In den Excursionsgebieten von 1871 bis 1873 | Club Alpino Svizzero CAS
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In den Excursionsgebieten von 1871 bis 1873

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Von A. Uoffinann-Burckhardt.

Wenn ein böses Geschick mich im schönen Sommer 1871 gerade die einzigen regnerischen vierzehn Tage für meine Excursionen auswählen liess, welche die Monate Juli und August aufzuweisen hatten, so wurde mir dagegen im regnerischen Sommer 1872 das unverdiente Glück zu Theil die einzigen wenigen Tage auszuwählen, während welchen die alte Sonne ihrer angestammten Rechte sich wieder erinnerte; zum Theil machte sich sogar ihre Kraft in eigentlich despotischer Weise geltend, doppelt empfindlich für einen Wanderer den, wie mich, Pflicht und Neigung in unsere jenseits der Alpen liegenden Excursionsgebiete führten. Der Ausgangspunkt für meine Reise war diessmal das Kurhaus im hintern Weggithale, das zwar den Nachtheil hatte, etwas weit von meinem Reiseziel abzuliegen, gerade dadurch aber mich zwang eine Gegend des Vaterlandes zu durchstreifen, die ich theils noch nie, theils schon lange nicht mehr geschaut.

Es war an dem regnerischen Donnerstag, 18. Juli, als ich in Begleit des alten Franz Sepp das Kurhaus Morgens 10 Uhr verliess, um über den Schweinalppass und das Klönthal Glarus zu gewinnen, wo ich, von manchem Regenschauer begleitet, Abends 5 Uhr eintraf und das Glück hatte im Glarnerhof die alten Clubfreunde Freuler und Schmidt zu begrüssen. Bei strömendem Regen fuhr ich durch die mit üppigem Grün und rauchendeu Dampf Schloten gesegneten Fluren des Glarnerländchens nach dem berühmten Badorte Stachelberg, wo Herr Glarner, stets gleich zuvorkommend gegen den tornisterbeladenen Wanderer, der seine scharfen Schulmägel in die eleganten Parquets einhackt, wie gegen die feine Modedame. welche mit süss duftendem Parfum die Salons erfüllt, mich auf 's freundlichste empfing. Ich fand daselbst meinen Bruder Fritz und meinen braven Christian Jann von Klosters. Beide « zu jedem Thun entflammt » und bald gesellte sich dazu noch der bekannte Tödiführer Joachim Zweifel als Vierter im'Bunde.

Die ganze Nacht noch regnete es und blieb so bis um 9 Uhr den 19. Juli, wo wir, von den besten Hoffnungen beseelt, Stachelberg verliessen, um auf dem allbekannten Wege über die untere Sandalp der Clubhütte am Grünhorn zuzuwandern, die wir nach bequemem Marsche Abends 5 Uhr erreichten. Der Abend war kühl und liess uns für den folgenden Morgen das Beste hoffen. Die Hütte, dem Wanderer immerhin ein freundliches Asyl, scheint mir, trotz der daran vorgenommenen Verbesserungen, doch noch mehrere Nachtheile zu besitzen. Sie ist etwas klein und mehr wie 5 — 6 Personen können sich kaum darin aufhalten, ferner liegt die Schlafpritsche am Boden auf, statt ]/2—1 Fuss ( am Kopfende lljt Fuss ) vom Boden abzustehen;

dadurch aber bleibt das-Heu beständig feucht und das Lager dient nicht zu gleicher Zeit in bequemer Weise als Sitz. Das eiserne Dach scheint sich ebenfalls nicht zu bewähren und ist schon bedenklich eingesunken und ferner fehlt in der Hütte ein Tisch. Es soll mit diesen Bemerkungen den Bemühungen der Sektion Tödi durchaus nicht zu nahe getreten werden, aber ich möchte darauf hinweisen, wie sehr wünschenswerth es ist, dass bei ähnlichen Neubauten den dringendsten Bedürfnissen gehörig Rechnung getragen werde und wegeit einigen hundert Franken Mehrkosten nicht der Komfort allzu kurz komme. Als Musterbauten dürfen ( ohne die Vorzüge der Uebrigen zu verkürzen ) die Clubhütten der Sektion Rhätia am Silvretta und am Zapportgletscher namhaft gemacht werden; bei Beurtheilung der Grünhornhütte darf übrigens nicht übersehen werden, dass bei deren Bau noch nicht -die Erfahrungen gesammelt waren, wie bei der Errichtung der spätem, indem sie vor allen andern gebaut wurde. Früh halb 3 Uhr den 20. Juli wurde Kaffe gekocht und um 31/-1 Uhr marschirten wir ab, dem Tödi zu, dessen oberste Einsattlung, zwischen Piz Rusein und dem Glarnertödi wir, nach einem durch die vorzügliche Beschaffenheit des Schnees nicht sehr anstrengenden Marsche, um halb, 8 Uhr erreichten. Weder die berüchtigte Schneerunse noch der grosse Bergschrund hatten uns im geringsten belästigt, letzterer fand sich sogar blos durch einen schwachen Kritz markirt. Die allbekannte Aussicht vom Tödi übergehe ich mit Stillschweigen, obschon sie bei dem glockenreinen Himmel, der über uns im tiefsten Schwarzblau sich wölbte, zu dem Schönsten gehört, was ich von Bergaussichten je geschaut.

Es wurde nun zuerst der Glarner Tödi, der den Ausblick nach dein Glarnerlande resp. Stachelberg bietet, besucht, um den allfällig unseres Erscheinens harrenden dortigen Gästen das erwünschte Schauspiel zu bieten und dann der höhere Gipfel des Berges, der Piz Rusein bestiegen; es war 9 Uhr 10 Min. Bei der Berathung über den ferner einzuschlagenden Weg kam zuerst, da wir nach Disentis zu gelangen wünschten, die porta da Spescha in Frage und schon waren wir dahin aufgebrochen, als Zweifel seiner mit Herrn Prof. Picard in Basel ausgeführten Variante direkt vom Gipfel nach dem Sandgrate erwähnte, und da diese Idee unsern Beifall gewann, so machte man sich ungesäumt an die Ausführung, nur mit dem Unterschiede, dass unser Weg direkt in 's Ruseinthal hinunter führen sollte, statt nach dem Sandgrate hinüber. Wer nun den Piz Rusein kennt, der kann sich ungefähr einen Begriff machen von unserer Reise, solchen, die ihn nicht kennen, diene Folgendes als Wegweiser.

