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Im Wilden Kaiser

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VON WILLY VAN LAER, BURGDORF

Mit 2 Bildern ( 133/134 ) Wer seine Freude am Felsklettern hat, dessen Herz schlägt höher, wenn er den Namen Wilder Kaiser hört. Denn er weiss, dass dieser Gebirgsstock der nördlichen Kalkalpen, etwa in der Mitte zwischen Innsbruck und Salzburg gelegen, von jeher ein Ort der grossen Kletterschulen der Ost-alpenbergsteiger war, der Münchener vorab, aber auch der Wiener und Innsbrucker. Alle die bekannten Alpinisten, von Winkler, Dülfer und Pfann über Nieberl, Aschenbrenner und Weizenbach bis zu Maduschka, um nur einige Namen zu nennen, haben sich im Kaiser ihre Sporen abverdient.

So war es auch einigen meiner Bergkameraden wie mir ein langgehegter Wunsch, dieses Kletterdorado einmal kennenzulernen. Bergführer Fritz Stadler, aus Innsbruck, den wir von frühern Tourenwochen kannten, ermutigte uns in diesem Vorhaben. Als zweiter Führer begleitete uns Freund Fritz Gerber, aus Zweisimmen.

Den Arlberg hatten wir noch bei leidlichem Wetter überquert. Doch hinter Innsbruck, als wir auf der Inntalstrasse ostwärts fuhren, gerieten wir in eine regelrechte Waschküche. Bleifarbene Wolken fegten aus Südwesten, vom Brenner her, über die Bergkämme. Schon peitschten Regenböen hernieder und nahmen uns jegliche Sicht. Über Rattenburg-Wörgl ging die stürmische Fahrt bis St. Johann i.T ., wo Führer Stadler, aus dem Grossglockner kommend, zu uns stiess. Nun waren wir vollzählig. Ohne Aufenthalt fuhren wir weiter, über Griesenau hinein ins Kaiserbachtal, auf einem immer schmäler und steiniger werdenden Strässchen zur Fischbachalm und weiter zur Griessneralm auf 1006 m Höhe, wo wir den VW unter Dach stellten. Schon waren wir mitten drin im « Kaiser » und hatten Musse, die jäh aufschiessenden Felsflanken zu bestaunen. Der Regen hatte aufgehört. Wir schulterten unsere Säcke und steuerten auf gutem Pfade unserem heutigen Ziel entgegen. Nach 5/4 Stunden strammen Steigens erreichten wir das Stripsenjoch-Haus der Sektion Kufstein des DÖAV, auf 1580 m Höhe gelegen. Der Hüttenwart Seissl hiess uns freundlich willkommen, wies uns die vorsorglich reservierten Stübchen mit je zwei Schlafgelegenheiten an, und bald darauf, nach einem kräftigen Imbiss, legten wir uns zur Ruhe.

Was uns bei der nächtlichen Ankunft verborgen geblieben war, offenbarte sich uns am Morgen: die ganze Grossartigkeit des Kaisergebirges, in dessen Herz wir uns hier versetzt fanden. Auf eine Länge von 20 km erstrecken sich in westöstlicher Richtung zwei parallellaufende Bergketten, eine niedrige nördliche, der Zahme Kaiser, und eine weit mächtigere südliche, der Wilde Kaiser. Ungefähr in ihrer Mitte scheidet ein Querriegel, dessen tiefste Stelle das Stripsenjoch bildet, zwei Täler zwischen den beiden Hauptkämmen, das Kaisertal im Westen, das Kaiserbachtal im Osten. Der Wilde Kaiser, also der südliche Zug, stürzt in unheimlich schroffen, vielfach senkrechten Bastionen und Wandfluchten nach Norden ab; die Südabdachung steigt ruhiger und sanfter aus den grünen Almen und dunklen Wäldern des Söllandes auf.

