Im Winter über den Biancograt auf den Piz Bernina (4050 m) | Club Alpino Svizzero CAS
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Im Winter über den Biancograt auf den Piz Bernina (4050 m)

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VON MARTIN GÜNNEL, FREIBURG I.B.

Mit 2 Bildern ( 277, 278 ) Graue Wolken fegen im kalten, starken Wind über die weisse Fläche und werden an den zackigen Graten und Eisflanken der hohen Berninaberge aufgerissen. Beim Roseg-Gasthaus, ob Pontresina, haben wir die letzte Spur im Tal hinter uns gelassen. Vor uns breitet sich die sanft geneigte, weisse Fläche des Tschiervagletschers. Am Abend des 4. März 1958 erreichen wir die Tschiervahütte, 2580 m. Noch ist uns der Eingang verwehrt: die Tür ist bis obenhin zugeschneit. Eine gute Stunde lang schaufeln wir den Schnee weg, bis wir eintreten können. Drinnen ist es eisig kalt. Die Schuhe, die wir ausziehen, gefrieren sofort. Wir müssen sie mit in die Schlafsäcke nehmen. Es ist schon spät; es lohnt sich nicht mehr, ein Feuer im Herd zu entfachen. Deshalb begnügen wir uns mit dem Primuskocher. Mehrmals halte ich Ausschau nach dem Wetter. Föhnfahnen hängen an Graten und Gipfeln. Der aufsteigende Vollmond ist von einem grossen Hof umgeben. Wird das Wetter morgen halten? Unruhig legen wir uns schlafen.

So gern wie am nächsten Morgen um 3 Uhr bin ich noch nie aufgestanden, denn vor Aufregung hatte ich gar nicht geschlafen und ersehnte die Stunde des Aufbruchs herbei. Das Wasser über dem Kocher ist schon siedend heiss, als sich auch mein Gefährte, Dieter Münch, erhebt. Ich schütte eine halbe Dose Nescafe in den Kochtopf. Ein starkes Getränk für einen grossen Tag! Bald fühle ich mich behaglich durchwärmt, frisch und gesangsfreudig. Mit heiteren Worten machen wir uns um 4 Uhr auf den Weg. Die weisse Bergwelt schimmert matt im Mondlicht. Die Ski können wir nicht lange verwenden, das Gelände ist zu wild, zu steil und felsdurchsetzt. Am rechten Ufer des zerborstenen Tschiervagletschers spuren wir durch Seraks hindurch, meist bis zu den Oberschenkeln im pulverigen Schnee einsinkend. Rechts von uns erhebt sich der schaurige Nordabsturz des Piz Roseg und der zersägte Grat des Scerscen. Im nächtlichen Schatten haben die Berge etwas von ihrem wilden Aussehen eingebüsst, sie sind nur noch grosse, in der Dunkelheit verlorene Riesen. Wir erreichen die obere Firnstufe des Tschiervagletschers. Ein 300 m hoher Steilhang führt empor zur Fuorcla Prievlusa ( 3440 m ), wo der Biancograt beginnt Ungewöhnlich mühsam ist das Spuren im tiefen Neuschnee; alle paar Minuten wechseln wir im Vorangehen ab.

Schon längst sind die Umrisse des Biancogrates aus dem Zwielicht der Dämmerung herausgewachsen. Jetzt entzündet die Sonne ihre ersten Flammenzeichen auf dem Piz Bernina. Wenige Minuten später glühen Scerscen und Roseg auf. In grundlosem Schwimmschnee wühlend, nähern wir uns der Scharte. Trotz der Anstrengung spüren wir die bissige Kälte; scharf schneidet sie ins Gesicht. Auf der Scharte peitscht uns ein heftiger Sturm Schneeböen entgegen. Schlotternd am ganzen Körper stehen wir in der Morgensonne. Umständlich machen wir uns kletterfertig. Der erste felsige Grataufschwung wird an abschüssigen Platten rechts umgangen, Platten, die mit spiegelndem Eis bedeckt sind. Dann klettern wir durch Risse und Verschneidungen zurück zum Grat. Hier tobte vor Tagen ein Schneesturm. Bizarre, Übermenschengrosse Gebilde aus Preßschnee kleben am Fels. Jeder Griff und Tritt muss erst behutsam freigelegt werden, denn leicht könnte sich so ein riesiger Schneebalkon lösen. Am Grat spüren wir die ganze Gewalt des Sturmes. Gigantische Kräfte umbranden den Berg. Sind wir nur wenige Meter auseinander, so können wir uns nicht mehr verständigen. Nur der Sturm singt sein gewaltiges, erregendes Lied; ein stets gleicher Ton braust über den Grat und gibt dem Berg eine einsame, urweltliche Grosse.