Der Piz Ruseingipfel besteht aus einer gewaltigen Schneegwächte, die sich senkrecht oder, je nach Umständen, auch etwas überhängend auf den dachgäh abfallenden Schneehang stützt, der in einem Winkel von 45/50vielleicht auch stellenweise 60 ", was ich aber nicht behaupten will, da ich es nicht beweisen kann ), ohne Unterbrechung auf den Ruseiniini abfällt,

in einer Höhe von etwa 1200 Meter. Kaum 20 bis 30 Schritte südöstlich vom höchsten Punkte tritt das nackte Gestein zu Tage und etwa 100--150 Fuss tiefer zeigen sich abermals drei Felsrippen, die den Schneehang in vier ungleiche Theile trennen. Nachdem der oberste Schneerücken verlassen war, band sich nun Zweifel vom Seile los und ging abwärts steigend um den ersten Fels herum in der Richtung nach der mittlern der drei untern Felsrippen; wir mochten uns nämlich nicht allzu sehr auf die Festigkeit der obern Schneedecke verlassen, rechneten aber darauf, dass der feste Stützpunkt der Felsen, sowohl die Bildung der Lawine verhindern, als auch, im Falle sie sich dennoch losriss, unsern Sturz aufhalten könnte. Jann band indessen meinen Bruder vom Seile los und hiess ihn oben warten, und während ich an das eine Ende festgebunden in den Fussstapfen Zweifels hinabstieg, liess er so lange das Seil um seinen tief in den F'irn gebohrten Stock gleiten, bis dessen Länge abgelaufen war und ich, auf seinen Zuruf, in dem von Zweifel zurecht gemachten Stand trat und nun, den eigenen Stock so tief wie möglich eintreibend, vom Seile losgebunden wurde, das wieder, von Jann hinauf gezogen, meinen Bruder gleich weit hinab geleitete. Sobald er bei mir angelangt war folgte Jann ebenfalls und das gleiche Manöver begann abermals, nur dass diessmal mein schon an dem Seil festgebundener Bruder voranging und ich nachfolgte. So lange man in Bewegung war, hatte diese Art zu reisen eigentlich nichts besonders Erschreckendes, da man seine Gedanken und seine Kraft ausschliesslich der augenblicklichen Arbeit zuwenden musste;

anders war es aber mit dem in seinem Stande oben harrenden Gefährten, der indess ruhig und nur auf die eigenen Beine und den eigenen Stock verlassen, dieser Reise zusah, fortwährend mit den Augen nach dem heinahe 4000 Fuss tief unter ihm liegenden Gletscher und in der freien Luft herumspähend. Ich gestehe, dass mir da während der mich treffenden Pausen verschiedene Gedanken kamen, welche die Annehmlichkeit der Reise nicht zu erhöhen geeignet waren, und dass mir der Augenblick jeweilen sehr erwünscht war, wo mir der Strick wiedev um den Hals geworfen wurde, so paradox diess auch für einen Nichtbergsteiger klingen mag.

Immerhin war diese Art des Niedersteigens der Situation ganz angemessen und die grösste Vorsicht geboten, denn nicht nur nahm die Steilheit der Hänge unterhalb der Felsen nicht ab, wie gehofft, sondern gegentheils zeigten sich einzelne Stellen, wo die Schneekruste nur sehr dünn war, so dass Führer und Geführte oft grosse Mühe hatten die Stöcke fest einzurammen. Item es ging Alles gut, wenn auch langsam, und nachdem wir etwa zwanzig Mal das geschilderte Experiment wiederholt, betraten wir mit grossem Behagen ungefähr um 12 Uhr Mittags, nachdem wir um 10 Uhr den Gipfel verlassen, die ersten Felsen und, obschon noch weit entfernt vom Standpunkte der absoluten Sicherheit, fühlte ich doch lebhaft eine wohlthuende Empfindung der Zuversicht in mir, denn bei der vorgerückten Tageszeit war mir einigermassen bange geworden vor den gefährlichen Geschossen unvorsichtiger Berggeister, denen wir durchaus nicht in der Lage In den Excursionsfjebieten von 1871 bis 1878.

gewesen wären uns zu entziehen. Eine lange und mühsame Kletterei folgte nun über die sehr mürben, unverlässlichen Felsen hinab und durch manch'eisbehängtes Couloir hindurch, bis wir endlich um 1 Uhr den festen, zusammenhängenden Gletscher unter den Fussen hatten, über den Zweifel und ich nun in langen Rutschpartien am Stocke rasch hinabsegelten, während mein Bruder, weniger mit dieser Beförderungsart vertraut, mit Jann langsamer nachrückte. Um halb 2 Uhr langten wir am Gletscherende an, froh der Siedhitze, die auf demselben herrschte, endlich entgehen zu können. Kurz vorher hatte uns noch der Anblick von fünf Gemsen erfreut.

Die Beschreibung des Marsches nach Disentis durch das lange und sehr langweilige Euseinthal wird man mir gerne erlassen und ich schliesse die Aufzählung der Erlebnisse dieses Tages, indem ich erwähne, dass wir in Disentis in der Post bei Condrau um ö3/* Uhr angelangt uns bei köstlichem Churer Gerstensafte so lange verweilten, dass es beinahe 10 Uhr war, als wir per Fuhrwerk das empfehlenswerthe Gasthaus von Lucas Caveng in Sedrun erreichten. Noch möchte ich an die Erwähnung unseres Abstieges vom Tödi folgende Bemerkungen knüpfen: derselbe soll nur von ganz geübten und kräftigen Bergsteigern unternommen werden und jedenfalls nur in Begleitung von durchaus zuverlässigen, erprobten Führern; ferner muss vor der Betretung der Zustand des Firnabhanges geprüft werden, um von dem Unternehmen abzustehen, falls derselbe nicht gänzlich beruhigend erscheint. Nut in noch nicht vorgerückter Morgenstunde darf man sich über solche Firnhänge hinunterwagen oder wenn man, wie es bei unserer Reise der Fall war, versichert ist, dass durch mehrtägige Regengüsse mit Föhn, der neue Schnee weggeschmolzen oder fest mit dem darunterliegenden Firne oder Eise verbunden ist.

Ich glaube ferner, dass es besser sei nach Passirung der drei Felsrippen sich in der Richtung nach dem Sandgrate nach rechts zu ziehen, wo der Absturz weniger rapid erscheint und man sich im Falle rascher ausser dem Bereich von Steinoder Eisfällen befindet.