Vom Stripsenjoch bietet sich dem Auge eine urweltliche Landschaft von unvorstellbarer Wildheit. Sechshundert bis tausend Meter hoch türmen sich die Felsmauern, teils glattgescheuert wie ungeheuerliche Betonblöcke, teils gerillt durch unzählige Rinnen und Kamine. Düstere Kare, in welche kaum ein Sonnenstrahl dringt, trennen die einzelnen Felskolosse aus bläulichgrauem Wettersteinkalk, die vom Hauptkamm nach Norden vorspringen. Die imposantesten sind, von hier aus gesehen, der Predigtstuhl, die Fleischbank und das Totenkirchl.

Die Erschliessungsgeschichte des Wilden Kaisers beginnt wie anderswo in den Alpen mit vereinzelten, nirgends vermerkten Besteigungen der leichter zugänglichen Gipfel. Jäger, Strahler, Sennen mögen solche schon im Mittelalter betreten haben. Es folgten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Naturforscher und Landesvermesser; dann tauchten die ersten Touristen auf, welche das Klettern als Sport und als Selbstzweck betrieben.

Doch erst gegen die Jahrhundertwende wandte sich ein Strom junger, unternehmungslustiger Kletterer dem Kaiser zu, vorab vom Akademischen Alpenverein München und von der Sektion Bayerland des DÖAV. Viele von ihnen bleiben in den Namen schwieriger Führen verewigt ( Botzong, Winkler, Krafft, Leuchs, Dülfer ). Sie gingen fast ausschliesslich führerlos und überboten sich in der Kühnheit neuer Kletterwege auf die schon grösstenteils bestiegenen Gipfel. Hier wurde die Klettertechnik ausgetüftelt und vervollkommnet, wurden wohl die ersten Mauerhaken geschlagen, welche die Begehung immer schwierigerer Routen ermöglichten; hier erfand Dülfer seine Seilquergänge, die den Gesetzen der Schwere zu spotten scheinen.

Zwischen 1900 und 1950 wurden im Wilden Kaiser über 200 neue Aufstiege bewältigt, auf die rund 40 Gipfel, welche der Gebirgsstock aufweist.

Die gastlichen Unterkunftsstätten des Kaisers, Stripsenjochhaus, Gaudeamus- und Gruttenhütte, boten nach den beiden Weltkriegen manchem existenzlosen « Bergvagabunden », der sich mit einem Kletterseil da hinauf verkroch, willkommene und wohlfeile Unterkunft, die Gipfel ein vorläufiges Ziel, um an der Welt nicht zu verzweifeln. Manch einer von ihnen hat da oben in den Wänden und Kaminen seinen tollkühnen Wagemut mit dem Leben bezahlt.

Den letzten 15 Jahren blieb die Lösung « letzter Probleme » vorbehalten. Senkrechte Wände, überhängende Wülste, die bis anhin als unmöglich galten, sind mit Haken und Karabiner, mit Doppelseil und Steigbügel « erschlossert » worden. So fielen nacheinander, um nur wenige dieser Wände sechsten Grades zu nennen: Fleischbank-Südostverschneidung, Bauernpredigtstuhl-Di-rekte Westwand, Leuchsturm-Südwand, Predigtstuhl-Nordgipfel-Direkte Westwand usw.

Wie manchen dieser Kletterakrobaten und Gipfelstürmer mag es auch nach der Eigernordwand gelüstet haben? Allzu viele kamen, ohne ausreichende Erfahrung beim Gehen im Eis, allzu sicher ihres Könnens, blieben elendiglich stecken, setzten das Leben hilfsbereiter Retter aufs Spiel... und entrannen ihr doch nicht, ihrer Schicksalswand!

Das Schrifttum über das Kaisergebirge umfasst bis heute etwa 130 Veröffentlichungen. Am bemerkenswertesten ist wohl das grossangelegte, prächtig ausgestattete Werk von Fritz Schmitt « Das Buch vom Wilden Kaiser. » Es ist im Kaiser gar nicht üblich wie bei uns in den Westalpen, die Hütten um 2 oder 3 Uhr nachts bei Laternenschein zu verlassen. Die Kürze des Anmarsches und der Touren überhaupt erlaubt einen wesentlich späteren Aufbruch.

