wir erreichen ihn um 4 Uhr, und aufs neue erfreuen wir uns der herrlichen Aussicht. Die Nebel reichten cirka bis 2900 m, darüber war alles hell und klar. Das Gebirge hatte schon ein ganz winterliches Gepräge, wobei es aber nur gewann. Die Feinheit der Formen bei den Felsgebilden trat nur um so schöner hervor. Einem Zaubergebilde gleich, überragte der Combin die schäumenden Wolken, nicht so wild und so trotzig, aber ebenso eindrucksvoll, ebenso groß und feiner und ebenmäßiger als der Mont Pleureur. Unvergessen bleibt uns auch die Montblanc-Gruppe und die grauen Häupter der Waadtländer Alpen, die wie Klippen im Meere unerschütterlich feststanden gegen das sie umgebende Gewoge.

Genau um 5 Uhr entschließen wir uns zum Rückzug, den wir mit aller Vorsicht begannen; denn die Felsen waren doch verschneit, oft gar vereist und sehr kalt zum Anfühlen.

Da bescherte uns das gütige Los zum zweitenmal einen hohen, unerwarteten Genuß. Auf einmal leuchtete das riesenhafte Doppelgestirn Mont Pleureur und La Salle im herrlichsten Alpenglühen. Schon über dem Mont Fort lagerte sich ein zartes, kaum merkliches Rot, immer mehr nahm es zu nach Osten, ein unaussprechlich duftiger Schleier rosigen Lichtes ruhte auf der Rosa Blanche, und die schneeigen Kämme und Felsnischen des Mont Pleureur erglänzten im kräftigsten glänzenden Rot. Mählich, mählich begann das Leuchten zu erlöschen, erst am Mont Fort, dann an der Rosa Blanche und schließlich erstarb es auch am Mont Pleureur. Ein solches Alpenglühen ist wohl das Schönste, das die Berge uns bieten; woher mag es wohl kommen, daß es noch kaum einem Menschen gelungen, seine wunderbare Schönheit künstlerisch darzustellen, in Worten oder in Farben? Wird dies überhaupt jemals gelingen? Fast möchte ich sagen, nein; denn die erglühenden Alpen werfen auch Strahlen ihres ergreifenden Glanzes ins Herze und so bis in die innersten Falten zart leuchtend, daß, je nach des Menschen Gemüt, Gedanken erwachen, die nur von ihrem Schöpfer selbst verstanden sein wollen und können.

Tot und kalt, verletzend kalt und schreckhaft schauten die Bergeshäupter zu uns eilenden Menschenkindern hernieder, da nahmen uns die Nebel wieder auf; fast dankbar waren wir ihnen dafür, so wie man den Schlaf gerne begrüßt, wenn holde Traumgebilde durch Erwachen geflohen sind, die mit der rauhen Wirklichkeit nicht stimmen.

Auch die Nacht begann ihre Fittiche über Berg und Thal zu breiten. Es war schon finster, als wir über den Plan de Louvie eilten; als wir aber um 8 Uhr in Fionnay einrückten, glänzten und funkelten zahllose Sterne am nächtlichen Himmel. Die Nebel waren gewichen.

Im „ Echo des Alpes ", Jahrgang 1891, Heft 1,1 ) las ich eine Beschreibung einer Besteigung des Bec Termin von Herrn J. Chaponnière, Mitglied der Sektion Genf. Teilnehmer waren bei jener Tour der schon genannte Herr, und die Herren Amey und Archinard. Herr Chaponnière schreibt dann Seite 46:

„ L' absence d' un steinmann nous laisse dans la certitude, que nous sommes les premiers qui foulons de nos pieds cette cime; aussi de nous hâter d' en élever un et d' y placer une carte recouverte de nos noms, prénoms et qualités. "

Wir haben nun trotz ganz genauem Nachsuchen auf dem höchsten Gipfel keine Spur von einem Steinmann oder einer Karte gefunden.

Vom Bec des Roxes fällt die Kammlinie gegen Süden ziemlich tief, wohl bis zu 2800 m, erhebt sich dann rasch wieder zu einer Höhe von etwas über 3000 m, worauf sie dann kontinuierlich sich senkt bis zu Punkt 2250, wo der Grat im Thalgehänge sich auflöst.