Der Sonntag des 21. Juli begrüsste uns mit dem ganzen Glänze eines herrlichen Sommertages als wir, etwas spät. in dem braunvertäfelten heimeligen Esszimmer das Frühstück einnahmen und bald darauf um 9 Uhr das gastliche, wenn auch nicht gerade billige, Obdach des Caveng verliessen, um nach Ueb er schreitung des Rheins auf gutem Bergpfade durch das schön an sonniger Halde gelegene Dörfchen Surrhein ( über dem Rhein ) die Val Nalps zu gewinnen. Ich hatte diess langgestreckte einsame Bergthal voriges Jahr nur bei trübem Regenwetter von der Höhe des Nalpspasses geschaut und war nun eigentlich- überrascht von der hohen Lieblichkeit des Thales, dessen waldbedeckte Seiten in scharf ausgekerbten, schlossähnlichen Felsmauern gipfeln, von denen allerorts schlangenähnlich die langen Lawinenzüge herunterzüngelten, während der, erst waldbedeckte. Thalgrund in seinen mittleren höhern Abstufungen mit schwellenden Weidepolstern bekleidet ist, besäet mit zahlreichen H'eerden weiss-glänzender Kühe, munterer Rinder und grunzender Schweine. In tief eingeschnittener Schlucht aber braust und schäumt der junge, Rhein, froh aus der ihn in finstere Nacht einhüllenden Schneedecke entkommen zu sein, in stürmischem Laufe der Vereinigung mit seinen gleichnamigen Brüdern entgegeneilend.

Ein erquickendes Lüftchen kühlte die sonnerzitternde Luft und jubelnd stimmten wir ein in die von den Bergen erschallenden Jauchzer:

„ Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen, In Berg und Thal und Flur und Feld. "

Die ersten Maiensässe, Perdatsch, erreicht man nach einer starken Stunde auf angenehm abwechselnd auf- und niedersteigendem Pfade und nach einer weitern guten Stunde die Alp Nalps, wo wir bei den freundlichen, deutschsprechenden Sennen an mannigfacher Alpenkost uns erquickten. Um halb 1 Uhr verliessen wir diese Station um bald darauf über zwei ungeheure, den ganzen Thalkessel ausfüllende Lawinen zu schreiten. Der Wald blieb nun zurück und der ernstere Charakter eines rauhen Hochgebirgthales machte sieh um so mehr geltend, als immer mehr und mehr die grünen Weiden weitern Lawinenresten und Gerölltrümmern weichen mussten, und als wir um halb 3 Uhr im Schatten eines mächtigen Felsblockes einen kurzen Erfrischungshalt machten, befanden wir uns anscheinend inmitten der vollständigsten Gletscherwelt. Gegenüber erhob sich der wilde Piz del Laiblau, hinter uns Piz Serengia, thalauswärts bot sich uns der schöne Ausblick auf den Tödi, an dem wir mit einiger Befriedigung unsern gestrigen Pass aufsuchten; auch der Oberalpstock, das Scheerhorn und der Cambriales waren in Sicht.

Weiter schritten wir über die allmälig ansteigenden Schneefelder der Hütte Ufiern zu, die wir aber wahrscheinlich ohne die Angabe des Bergamasker Schafhirten nicht entdeckt haben würden, so tief Stack sie noch im Schnee; auch der innere Raum derselben war gänzlich damit ausgefüllt, so dass wir unsern Plan, in ihp unser Nachtquartier aufzuschlagen, sofort aufgaben. Von den Hirten und auch von unserm Wirthe in Sedrun wurde uns der Name dieser Alp mit « Inferno » ( Hölle ) angegeben und nicht Ufiern, wie sie unsere Karte, übrigens mit vollem Rechte benennt, da Ufiern das romanische Wort ist für Inferno.

Um nun, wenn auch nicht für heute, sodocli möglicherweise für den folgenden Tag den Piz Blas zu rekognosziren, stiegen wir an den steilen Schneehängen ziemlich weit hinauf, bis wir über dessen Zugänge einigermassen klar wurden und ein flinker Gemsbock, der bei unserm Nahen mit Windeseile bergan floh, wies uns noch ferner die praktikabeln Stellen.

Wir zogen uns nunmehr quer über die Halden hin nach dem Nalpspasse hinauf und stiegen dann noch vollends zu dem etwa 100 Fuss über der Passhöhe errichteten Steinmann hinan, bei dem wir um halb 6 Uhr, Abends anlangten. Die merkwürdig schöne Aussicht, die wir von diesem so leicht zu gewinnenden Punkte genossen, gewährte uns grosse Freude und ich kann wohl sagen, dass ich mich den ganzen Tag schon darauf gefreut hatte. Ich habe schon voriges Jahr diesen Punkt hervorgehoben und glaube sagen zu dürfen, dass nicht viele Passhöhen hinsichtlich der Aussicht mit dem Nalpspasse konkurriren werden.

Selbst unser schweigsamer Zweifel gerieth in einige Aufregung und meinte, da oben sehe man mehr und* schöneres, als auf manchem hohen Berge. Der Himmel war ausserordentlich rein und im Süden vom Piz Muccia und Rheinwaldhorn bis zur Fibbia am St. Gotthard, vom Bifertenstock bis zum Oberälpler im Norden lagen alle Bergspitzen in der wundervollsten Abendbeleuchtung glänzend klar vor unsern Augen. Yal Cadlimo aber, das grüne Hochthal, das ich 1871 durchwandert, lag tief zu unsern Fussen in weisses Leinen gehüllt, ein wahres Gletscherthal, seine sonst so klaren blauen Seelein mit Eis bedeckt; die sonst zu dieser Zeit mit wenigen Ausnahmen ( Campo Tencia, Basodino etc. ) gänzlich schneefreien Gebirge des Tessin ragten sämmtlich mit tief herabhängenden Schneemänteln bedeckt gen Himmel, ein zweites Sibirien. Darüber hinaus aber schweifte der Blick nach den kühnen Walliser Eisgebirgen hin.

Nach den zu so sehr vorgerückter Sommerszeit allenthalben noch angehäuften Schneemassen zu urtheilen; dürfte man keinen Fehlschuss thun, wenn man annimmt, dass heuer die Gletscher eine erhebliche Zunahme erleiden werden und dass, wenn noch ein bis zwei solcher regenreicher und sonnenarmer Sommer darauf folgen, manchenorts auch sich neue Gletscher bilden könnten. Es darf desshalb nicht auffallen, wenn manche Alpenwanderer in diessj ährigen Berichten etwa von Schneewüsten und ebenfalls auch von « Gletschern » sprechen, während frühere Besucher derselben Gebiete sich deutlich erinnern daselbst keinen Schnee getroffen zu haben. Wie wir gesehen, Stack beispielsweise Val Nalps bis wenigstens eine Stunde unterhalb Alp Ufiern noch tief im Schnee, während 1871 der Gletscher zur selben Zeit sich kaum mehr bis zu der auf der Karte mit 2400 angegebenen Grenze erstreckte.

Aehnlich fanden wir es in der Yal Cadlimo, in der nördlichen Thalmulde der Val di Campo und im Flussthale des Hinter-Rheins.