So verlassen auch wir das Stripsenjochhaus an diesem dritten Julisonntag erst um halb 8 Uhr. In der Nacht hat es noch geregnet, doch nun klärt sich der Himmel langsam aber stetig. Etwa eine Viertelstunde steigen wir gegen das Kaiserbachtal ab, um dann südwärts abzuzweigen und Wegspuren über schrofige Hänge zu verfolgen, die uns an den Fuss der Fleischbank-Westflanke führen. Hier binden wir uns ans Seil und beginnen mit der Kletterarbeit. Über eine glattplattige Wandstufe, dann über abschüssige, von Felsrippen durchzogene Latschenfelder gewinnen wir den Nordgrat, der uns in leichter, zuweilen massig schwieriger Kletterei steil zur Höhe bringt. Hier ereignet sich der einzige, doch harmlose Zwischenfall unserer Kletterwoche: ein Stein trifft den Kopf eines Gefährten. Zum Glück handelt es sich um einen Bernerschädel, so dass nur ein blutender Riss zu verbinden ist; das Opfer trägt sein Missgeschick mit Humor. Um 10 Uhr 20 stehen wir auf dem Gipfel der Fleischbank ( 2187 m ) und drücken uns freudig die Hände.

Es ist ein eigenartiges Gefühl, erstmals auf einer dieser Zinnen zu stehen und in die düstern Wände, die schauerlichen Schluchten hinabzuschauen. Uns gegenüber an der Predigtstuhl-West-wand gewahren wir zwei Kletterer, die wie Fliegen an der glatten Mauer kleben und sich in mühseliger Schlosserei bemühen, einen überhängenden Wulst zu überwinden. Mindestens eine Stunde bleiben sie fast am selben Fleck. Es sei hier eingefügt, dass der Kaiser Kletterrouten in jedem 3 Die Alpen - 1958 - Les Alpes.33 Schwierigkeitsgrad aufweist und dass wir uns mit den leichteren Wegen ersten, zweiten und höchstens dritten Grades begnügten. Von halb 11 bis halb 12 Uhr geniessen wir unsere Gipfeleinsamkeit. Dann verfolgen wir den Grat südwärts; dort locken ganz nahe noch zwei stolze Türme, der Christaturm ( 2170 m ) und die Hintere Karlspitze ( 2283 m ). In abwechslungsreichem Auf und Ab überschreiten wir auch diese Gipfel. Im Gipfelbuch finden wir folgende drollige Anmerkung:

« Bergkameraden, Achtung! Gipfelbücher kosten Geld! Bitte spart mit dem Platz! Nur dreimal gscherte Pfundhammel reissen Blätter für den Arschwisch heraus oder laden ihren geistigen Mist im Gipfelbuch ab. Much Wieser, Edelweissgilde Kitzbühel. » Ein leichter Abstieg bringt uns in die unheimliche Schlucht der Steinernen Rinne und auf einem versicherten, d.h. mit Drahtseilen und Eisenstiften versehenen und da und dort durch künstliche Stufen erleichterten Pfad zum Stripsenjoch zurück: es ist 15 Uhr 30.

Nach reichlichem Mahl gibt es einen gemütlichen tiro-lisch-schweizerischen Gesangsabend in der Hüttenküche. Zwischen den Liedern stossen wir mit feurigem Südtiroler an auf die neugewonnene Freiheit Österreichs. Ein greiser Mann in schlohweissem Haar sitzt zwischen uns und zieht an seiner stattlichen Hirschhornpfeife. Auf meine Frage nach der Erklärung der sonderbaren Gipfelnamen gibt er uns erstaunlich gute Auskunft. Wer war es? Franz Nieberl' Pionier des Felskletterns und der Kaiser-Er-schliessung! Unsere Freude ist gross, diesen würdigen Mann kennenzulernen. Unglaublich rüstig, war es ihm, dem 82jährigen, ein leichtes, die fünfeinhalb Stunden von Kufstein zum Stripsenjoch hinaufzusteigen, um dort an Hand der Hüttenbücher eine kleine statistische Arbeit vorzunehmen. Er freute sich zu hören, dass er mit seinem Buch « Das Klettern im Fels » vor 40 Jahren mein erster Lehrmeister gewesen war. In der Folge genossen wir noch interessante Gespräche mit ihm, und später konnten wir durch ihn die eben erschienene, von ihm revidierte Neuauflage des Leuchsschen Kaiserführers beziehen, welche er mit freundlichen Widmungen bereicherte.