Mit den schweren Rucksäcken geht das Klettern nicht so leicht. Schwerfällig sind die Bewegungen in der dicken Kleidung. Wir wollen nicht auf das Sichern verzichten, und das Vordringen ist nur langsam. Es ist schon Mittag, als wir zum Ende des Felsgrates gelangen. Eine seichte Einsattelung, und dahinter, leuchtend im herrlichen Weiss, schwingt sich der Eisgrat auf, der « Bianco»-Grat. Hier hat der Sturm den Schnee teilweise metertief aufgeschichtet; an anderen Stellen wieder tritt glashartes Eis zutage. Die Schwierigkeiten sind nicht so gross, dass wir nicht gleichzeitig gehen könnten, aber wir sind etwas schlapp, und jeder ist froh, wenn er nach ausgegangener Seillänge sichernd rasten kann. Weitüberhängende Wächten zwingen uns, auf den Windhang auszuweichen. Hier, wo wir uns etwas vom Grat entfernen, sinken wir bis zum Bauch ein und wühlen im Gehen einen richtigen Graben auf! Stunden verfliessen, ohne dass wir es merken. Um 16.00 Uhr erreichen wir die Firnkuppe des Piz Bianco, 3995 m. Hier halten wir kurze Rast und nehmen unsern ersten Imbiss seit dem Frühstück ein. Wir blicken hinüber zum stolzen Dreigestirn: Ortler, Zebru und Königsspitze; erkennen deutlich die Zackenreihe des Ortler-Hochjochgrates, wo mir vor einem Jahr die erste Winterbegehung gelang. Wir dürfen nicht zu lange rasten, denn erschreckend weit und wild zieht sich der felsige Grat noch bis zum Piz Bernina hinüber, und wir müssen uns beeilen, denn schon meldet sich die letzte TagesstundeDer Grat ist mit vielen kleinen Türmen besetzt, in deren Scharten hohe, schlanke, fein ziselierte Wächten sich breiten, einmal nach dem einen, einmal nach dem anderen Abgrund! Wir gehen nun gleichzeitig am kurzen Seil, bald hangelnd, bald reitend, immer mit Steigeisen. Meine Überhose ist schon längst durch das Wühlen im Schnee bis obenhin steif gefroren. Blechern, wie zwei zerbeulte Ofenrohre, klappert sie um meine Beine und gegen den Fels. Tief senkt sich der Grat zur Berninascharte hinab, die durch einen steilen Felsturm, der schon im Sommer schwierig zu überklettern ist, besetzt ist. Heute ist seine Flanke mit zahlreichen Schneebaikonen bespickt, so dass wir es vorziehen, ihn rechts in der Eisflanke zu umgehen. Nach einem kurzen Abstieg gehe ich die Querung an. Das Eis ist blank. In Reichweite des Pickels schlage ich immer wieder eine Kerbe ins Eis und setze die vorderen beiden Zacken der Steigeisen ein. Das Seil reicht gerade bis zu einer Eiskehle, die hinter dem Gendarm zur Scharte emporführt. Ein Eishaken sichert meinen Stand, so dass ich meinen Körper im Gleichgewicht halten kann. Ich lasse meinen Gefährten nachkommen und nehme dann die nächste Seillänge in Angriff. Die Steilheit der Eisrinne drückt den Körper stark hinaus. Bei jedem Pickelhieb springen ganze Schollen ab, und nur millimetertief dringen die Steigeisen ins spröde Eis. Bei jedem Schritt bemühe ich mich, die gefühllosen Zehen zu bewegen; langsam kommt wieder Wärme in sie hinein. Erfrierungen haben ja meist ihre Ursache in Nachlässigkeit und Trägheit der Gedanken. Oben in der Scharte, unter einem windgeschützten Block, halten wir die zweite Rast. Es geht gegen den Abend. Die Sonne steht tief über den westlichen Bergen und scheint im Niedersinken grösser zu werden. Sie übergiesst das Firmament mit purpurnem Schimmer So wie die Sonne sinkt, klettern die eiligen Schatten zu beiden Seiten des Tales die zerrissenen Flanken hinauf. Dann sind nur noch die hohen Gipfel rot. Dankbar empfangen wir die letzten Strahlen. Und plötzlich ist das Licht fort. Kalt stösst der Nachtwind aus dem dunklen Abgrund herauf und treibt uns weiter. Es ist nun finster, und jeder Griff muss abgetastet werden. Doch bald schenkt der Himmel uns neues Licht, kaltes Licht: Im Osten, über dem Ortler, steigt die volle Scheibe des Mondes auf, taucht die schlafende Bergwelt in eine arktische Ruhe und hellt uns mit fahlem Schimmer den Weg auf.

Der Fels legt sich zurück. Wir stehen neben der Gipfelstange, auf der höchsten Zinne des Engadins! 20 Uhr. Doch der Wind ist zum Sturm geworden. Heulende Stösse peitschen uns Schneefahnen ins Gesicht, fast waagerecht stehen die Seile von uns ab. Das Blut in den Adern will uns erstarren. Wir dürfen es nicht auf ein Biwak ankommen lassen. Auf allen Vieren das Blockwerk hinabstemmend, dann wieder auf steilem Eisfirst balancierend, steigen wir den Spallagrat hinab. In einer Felszone versteigen wir uns, kommen in unwegsames Gelände, wir müssen wieder 50 Meter empor. An einem « Abgestürztenkreuz » geht es vorbei. Hier muss der richtige Weg sein. Das letzte Stück: eine senkrechte kurze Wand mit festen Griffen. Dann ein Sprung auf einen Schneefleck, die Kletterei ist zu Ende. Fast wie in einem Dauerlauf springen wir das flacher werdende Eisfeld des oberen Morteratschgletschers hinab zum weiten Crast'agüzza-Sattel. Wie ist doch das Mondlicht trügerisch: oft vermeinen wir, die Hütte gefunden zu haben, und, von nahem gesehen, ist es nur ein kältestarrender Felsblock! Endlich aber ist es wirklich die Marco-e-Rosa-Hütte ( 3600 m ), vor der wir stehen. Es ist 22.30 Uhr. Im kleinen Raum aber ist kein Herd, kein Ofen. Auf den Schlaf lagern liegt zum Teil Schnee. Das Gebälk, von Drahtseilen über dem Abgrund gehalten, erbebt im Sturm. Und trotzdem, wie glücklich, geborgen und warm fühlen wir uns in dieser kargen, kalten Hütte! Wir wärmen unsere erstarrten Finger an der Flamme des Primuskochers. Ein heisser Trunk löst die Spannung, die Kälte. Ein kurzer Imbiss. Und dann packt uns die Müdigkeit und lässt uns, in die Decken gehüllt, auf der Pritsche in tiefen Schlaf sinken.

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