Ueber eine Stunde hatten wir uns auf dem herrlichen Nalpspasse aufgehalten und es war hohe Zeit nach Santa Maria aufzubrechen. So rasch wie es nur immer die missliche Beschaffenheit des schnee- und geröllreichen Abhanges gestattete, eilten wir dem Thalgrunde der Val Cadlimo zu; doch schon dunkelte es, als wir in dessen Tiefe anlangten und bevor wir noch die Fälle des Reno di Medels und damit das Thalende erreicht, war die Nacht völlig hereingebrochen. Nun folgte ein ausserordentlich ermüdendes und anstrengendes Auf- und Absteigen, Suchen und Verlieren der richtigen Bahn; zeitweise wies uns aus dem Thale hervorbrechender Lichterglanz unser Ziel, dann wieder verschwand er; durch dichtes knieeholies Alpenrosen-Gestrüpp mussten wir uns winden, über brausende Wasserstürze setzen; bald fiel man unversehens in ein Loch, bald stack man mit einem oder beiden Beinen in zähem Sumpfe; endlich waren alle diese Mühen überwunden und halb 10 Uhr Nachts langten wir. sämmtlich sehr müde und abgeschlagen, in dem bescheidenen Hospize von Santa Maria am Lukmanier an. Eine stark mit Fleischextrakt gewürzte Minestra di riso und guter Italiener halfen den Lebensgeistern wieder auf den Damm und um halb 12 Uhr begaben wir uns zur wohlverdienten Ruhe, die aber leider für mich etwas allzu knapp zugemessen wurde, da schon um 3 Uhr mein Spezialführer Jann mich wiederum weckte, um dem Piz Rondadura zu Leibe zu gehen.

Ich war in der That noch schrecklich müde, aber in lebhafter Erinnerung an die traurigen Erfahrungen meiner vorjährigen Nebelfahrten, wollte ich das schöne Wetter möglichst gründlich ausnützen und somit musste die grosse Versucherin, Trägheit genannt, einstweilen zurücktreten. Nach, Genuss einer währschaften Mehlsuppe brachen wir um 4 Uhr 45 Min. auf, im langsamst möglichen Tempo die grasbewachsenen Hänge des Rondadura in westsüdwestlicher Richtung hinansteigend. Mit meinen Geh- und Blasinstrumenten war es ganz schlecht bestellt und, zu meiner Schande muss ich es gestehen, am liebsten wäre es mir gewesen, wenn Jann erklärt hätte, dass bei den aufsteigenden Nebeln keine Hoffnung auf gute Aussicht sei und es besser wäre zurückzukehren. Glücklicherweise hatte Jann mehr Energie wie ich selbst und marschirte ruhig weiter. Auch der Gedanke, dass wenn ich diessmal die Besteigung unterlasse, ich kaum jemals wieder dazu kommen würde, gab mir neue Kraft. Nach l3/* Stunden wurde ein kurzer Halt gemacht und darauf der Schnee betreten, wobei ich dem Führer empfahl nur ganz kurze Tritte zu machen. Die Gehänge wurden steiler je weiter wir, stets in südlicher Richtung das Gebirge flankirend, nach oben vorrückten und endlich, nachdem wir den Berg nach Süden völlig umgangen, ging es so gäh aufwärts, dass Tritte in die gefrorne Schneedecke geschürft werden mussten. Nach kurzem Klettern über lose Fels- IGHoft'mimn-Burckhardt.

trümmer war um 8 Uhr 20 M. der Gipfel erreicht. Ein herrliches Panorama belohnte unsere Mühe. Der Piz Rondadura, 3019 M.= 10,063'hoch, ist der Grenz-und Hauptstock des mächtigen Zweiges des Granitgebirges, welches der Centralstock des St. Gotthard nach Osten aussendet und der sich nach Norden in mehrfache langgestreckte, vielgezackte Arme verzweigt, zwischen welchen die tiefgebetteten Thäler der Unteralp, Maigels, Cornera und Nalps liegen, deren durchschnittliche Höheneinfassungen zwischen 2900 bis 3000 m schwanken. Die höchste Erhebung bildet der Piz Ganneretsch mit 3043 m, der zweite ist Piz Blas mit 3023 m, der dritthöchste der Piz Rondadura mit 3019 m. Da dieser letztere aber der südöstlich am meisten vorgeschobene ist und gegen Süden und Osten gänzlich freisteht und der nach Westen gegenüberliegende nur vier Meter höhere Piz Blas in einer schmalen scharf zugespitzten Felspyramid'e gipfelt, während der 14 m höhere Ganneretsch schon durch seine grosse Entfernung den Blick nicht hindern kann, so erhellt daraus zur Genüge, dass auf diesem Punkte das Panorama ein besonders ausgedehntes sein muss. Bloss der 3200 m hohe Scopi vermag einen kleinen Theil der Rundsicht zu verdecken, glücklicherweise bloss den weniger wesentlichen. Der Himmel hatte sich vollständig gereinigt; nur gegen Süden bedeckte eine mächtige Wolkenbank alle niedrigem Tessinerberge, von denen bloss die lange weisse Firndecke des Basodino und des Campo Tencia daraus hervorguckten. Imposant dominirte nach jener Richtung der Monte Rosa, an welchen sich in glänzender Glorie der majestätische Firnkranz des Matterhorns, der

Mischabel, Weisshorn, Monte Leone anschlössen. Es folgen die Berner: Aletschhorn, Finsteraarhorn, das Lauteraar- und Schreckhorn, Mönch, Wetterhörner, Galenstock, die langgestreckte Kette der Winterberge, besonders schön der glänzende Firnrücken des hintern Thierberges, dann Sustenhorn, Spitzliberg, Titlis, Uri-Rothstock, Scheerhorn, Düssistock, der Tödi ganz imposant, Bifertenstock, Graue Hörner, Piz Medels, Linard, Plattenhörner, Cristallina, Scopi, Güferhorn, Rheinwaldhorn und Tambohorn, abgesehen von dem grossen Heere der « kleinen Leute », die weniger in 's Auge fallend, wie kleinere " Wellen im sturmbewegten Meere dem Bilde Bewegung und Leben gaben. Wir mochten von hier aus ganz wohl ersehen, dass die meisten der nähern Spitzen, Piz Blas, Ufiern, Laiblau u. s. w., ohne besondere Mühe zu ersteigen sind, da an Allen sich lange Schneezungen hoch hinaufziehen und das Gestein an sich schon dem geübten Kletterer überall erwünschte Stützpunkte darbietet. So viel bei den allenthalben die Bergflanken bedeckenden Schneemassen erkennbar, wird die Besteigung des Rondadura jedenfalls am ehesten auf dem von uns eingeschlagenen Wege bewerkstelligt werden, hingegen dürfte sie, obgleich mit etwas mehr Mühe, auch vom Passe Nalps aus und sogar von der Val Rondadura her möglich sein. Von einer frühern Besteigung fanden sich keine Spuren vor und wir errichteten desshalb einen gewaltigen Steinmann, der vom Hospize Santa Maria aus gut sichtbar ist.