Montag. Heute gilt unser Streben dem Totenkirchl, und zwar über den Heroldweg. Im Führer steht: Geradester und natürlichster Anstieg, im mittleren Teil schwierig ( III. ) und sehr luftig, sonst verhältnismässig leicht.

Der Nordhang des Berges zeigt sich vom Stripsenjoch aus grosszügig in Schrägterrassen und Steilwände gegliedert. Der Anstieg erweist sich uns als sehr abwechslungsreich. Auf die luftige Mittelpartie sind wir natürlich gespannt. Wir stehen da in einer absonderlichen Felsenszenerie: die Senkrechte, nur durch dürftige Gesimse unterbrochen, beherrscht alles; man wähnt sich inmitten von gotischen Kathedralen. Dort recken sich wie Orgelpfeifen säulenartige Strebepfeiler, durch tiefe Kamine getrennt, in den Himmel, hier verliert sich unser Grat in einer überhängenden Wand. Diese Wand muss auf der erwähnten, nicht einfachen Schlüsselstelle überlistet werden. Mit trefflichen Sicherungsmöglichkeiten überwinden wir den heiklen Quergang, den abschüssigen Balkon und die glatte Platte sorgsam und gut, kommen bald auf die leichten Felsen des Gipfeldaches und zum Gipfel des Totenkirchl ( 2193 m ). Diese Zinne, im Laufe der Jahre von vielen Tausenden erklettert, ist zum eigentlichen Modeberg geworden und weist, sage und schreibe, rund 80 Auf- stiegswege auf. « Es gibt heute kaum noch eine Rinne, einen Kamin, eine Rippe, ein Band, ein Gesimse, das nicht Menschenfuss betreten, Menschenhand berührt hätte », schreibt Leuchs in seinem Führer. Von 8 Uhr 15 bis 11 Uhr 45 hat unser Anstieg gedauert, aber oben ist es kühl, so dass die geplante Siesta im molligen Graspolster des Gipfelhanges dahinfällt. Zum Abstieg benützen wir die Schmitt-Rinne und den Führer-Kamin. Durch zeitweilige Regenschauer werden die recht glatt gewetzten Steilrinnen nicht rauher und erfordern sorgfältiges Klettern und Sichern. Doch glücklich kommen wir hinunter. Kaum hat sich die Hüttentür hinter uns geschlossen, fallen starke Regengüsse, und wir sind froh, am Trockenen zu sitzen.

Um 20 Uhr hört man Hilferufe aus der Gegend des sog. Schneelochs zwischen Totenkirchl und Fleischbank. Der Hüttenführer geht sofort ab; später folgen Führer Stadler und ein dritter Kollege mit Fackeln nach. Gegen 23 Uhr kommen sie mit vier jungen Leuten zurück, die uns morgens beim Kirchl-Aufstieg gefolgt waren und die wir dann aus den Augen verloren. Sie hatten sich im Abstieg verirrt, waren völlig durchnässt und ziemlich erschöpft. Trotzdem hatten sie Glück, für die Nacht geborgen zu sein, mehr Glück als zwei andere Bergsteiger, deren Notsignal in der Morgenfrühe nach der sehr regnerischen und kühlen Nacht zur Hütte drang. Wiederum mussten die Führer ausrücken; wiederum handelte es sich um zwei Verstiegene, welche, vom Christaturm kommend, keinen Ausweg gefunden hatten und eine schwere Biwaknacht verbringen mussten. Sie schienen heil und gesund; aber einige Tage später vernahmen wir, dass der eine von ihnen mit einer Lungenentzündung zu Kufstein im Spital lag. Erstaunlicherweise haben solchermassen Gerettete den Führern keine Entschädigung zu entrichten; es soll vorkommen, dass sie nicht einmal Dankschön sagen! Erst nach Einreichen eines Rapportes gelangen die Retter durch die Bergwacht zu einer höchst bescheidenen Vergütung. Für den Rettungsdienst wird von jedem Hüttenbesucher ein sog. Rettungsgroschen erhoben.