Die Karte läßt allerdings jene tiefe Lücke nicht ahnen; wenn ich nun weiter unten einfach vom „ Grat " spreche, so meine ich damit den Grat von jener Lücke an bis zu Punkt 2250. Der höchste Punkt des Grates ist unmittelbar südlich jener Lücke, zu welcher er in steilem Absturz abfällt; diese Spitze ist nicht höher als etwa 3050 m, was die Vergleichung mit verschiedenen gleich hohen benachbarten Gipfeln, z.B. Rochers de la Rionde, Pointes de Torbesse etc., ergab; da aber alle anderen Punkte des Grates bedeutend niedriger sind, so muß jener Gipfel der Bec Termin sein.

Auf einem von der Lücke aus noch südlicheren Gipfel fanden wir dagegen einen Steinmann, doch ist jener Gipfel mindestens 100 m niedriger als der höchste Punkt des Grates, kann also nicht der Bec Termin sein. Ich erkläre mir die Sache nun so: Jener niedrigere Gipfel, den wir mit einem kleinen Steinmann gekrönt fanden, erscheint nämlich, wenn man von Süden her auf ihn steigt ( was bei der Partie des Herrn Chaponnière geschah ), lange als der höchste Gipfel des Grates; so geschah auch uns; erst als wir ihn betraten, sahen wir, daß er nicht der höchste Punkt ist, und stiegen höher. Die Partie Chaponnière war nun fast immer im Nebel und hatte nur einige wenige Ausblicke; da kann sie eben leicht den Grat, welcher zum höchsten Gipfel führt, als zum Bec des Roxes gehörend angesehen haben und nicht mehr weiter gegangen sein. Die Karte des Herrn Chaponnière konnten wir nicht finden, auch nicht im Steinmännchen, doch hat das seinen Grund vielleicht nur darin, daß wir nicht genau suchten; das Steinmännchen war nämlich verschneit, und allen Schnee wegzuräumen, hatten wir keine Zeit mehr; überdies war 's äußerst kalt.

Auf dem höchsten Punkt des Grates, welcher unfehlbar der Bec Termin ist, welchen die Siegfried-Karte meint, haben wir einen Steinmann gebaut und ihm die Karten beigefügt.

Col du Mont Rouge ( 3341 m ), Col de Seiion und Pas de Chèvres ( 2851 m ).

Vergebens bummelten wir am folgenden Tag nach der Panossierehütte. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober schneite es wieder ganz bedeutend. Ohne eine Besteigung gemacht zu haben, kehrten wir wieder nach Fionnay zurück, wo das Jassen aufs neue begann; denn das Wetter war immer trübe. Am 5. Oktober zeigte sich ein kleines Stückchen blauen Himmels. Sofort wird abmarschiert nach Chanrion; es schneite zwar schon wieder, als wir von der Alp Lancey nach Chanrion hinaufstiegen. Es schneite noch am 6. Oktober. Aber am frühen Morgen des 7. Oktober war klares Wetter. Die Paßwanderung über den Col du Mont Rouge und Col de Seiion ist zu bekannt, als daß sie noch besonderer Erwähnung bedürfte. Sie ist sehr lohnend und gefahrlos, zumal unter kundiger Führung, wie wir sie hatten in Führer Maurice Fellay aus Lourtier. Auf den drei Gletschern, welche wir traversierten, lag ziemlich tiefer Schnee ( 40—50 cm ). Doch ging alles gut von Stapel und ein kleines Episödchen am ganz vereisten Pas de Chèvres erregte große Heiterkeit.

Das Val de Bagnes wird wohl am besten in den Monaten Juni, Juli und August besucht. Im September hat das Thal, wenigstens ober halb Fionnay, etwas Ödes, ja Melancholisches, wenn nicht gerade ein gütiger Sonnenstrahl die leblose Natur etwas belebt und erwärmt. Die Matten sind nicht mehr grün, die Glut des Sommers und der Frost der Herbstnächte haben sie fahlbraun gefärbt. Wer aber im Sommer, des Thales Hitze entflohen, durch die Schlucht von Mauvoisin wandert, auf den grünenden blumigen Alpen von Chermontane oder von Louvie sich ergeht, wer an den weißschäumenden tollen Wassern oder an den spiegelnden klaren Seen von Chanrion ruht, wird wohl nur mit einem „ Auf Wiedersehen " von dieser blühenden schaffenden Pracht scheiden, so wie wir es thaten auf dem schneeigen Col du Mont Rouge, obschon wir sie nicht selbst gesehen, sondern nur ahnen konnten.

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