Nach nahezu dreistündigem Aufenthalte verliéssen wir um 11 Uhr den hohen Standort und gewannen

2 in lustigen Kutschpartien über die gegen Val Rondadura steil abfallenden Schneehalden schon um 12 Uhr die ersten Weiden, um 12 Uhr 40 Min. das Hospiz von Santa Maria.

Mein Bruder Fritz war, eines geschwollenen Fusses wegen, mit Zweifel zurückgeblieben und sah sich leider genöthigt auf jegliche fernere Excursion vorerst zu verzichten.

Am 23. Juli Morgens 5 Uhr verliess ich mit Christian das Hospiz um meine Fahrten im Excursionsgebiete Von 1872 mit der Besteigung des Piz Scopi zu beginnen. Wer die Karte einigermassen studirt hat weiss, dass dieser 3200 m hohe Berg in steilen Halden gegen den Lukmanier abfällt und ich gestehe, dass die erste Stunde des Ansteigens über die thaugetränkten pfadlosen Rasenhalden Lunge und Sehnen gewaltig in Anspruch nahm. Unsere Wegrichtung war, nach Ueberwindung der jähen Waiden, der vom Punkt 2400 ansteigende geröllreiche Absturz, der zu dem schmalen Grate zwischen Piz Corvo ( 3000 m ) und dem Gipfel des Scopi sich aufschwingt; das Ansteigen in dem faulen feinen Schiefergetrümmer, welches unter jedem Tritte wich, gehörte zum Anstrengendsten der muhe-vollen Bergpartie. Glücklicherweise fand sich der letzte Theil des Gufers mit gutem Schnee bedeckt und um 8 Uhr befanden wir uns auf der Höhe des Grates, von dem aus eine schöne Aussicht über die Tessiner und Walliser Gebirge uns erfreute. Nach kurzem Halte setzten wir unsern Weg fort, uns stets auf der äussersten Schneide des Grates haltend, denn abermals bedeckte das abscheuliche Schiefergestäube die Höhe, abwechselnd mit einzelnen Felsköpfen, die aus scharfen Platten bestehend, mit jhren spitzen Kanten sich schmerzend in Hand und Kniee einbohrten.

Um 9 Uhr, also nach vierstündigem anhaltendem Steigen war die Höhe erreicht, ein kleines Steinmannli krönte sie, doch wurde uns über frühere Besteiger keine Kunde, die, wahrscheinlich früher Zeddel enthaltende, Flasche fand sich zerschlagen und deren Inhalt mochte ein Spiel der Winde geworden sein. Spuren von Säugethieren aber fanden sich vor in Gestalt von guterhaltener Hasen-losung und einer Spitzmausmumie. Die Aussicht war nur theilweise klar, für uns aber namentlich interessant durch den genauen Ausblick nach dem Güferhorn und dem Rheinwaldhorn, deren glänzende Firnfianken wir um so genauer studirten als dem einen oder andern derselben für- den folgenden Tag ein Besuch zugedacht war. Es ist hier der Ort eine unrichtige Angabe zu korrigiren, deren ich mich in meiner letztjährigen Beschreibung der Reise durch Val di Campo schuldig gemacht und wobei ich die Ansicht ausgesprochen, der Scopi möchte von diesem Thale aus in kürzester Zeit -zu ersteigen sein. Diess wäre allerdings wohl möglich, namentlich wenn man sich die Mühe nicht verdriessen Hesse von der Höhe des Ueberganges nach Santa Maria an den Felsen des Pizzo Corvo hinaufzuklettern und und von dort aus alsdann mit wenig Mühe den Gipfel zu gewinnen; sonst aber wäre die Besteigung von Val di Campo aus eine etwas zeitraubende und für viele vielleicht abschreckende, indem nur noch derjenige Zugang bleibt, den wir zu unserer Tour nach Olivone wählten und der nicht Jedermann passen dürfte.Von Campo, und eigentlicher noch von den Monti Orsëra aus, zieht sich ein kleines Alpthal gegen den Scopi hinauf, eingeschlossen nach Norden durch die Felsen der « La Bianca » 2669 und 2894 m und nach Süden durch die nördlichen waidebedeckten Böschungen der Val di Campo mit der Höhenangabe von 2459 und 2554ni deren vergletscherter Hintergrund von 2660 an rasch gegen den Scopi ansteigt, welcher in beinahe senkrechtem, vielfach zerklüftetem und zerrissenen Abstürze hier direkt von der Höhe in dieses Firnbecken abfällt, in einem Sprunge von beiläufig etwa 400ni.

Ueber diese Felsen hinab stiegen wir nun, nachdem wir uns überzeugt, dass nach jeder anderen Richtung unser Weg sich erheblich verlängern musste. Das einzig Unangenehme war übrigens dabei die fatale bröcklige Beschaffenheit des Gebirges, welche zur grössten Vorsicht mahnte bei der Bewegung von Hand und Fuss; schwindlich durfte man allerdings nicht sein, denn bei den jeweiligen Uebergängen von einer Felsrippe oder Rinne zur andern tauchte der Blick öfters immédiat in 's Leere; doch mit einiger Vorsicht und Geduld liess sich Alles überwinden und nach etwa ll/2 stündigem, Klettern war der Gletscher glücklich erreicht und rasch schritten wir über dessen theilweise noch wenig erweichte Decke. Bis gegen die Alp Boverina ( Stierenalp ) war noch Alles tief mit Schnee bedeckt und kaum an einzelnen Plätzchen streckten die Soldaneilen ihre lieblichen Glöckchen aus dem modrigen Boden hervor. Ueber Punkt 1520 stiegen wir hinab nach den Monti Orsera, Calcherida, Pianchera und Campo, wo sich die Wege nach vier Richtungen scheiden, erstens nach Olivone im Süden, dann nach West in die Val di Campo woher wir kamen, ferner nach Nord durch die rauhe Val Camadfa nach den Gebieten von Medels und Gallinario und nach Ost durch die Val Luzzone nach den verschiedenen Thälern des Vorder-Rheins, zunächst auch nach den Piz Gtida, Terri und Scherboden.

Man sieht hieraus, dass das Dörfchen Campo ein äusserst günstiger Knotenpunkt ist für die verschiedenartigsten Excursionen, freilich wäre es vor Allem aus sehr wünschenswerth, dass die Civilisation einigermassen hiezu ihre Vorarbeiten träfe und, dem Herrn Pfarrer in Campo ausschliesslich die seelsorgerische Thätigkeit überlassend, wenigstens eine bescheidene Osteria daselbst etablirte.Von Campo aus verfolgten wir den romantischen Weg durch die schauerliche Schlucht, in der in wilden Sprüngen der Brenno schäumend sich zu Thale wirft, nach dem überaus freundlich und lieblich inmitten frischgrüner Wiesen gelegenen, von Obstbäumen aller Art beschatteten Olivone, wo der freundliche Willkomm und die gute Pflege der braven Signori Bolla uns für diesen Abend alle Mühen vergessen liessen.