Wie es in der Frühe des Dienstags geregnet hat, so nieselt es weiter aus grauem Himmel. Wir halten uns hübsch stille in der gemütlich warmen Stube. Der Vormittag vergeht uns im Gespräch mit Herrn Nieberl, mit Jassen und Kartenschreiben und mit Skizzieren. Nebeltreiben und Regen währen fast den ganzen Tag, der so gezwungenermassen vorzeitig zu unserem Ruhetag wird. Im Nachmittag erteilt Fritz Stadler sehr gewiegte Theorie über Seiltechnik. Der Abend aber sieht uns wieder um den Tisch versammelt im trauten Verein mit der Tiroler Hüttenbesatzung. Rauhe helvetische Weisen wechseln mit den sentimentaleren Klängen Österreichs; erlesener Gumpolds-kirchnerwein lässt überleiten zu den lustigen Schnadahüpfeln, und es sind nicht nur lauter Ledige, welche mit der hübschen Maria und der lieblichen Jutta verliebte Blicke tauschen! Auf einmal geht das elektrische Licht aus; es ist Mitternacht. Mit Taschenlampen und Zündhölzern tasten wir uns dann auf die Pritschen zur guten Ruh.

Am Mittwoch hat sich unser Tatendrang potenziert. Noch stecken die Gipfel im Wolkengebräu, doch wir beschliessen, zur Gruttenhütte umzusiedeln. Unser Fahrzeug, auf der Griessneralm eingestellt, wollen wir auch gleich mitnehmen. So bilden wir zwei Gruppen ( eine Gruppe « Oben-durch » und eine Gruppe « Untendurch » ). Es gibt einen rührenden Abschied von den freundlichen Wirtsleuten. Die Motorisierten steigen nach der Griessneralm ab und fahren über St. Johann nach Ellmau und, dort abzweigend, eines der holprigen Bergsträsschen hinauf, bis es allzu holprig wird. Bei einem Gehöft, der Kalkgrube, stellen wir das Gefährt wieder unter Dach und wandern durch lichten Wald der Höhe zu, Richtung Gaudeamus- und Gruttenhütte. Durch Legföhren und reich blühende Alpenrosen schlängelt sich unser Weglein einem Wildbach entlang, der heute ganz friedlich sich gebärdet, immer höher, leitet dann durch eine kleine Schlucht, das Klamml genannt, sehr steil hinauf in eine Scharte, von wo aus wir in einigen Minuten unser Heim für die folgenden Tage, die Gruttenhütte ( 1620 m ), erreichen. Der Zufall will es, dass pünktlich zur selben Zeit die Gruppe « Obendurch » eingetroffen ist. Statt, wie beabsichtigt, einfach über die Steinerne Rinne das Ellmauertor als kürzesten Übergang von Stripsen nach Grutten zu überschreiten, haben sie sich durch den immer blauer werdenden Himmel verlocken lassen, auch gleich noch dem Predigtstuhl und der Goinger Halt ihre Aufwartung zu machen. Etwas kleinlaut gestanden sie es uns, aber es lag uns fern, es ihnen übelzunehmen, im Gegenteil, wir freuten uns mit ihnen und beglückwünschten sie zu ihrem Erfolg.

Die Gruttenhütte, Eigentum der AV-Sektion Turneralpenkränzchen und bestehend aus dem Wirtschaftsgebäude und zwei Schlafhäusern, liegt prachtvoll auf einer sanft abfallenden Weide am Südfusse des Kaiserkammes. Sie wird offenbar vom nahegelegenen Kurort St. Johann und von anderen Dörfern des Tales aus stark besucht und war überfüllt. Die dienenden Geister der Küche, durch Krankheit reduziert, vermochten kaum allen Ansprüchen gerecht zu werden, und das Abendessen fiel etwas knapp aus, so dass wir es uns in doppelter Ration einverleibten, liess doch der Appetit in der würzigen Bergluft nichts zu wünschen übrig.

Donnerstag. Strahlender Sonnenschein! Und auf dem Programm der berühmte Kopftörlgrat! Voll froher Erwartung verfolgen wir den Pfad zum Kopftörl, einer Scharte zwischen Ellmauer Halt und Vorderer Karlspitze, die über den Hohen Winkel auf die Stripsenalm hinüberleitet. Hier ist der Einstieg, wir erreichen ihn um 8 Uhr 50. Eine Querung über Grasschrofen führt uns auf den Grat, der sich mit sechs mächtigen Türmen verteidigt. Ein genussvolles Klettern hebt an im sonnenwarmen, eisenharten Gestein, ein Klettern von einer selten anzutreffenden Mannigfaltigkeit. Im buntesten Wechsel folgen sich die Wändchen, Risse und Kamine; hinauf und hinab geht 's in zügigem Tempo, und bei allen herrscht blendende Laune. Der vierte Gendarm, Leuchs-Turm geheissen, bildet das schwierigste Bollwerk, doch auch ihm steigen wir auf den Scheitel. Ganz unversehens stehen wir schliesslich, fast mit Bedauern, dass das freudvolle Klimmen zu Ende ist, nach drei Stunden Gratkletterei auf dem Gipfel der Ellmauer Halt. Mit 2344 m stellt sie die höchste Erhebung des Kaisergebirges dar. Sie wird wohl auch am meisten besucht, weil von der Westseite her ein Steig unschwierig hinaufleitet. Mit uns sitzen denn auch verschiedene andere Grüpplein in den Gipfelfelsen, freuen sich des Sonnenglanzes und bestaunen die Aussicht. Wir haben einen Tag von kristallener Klarheit getroffen; die Berge stehen nicht verschwimmend im mittäglichen Glast des Sommers, sondern fast ebenso deutlich wie am Morgen beim Verlassen der Hütte, etwa vergleichbar unserem Alpenkranz vom Jura aus an einem erlesenen Herbst- oder Wintertag. Am südlichen Horizont blinken die Eishäupter der Hohen Tauern mit den Wiesbachhörnern, dem Grossglockner und dem Venediger; es folgen westwärts viele Dutzende von Gipfeln der Stubaier und Ötztaler Alpen. Im Mittelgrund erheben sich aus der Bläue der Täler die minder hohen Zillertaler Berge mit dem Grossen Rettenstein als markantestem, ans Stockhorn gemahnendem Gipfel; mehr östlich das Kitzbühelerhorn, der beliebte Skiberg; ganz aussen die Leobener und Leoganger Steinberge.

Begeistert von den starken Erlebnissen dieses Tages steigen wir auf dem Weglein zur Hütte hinunter, und vor dem Einnachten sitzen wir noch lange auf der Terrasse und bewundern ein märchenhaftes Abendleuchten. Nachher geht 's ans Pläneschmieden für den folgenden Tag. Der Predigtstuhl soll angegangen werden, und zwar auf zwei verschiedenen Wegen: durch die Westschlucht und über die Mi-Rinne.

Der Freitag kündet sich wiederum mit Prachtwetter an, und wir starten frohgemut über den interessanten « Jubiläumsweg » zum Ellmauer Tor. Dieser Pfad ist, mit zahlreichen Drahtseilen gesichert, künstlich durch einen sonst kaum begehbaren, schluchtartig zerrissenen Erosionskessel angelegt.

Vom Ellmauer Tor steigen wir etwa 100 m auf die Seite des Stripsenjoches ab, wo sich unsere Wege trennen. Unser drei erklimmen den Gipfel unschwierig über die sog. Mi-Rinne und betreten bereits um 10 Uhr 15 den Predigtstuhl ( 2115 m ), wo wir längere Zeit auf die Kameraden warten können. Es wird uns zu einer besinnlichen Feierstunde, zwischen die Gipfelfelsen geschmiegt, in lautloser Stille mit dem Auge dem Zuge der silbrigen Wolken zu folgen, die übers Himmelsblau ziehen, dann und wann einen Blick in die Tiefe zu werfen auf die Wälder und Triften, auf die Spielzeughäuschen der Griessneralm und die winzigen Menschlein, die sich dort bewegen. Ein starkes Gefühl des Glückes, der Erfüllung durchflutet mich, und ich muss wieder einmal zum Zeichenstift greifen, um das Lärcheck und die Gamsfluchten aufs Papier zu bannen.