Am folgenden Morgen war wieder frühzeitig Appell und schon um halb 4 Uhr bei kaum grauendem Tage stiegen wir den steil in unendlichen Zickzack's nach Val Carassina hinaufführenden Pfad hinan. Da Herr Dr. W. Bernoulli dieses Thal im letzten Jahrbuche, pag. 122 und 123 Band VII schon sehr einlässlich geschildert hat, so darf ich mir erlauben mich nicht länger dabei aufzuhalten und bitte meine Clubgenossen sich in einem Sprunge von 3'/2 Stunden an die Felsterrassen zu versetzen, die gegenüber der Alp Bresciana in mehreren Abstufungen nach dem gleichnamigen Gletscher sich hinanziehen.

( Ich muss hier einschalten, dass die Blätter Olivone und Biasca unserer Excursionskarte noch nicht in meinem Besitze waren und ich mich blos der viel weniger deutlichen Karte des nördlichen Tessins bediente ). Unser Projekt war eigentlich dahin gegangen schon bei der Alp Cassimoi links aus dem Thale abzuschwenken und über die Bocca di Fornei nach dem Lentagletscher und von diesem auf das Güferhorn zu gehen; aber ohne daran zu denken waren wir im Gespräche bis zu unserm gegenwärtigen Standorte gelangt und um nicht wieder einen Theil des Weges zurück zu machen, wählten wir nun das Adulajoch als Uebergangspunkt nach Hinter-Rhein. lieber steile Rasenböschungen hinan und durch ein trockenes Bachbett, hinaufkletternd befanden wir uns um 9 Uhr 20 Min. am untersten Gletscherrande der, verschwenderischer-weise, mit dem besondern Namen von Ghiacciaja di Casiletto bedachten, zum Brescianagletscher gehörenden kurzen Eiszunge und hier wurde nun nach dem fünfstündigen Marsche der erste längere Halt gemacht. Einen interessanten Ausblick gewährte uns der Sattel zwischen Val Carassina und Val Soja nach unserm vorjährigen Simanojoche und der Alp Pianpremesti oberhalb Dangio. Um 10 Uhr begannen wir unsere Schneewanderung indem wir den Casilettogletscher betraten, über den wir ohne fernem Halt ziemlich steil anstiegen, bis wir um 12 Uhr den hohen Firnsattel erreicht hatten, der bei Punkt 2997 den Uebergang nach der weiten Schneewüste des Brescianagletschers vermittelt, an dessen südöstlichem Ende die glänzende Firnkuppe des 3398 m hohen Rheinwaldhornes uns begrüsste.

Nach kurzem Halte zogen. wir uns in einem schwachen Bogen, um die gegen Süden abfallende Senkung des Gletschers zu umgehen, unterhalb des Grauhovnes ( 3260 m ) hindurch dem Adulajqche zu. Nach drei Viertelstunden ungemein ermüdenden Marsches in tiefem weichen Schnee war das Joch erreicht und wir sahen hinab nach dem mächtigen Rheinwaldfirne und dem lentagletscher, gegenüber lag die Lentalücke, mit dem Adulajoche durch einen östlich steil abfallenden Schneegrat verbunden und darüber erhob sich als scharfe, firngekrönte Felspyramide das 3393 m hohe Güferhorn. Drei Gemsen flohen eben in beneidens-werther Eile über den obern Lentagletscher nach dessen Fluhsätzen zu. Um 1 Uhr begannen wir das Ansteigen nach der letzten Höhe und kurz ,vor zwei Uhr standen wir auf dem Gipfel des Rheinwaldhornes. Wir waren also mit Abrechnung von etwa ll/2 Stunden ziemlich ebenen Gehens im Carassinathal und ungefähr ll/i Stunden auf die verschiedenen Halte gerechnet, während 7r/i Stunden gestiegen um uns von Olivonö mit 893 m bis auf das Rheinwaldhorn 3398 m zu erheben, also um 2605 m in 71/2 Stunden oder 334 m per Stunde, somit etwas mehr als die gewöhnliche Annahme von 300 m per Stunde. Die Aussicht war leider sehr durch die aufgestiegenen Nebel beschränkt und wir mussten uns mit der nächsten Umgebung begnügen. Nach der gewonnenen Umschau zu urtheilen scheint mir, dass die Besteigung des Rheinwaldhornes jedenfalls von der Clubhütte aus bequemer und kürzer ist als aus dem Carassinathale und so auch von der Lampertschalp aus über die Lentalücke; da- gegen kann der Uebergang über das Adulajoch und den Bresciana- und Casilettogletscher nach Val Caras-siria oder über den Brescianapass nach Val Soja als sehr interessant empfohlen werden, um so mehr noch, da auf diesem " Wege der höchste Pass der ganzen Gegend ganz leicht mit der Besteigung des einen der beiden höchsten Gipfel ( Güfer- oder Rheinwaldhorn ) verbunden werden kann.

Das Gttferhorn kann von der Lentalücke aus erst über Fels und dann über den schön gewölbten nach Nordwest gegen den Lentagletscher abfallenden Firnrücken hinauf anscheinend ohne besondere Mühe bestiegen werden.

Um 3 Uhr verliessen wir den Gipfel des Rheinwaldhorns, gewannen in einigen Rutschpartien bald wieder die Einsenkuag des Joches und in raschem Abstiege die Tiefe des untern Rheinwaldfirnes, den wir erst oberhalb seines Absturzes verliessen, um an dessen linken Ufer unterhalb der Plattenschlucht über prachtvolle Rundhöcker hinauf zu steigen und bald darauf wieder über Felsen und Grasbänder hinunter nach der neu errichteten Klubhütte zu gelangen, die wir um 51/* Uhr erreichten. Wir können der Sektion Rhätia das Zeugniss geben, dass die Hütte ebenso schön wie praktisch gebaut ist, von angenehmer Grosse, hoch und bequem, mit breiter erhöhter Pritsche, Tisch, Bank und Koch-heerd. Nachträglich vernahmen wir von einem zuverlässigen Clubisten, die Pritsche sei etwas kurz gerathen, welchem Uehelstande ohne grosse Mühe könnte abgeholfen, werden. Es schiene mir auch angezeigt, den Weg von der Hütte aus nach dem Gletscher auf deutliche Weise ( durch einen Wegweiser z.B. ) anzugeben,