Bald nach 12 Uhr gewahren wir unsere Gefährten, welche sich über eine schwierige Passage auf den Nordgipfel schwingen. Bald drücken wir uns wiedervereint die Hände. Sie hatten durch die Westschlucht einen langen und recht schweren Aufstieg. Nachdem auch sie die wohlverdiente Ruhe genossen haben, wenden wir uns westwärts. Zuerst geht 's sehr steil und luftig hinunter in die Predigtstuhl-Scharte, dann wieder 120 m hinauf in rassiger Kletterei zur Hintern Goinger Halt ( 2195 m ). Von ihr aus führt ein ganz leichter Pfad durch ein Schuttkar hinunter zum Ellmauer Tor, wo wir unsern Imbiss deponiert haben.

Führer Stadler hat eine ihm bekannte Dame hierher bestellt, und wir werden Zeugen, wie diese tüchtige Zweierpartie Seillänge um Seillänge innert einer Stunde die erschreckend steile Südostkante des Christaturmes bezwingt. Im Chore rufen wir unser Bravo! hinauf, und in den Wänden widerhallt Fritzens Gipfeljauchzer.

Im Nu sind wir dann, den Jubiläumssteig abwärts verfolgend, wieder drunten im gastlichen Heim der Gruttenhütte.

Beim Sonnenuntergang bietet sich uns ein eigenartiges, prächtiges Schauspiel: am Himmel bildet sich ein rötlich und golden leuchtendes Wolkengewoge und schwebt gleich einer phantastischen Gralsburg eine Weile über der Zacke des Kitzbühelerhornes, um dann leise zu vergehen.

Nach dem Abendessen laden wir ein Münchner Ehepaar, das uns Tags zuvor durch seinen gepflegten Gesang aufgefallen war, in unser Hinterstübchen ein, und es wird wieder einmal geliedet, dass man vermeinen könnte, die Meistersinger von Nürnberg zu hören. Bald klopft 's auch an die Scheibe: zwei fesche Innsbruckerinnen wollen als Zaungäste mithören. Nach einigem Hin und Her beenden wir das « Fensterin », indem wir die eine auf dem kürzesten Wege hereinholen; die andere folgt auf dem Umweg durch die Türe. So endet der Abend sehr fröhlich mit einem eidgenös-sisch-bayrisch-tirolischen Wettsingen. Mitten in der Nacht werden wir geweckt durch das Tosen und Grollen eines Gewitters, doch, in unsere warmen Decken gehüllt, blinzeln wir nur schlaftrunken in die Blitze und fühlen uns wohl und geborgen.

Samstag, letzter Tourentag. Vor der Türe steht unser Grüpplein und äugt besorgt zu den Törl-spitzen empor, welche von allerlei Nebelgetier umflattert werden. Das Wetter sieht zweifelhaft aus, doch trösten wir uns damit, dass wir ja jederzeit umkehren können. Wir planen eine Überschreitung des Ostkaisers, der mit vielfältigen Zacken und Türmen mächtig lockt.