indem sowohl der Hin- als auch besonders der Herweg vom Gletscher zur Hütte schwer zu finden ist, besonders bei einbrechender Nacht. Nicht lange verweilten wir daselbst, sondern eilten, so rasch es bei dem etwas misslichen und an einigen Stellen nicht ganz ungefährlichen Wege möglich war, weiter. Statt den gewöhnlichen Weg nach der Schafalpe zu verfolgen, stiegen wir vollends über die gäh abfallenden Grasplanken, zum Rheinbette hinunter und unsere zuversichtliche Annahme, dass der Fluss noch tief unter Lawinenschnee bedeckt sein müsse, täuschte uns auch nicht. Bis ungefähr eine Stunde vor Hinter-Rhein wanderten wir unausgesetzt über Schneebrücken, von deren kolossalen Dichtigkeit man sich einen leisen Begriff-machen kann, wenn ich erwähne, dass wir an einem vorstehenden Felsen, von dessen Wänden sich der Schnee abgelöst, nach der Schätzung von Jann in eine Tiefe von wohl 70 und mehr Fuss hinunterblickten. Dass diese ungeheuren Schneemassen dieses Jahr noch gänzlich abschmelzen könnten, glaube ich nicht annehmen zu dürfen, um so weniger da, wo sie auf lange Strecken mit Erde und Felstrümmern bedeckt sind, wie es hier der Fall ist und wo also der Einfluss von Luft und Sonne weniger kräftig wirken kann. Um halb 9 Uhr Nachts langten wir in Hinter-Rhein bei Lorez zur Post an und freuten uns schon zum Voraus auf den durch die Strapazen der letzten Märsche wohlverdienten morgigen Ruhetag.

Auf den schönen und in beschaulichster Ruhe, theils in Hinter-Rhein, theils in dem von Fremde« wimmelnden San Bernardino, zugebrachten Tag des 25. Juli folgte ein ebenso köstlicher Abend, den wir dazu benutzten per Post auf der oft schaurig kühn angelegten Kunststrasse, in vollen Zügen uns am Anblicke der prachtvollen Gegend weidend, nach Mesocco hinab zu fahren, wo wir im Albergo délia Posta ebenso freundliche als gute Unterkunft fanden.

Bevor die Nacht eintraf machten wir noch einen Spaziergang nach der alten Burgruine Castelloro, die ungefähr eine halbe Stunde unterhalb Mesocco linker Hand auf einem kleinen Hügel gelegen, bis weit hinab die Aussicht über das Thal beherrscht. Da es nicht in meiner Absicht lag im Val Mesocco tiefer hinab zu steigen, sondern über den Passo di Tresculmine wohl richtiger « dei Tresculmini », ( drei Gipfelpass ) in 's Calancathal hinüber zu wandern, so bot mir der Standort auf Castelloro einen erwünschten Punkt um, nach der weiter oben geschauten Thalstrecke, auch einen Begriff zu erhalten von dem Charakter eines grossen Theiles des untern Thales und ebenso bot mir die Begehung des Calancathales von Valbella abwärts Gelegenheit, mit Ausnahme des wenig interessanten obersten Theiles desselben, so zu sagen das ganze Thal kennen zu lernen und ich erreichte durch diese Eintheilung der Eeise meinen Zweck beide Thäler zu sehen ohne zwei volle Tage darauf verwenden zu müssen.

Am 26 '. Juli verliessen wir Mesocco schon früh 33/i Uhr und stiegen vom nördlichen Dorfende nach links ausbrechend in der Morgenkühle auf gutem Pfade an den jäh aufstrebenden Waideplanken hinan, die uns über die Monti Ceta ( Maiensässe ) und die Alpi di Curtasso in schattigen Buchenwald geleiteten, der,

bald in ein freundliches Lärchengehölz übergehend, sich um einen Ausläufer der Cima di Garigella herumwindet und in den geröllbedeckten Hintergrund des kleinen Thälchens führt, durch welchen der leicht zu findende Pass nach der, auf der Westseite der Höhe gelegenen, zu Mesocco gehörenden Alp Tresculmine führt. Ein sonderbares Naturspiel gewährten wir hier an einem am Boden liegenden Lärchen stamme von 60 bis 70 Fuss Länge, der von unten bis oben spiralförmig um sich selbst gewachsen war, so, dass auf .je circa 6 Fuss Länge eine Drehung kam und der ganze Baum aussah wie ein gewaltiger Peitschen stock, wie selbe, aus zähem Eschenholz gedreht, häufig von den Fuhrleuten gebraucht werden.

Auch hier fand sich trotz der bedeutend nach Süden vorgerückten Lage der Hintergrund des Thälchens noch mit tiefem Lawinenschnee bedeckt. Schon um 7 Uhr 20 Min. war der Höhepunkt des Passes erreicht und vor uns breitete sich ein weiter Felsencircus aus, rechter Hand eingeschlossen von den Cime di Bedoletta und di Tresculmine, links vom Fil di Ciaro und der Cima di Gangella, nach Westen, also gerade uns gegenüber, aber scheinbar geschlossen durch den scharf gezackten mauerähnlichen Grat der Pizzi di Pianasso und della Marcia, zwichen welchen der Passo di Remolasco ( 2650 m ) aus dem Calancathale nach Val Blegno hinüberführt. Beim Anblick dieser Lücke fiel es mir eigenthümlich auf, mit wie merkwürdiger Regelmässigkeit in diesen südlichen Thälern sich die Querjoche durch drei bis vier Höhenkämme hindurchziehen; es ist wie wenn die Natur bemüht gewesen wäre durch diese, Meridian- thäler eigentliche Längsthäler zu reissen ohne ihre Absicht vollständig zu Ende zuführen;

oder sollte es blosser Zufall sein, dass vom Thale St. Giacomo bis zum Blegnothale der Passo di Balniscio, dei Passetti und di Revio, der Passo di Pardan, di Tresculmine und di Remolasco, der Passo della Forcola, di Ganano und di Giumella sich jeweilen entsprechen? Ich muss die Erklärung dieser interessanten Erscheinung den Forschern vom Fache überlassenund fahre in meiner Erzählung fort.

Nach halbstündigem Aufenthalte verliessen wir die Passhöhe und stiegen nach der Alp Tresculmine hinunter, die noch nicht bezogen war und von welcher der, auf unserer Karte nicht bezeichnete, bis zur ganz unbedeutenden mitten in einem Walde gelegenen Alp Casinott ( kleine Hütte ) führende Gaispfad etwas schwer zu finden ist. Die enge und finstere Schlucht, welche bei Valbella in 's Hauptthal mündet, ist bis hoch hinauf mit prächtigem Lärchenwalde bewachsen, in ihrer Tiefe aber verbirgt üppiges Erlengebüsch ( sogen. Tros)r sowohl den Lauf des wildbrausenden Baches, als auch mancherorts die unscheinbaren Spuren des schmalen Pfades. Man wird daher wohl am besten thun von der Alp Tresculmine hinweg sich an der rechten Thalseite hinabzuziehen, während wir; uns an das linke Ufer haltend, erst nach vieler Mühe und zweimaligem Ueberschreiten des Baches nach der Alp Casinott gelangten.