Der Anmarsch dauert heute fast drei Stunden. Über den Jubiläumssteig müssen wir vorerst wieder durch die zerfressenen Felsbildungen des « Wilden Gschlosses » halbwegs zum Ellmauer Tor aufsteigen, dann über ein Schuttkar schräg hinunter bis in die Nähe der Gaudeamushütte und von da durch anmutige Legföhrenbestände wieder empor. In einer Mulde kriecht eine Kreuzotter faul durchs Zwerggesträuch und kümmert sich nicht um die neugierigen Beschauer. Nun geht 's immer steiler über Grasschrofenhänge, aus denen das Blau der Enzianen leuchtet, hinauf an den Fuss einer nackten Felsmauer, wo wir die Seile anlegen. Die Sonne ist indessen durchgebrochen. Heiss, viel zu heiss stechen ihre Strahlen und treiben uns den Schweiss aus den Poren. Nacheinander überschreiten wir die Regalpwand ( 2227 m ) und die Regalpspitze ( 2249 in ). Es liegt viel loser Schutt umher; es ist nicht mehr das beglückend saubere Klettern, wie wir es an den Vortagen genossen. In etwas eintönigem Auf und Ab über brüchige Felsstufen folgen die Westliche Hochgrubachspitze ( 2274 m ) und die Östliche Hochgrubachspitze ( 2284 m ). Tranksame haben wir leider nicht mitgenommen; der Durst in unseren trockenen Kehlen wächst und damit Mattigkeit und Missbehagen. Noch einmal steigen wir hinunter in eine tiefe Scharte, ein letztes Mal hinauf zu einem Trümmer-gipfel, der Ackerlspitze ( 2331 m ). Hier öffnet sich ein umfassender Blick westwärts in die Vielfalt des Kaisergebirges und nach Norden auf die Berchtesgadener Berge und den Chiemsee. Doch sind wir froh, uns in schattige Nischen zu verkriechen, und fast beneiden wir einen Schwärm von Schmetterlingen - Kohlweisslinge sind 's - die so schwerelos und spielerisch über den Gipfel gaukeln.

Bald machen wir uns an den Abstieg. Er führt uns unschwierig durch die Karmulden des Hoch-sessels und des Niedersessels zur Ackerlhütte hinab. Nur eine Steilstufe überwinden wir durch ein Abseilmanöver, das einzige der ganzen Woche. Diese Wand leitet uns auf ein Firnfeld hinunter, wo wir das strenge Verbot des Schnee-Essens, ausgedörrt wie wir sind, schmählich missachten. Nach einstündigem Flankenmarsch kommen wir zum ersten Brunnen und geniessen lustvoll das kalte Nass. Was der Morgen androhte, bringt der späte Nachmittag: ein zünftiges Gewitter. Blitze zucken, der Donner dröhnt, sich vielfach überschlagend, in den Wänden des Wilden Gschlosses, das wir eilig durchsteigen. Nach wenigen Minuten hüpfen ringsum Bächlein und ganze Sturzbäche durch die Felsen und gebieten uns der Steinschlaggefahr wegen Halt. Eng zusammengedrängt warten wir in einem kleinen Tunnel, der uns willkommenen Unterschlupf gewährt. Zu unserem Glück ist das Unwetter von kurzer Dauer. Sobald die Kaskaden dünner werden, ziehen wir los und gelangen nach elfstündiger Bergfahrt, um 18 Uhr 30, zurück in die Gruttenhütte, wo wir uns abwechselnd an köstlichem Bier und dem beliebten Skiwasser, einer Sirupmischung, erlaben.

Mit leiser Wehmut werden dann die Pläne für die Heimreise entworfen und ein Abstecher nach München beschlossen.

Sonntag. Gesagt, getan. Nach einer erholsamen Nachtruhe treten wir in den taufrischen Morgen hinaus. Über die Wochenbrunner Alm bummeln wir talwärts und werfen manchen dankbaren und frohen Blick zurück zu den wilden Gräten und stolzen Zinnen, die unser Herumkrabbeln wohlwollend geduldet haben. Was sind wir anders denn Eintagsfliegen, verglichen mit diesen Bergen, welche Äonen überdauerten! Nicht mit ihnen zu kämpfen und sie zu bezwingen ist unser Ziel, nein, wir wollen uns ihnen in demütiger Liebe nahen; wir wollen trachten, uns ihrer Schönheit, ihrer Grosse würdig zu erweisen. So wird uns das Bergerlebnis zu einem Unvergänglichen; es steigert unser Lebensgefühl, es bereichert uns stärker, als der Uneingeweihte zu ahnen vermag. Beschenkt und beglückt kehren wir in den Alltag zurück.

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