J ) Professor Rütimeyer in Basel sagt, es seien eben gerade die Ueberreste ehemaliger das Plateau durchsetzender Längsthäler, eine Erscheinung, die im Jura sich des öftern wiederholt.

Ein einziger alter Senne bewohnt sie und regiert bloss über vier Kühe und eine beschränkte Anzahl Ziegen. Was und wo die Ersteren zu fressen kriegen ist, mir nicht klar geworden, ringsum sah*man bloss Steine und Bäume. Die Ziegen aber besorgen, wie es auch anderwärts vorkommt, die Forstpolizei.

Von Casinott aus führt ein deutlich kenntlicher, wenn auch sehr primitiver Fussweg, meist durch schattigen Wald, hinaus nach dem Sommerdorfe Valbella, das man in Zeit einer halben Stunde, nach Ueberschreitung einer kühnen Holzbrücke, erreichen kann. Man geniesst von den Felsen oberhalb der Brücke einen interessanten Ausblick nach dem wilden Hintergrunde des Calancathales, welches am bequemsten in nur 4—5 Stunden von San Bernardino aus über den Passo dei Passetti erreicht werden kann. Um 10 Uhr langten wir in Valbella ( zu deutsch « im schönen Thale », ein etwas hochtönender Name für eine enge Thalschlucht ) an und fanden die Bewohner in voller Beschäftigung mit der wichtigen Heuernte. Dass es für einen deutschredenden Clubisten nicht ängstlich ist mit dem Reisen in jenen Gegenden, bewiesen uns gleich die ersten drei Männer, welche wir in dem Thale antrafen und die uns sofort in geläufigem Schweizerdeutsch begrüssten. Einer war als Glaser, der andere als Chocoladier und der dritte als Taglöhner in der Schweiz herumgekommen und so wird man sowohl in den italienischen Bündnerthälern als auch im Tessin ziemlich überall Leute treffen, die deutsch oder französisch sprechen. In Valbella befindet sich eine kleine Osteria, die wir indessen nicht aufsuchten, welche aber zweifelsohne nur den bescheidensten Ansprüchen genügen könnte.

Der Fuss- oder Saumweg, welcher durch den obern Theil des Thales führt, lässt sehr viel zu wünschen übrig; er ist steinig, schmal, oft ausserordentlich steil und schwer praktikabel bis nach Rossa, von wo an ein recht ordentlicher, wenn auch nicht'gerade durchweg gut unterhaltener Fahrweg durch das ganze Thal hinaus führt.

Von Valbella an ist das Calancathal in unserm diessjährigen Itinerarium so einlässlich und so vortrefflich geschildert, dass es eine blösse Wiederholung wäre, wollte ich darüber noch ferner berichten; ich beschränke mich daher darauf meinen Collegen die Wanderung durch dieses in so mannigfacher Beziehung sehr interessante Thal bestens anzuempfehlen und erwähne dabei besonders gerne des freundlichen Empfanges bei dem deutsch und französisch redenden Wirthe in Augio, Signore Roneo, an dessen guten Wein und köstliche Forellen ich noch lange dankbar mich erinnern werde und dessen gastliches Dach wir erst nach 4 Uhr verliessen, als »die grösste Hitze vorüber war. Ueber Santa Domenica erreichten wir nach l1/? Stunden Arvigo, wo ich im Gasthause bei der Säge ausserhalb des Dorfes abermals anhielt um die Bekanntschaft des sehr freundlichen und zuvorkommenden, deutschsprechenden Revierförsters Schmidt zu machen und von wo aus wir uns auf dem Bergwägelchen des Wirthes Denicola nach Grono und Roveredo bringen liessen, was ich aber männiglich uns nachzumachen auf 's Dringendste abrathe, indem dadurch höchstens eher ein Bruch oder eine Gehirnerweichung, keinenfalls aber Zeit gewonnen wird.

Ausserordentlich schön und grossartig ist der Blick von der Höhe des Thalausgangea oberhalb der endlosen Zickzacks, welche die Strasse beschreibt um die Thalsohle zu erreichen. Zur rechten Hand schäumt in unergründlicher Tiefe die Calancasca, im Thalgrunde glänzen die freundlichen stadtartigen Häuser von Grono nnd etwas entfernter jene von Roveredo, im weiten Thale strömt die wilde Moësa in breitem Bette, da und dort im Uebermuthe dasselbe ungestüm überspringend, das Ganze umrahmt von einem dunkeln. Kranze bewaldeter Berge. In Roveredo um halb 8 Uhr angelangt, fanden wir leider die Post nach Bellinzona bereits abgegangen und passirten die Nacht in dem empfehlenswerthen Gasthause zum Engel..

Den 27. Juli um 6 Uhr fuhren wir nach Bellinzona, verliessen es aber schon um 10 Uhr wieder und kutschirten nach Gordola um von da aus dem Ver-zascathale einen Besuch abzustatten und sodann über den St. Gotthard zurückkehrend meine Excursionen für dieses Jahr zu beschliessen, da ich in Bellinzona Briefe erhalten hatte, welche mich bestimmten meine Reise etwas abzukürzen und auf den Besuch der Yal Bavona, des Basodino und des Piz Campo Tencia zu verzichten.

Einen wahrhaft überraschenden Anblick gewährt bei der Brücke von Tenero der, aus tief gebohrter Felsenrinne hervorbrechende, Yerzaseafluss, wie er, kaum den eng einschliessenden Felsmauern entronnen mit unbändiger " Wuth über und durch die mächtigen, seinen Lauf hemmenden Kalkfelsen seinen'Weg er- zwingt und sie durch die Gewalt seiner Fluthen in die merkwürdigsten Formen ausgewaschen hat.

Bei Gordola, unweit von Locarno, zweigt sich die sehr schöne und gut unterhaltene neue Fahrstrasse von der grossen Poststrasse, die von Bellinzona nach Locarno führt, ab und zieht sich in mehreren weiten Zickzacks bis zur Höhe der ersten Thalstufe hinan, fällt aber dann wieder etwas bis Lavertezzo und steigt durch das ganze etwa 6 — 7 Stunden lange Thal bis weit hinter Sonogno überhaupt durchschnittlich um keine 2 °/u l ), gewiss eine merkwürdige Erscheinung. Der Typus der Val Verzasca bis beinahe nach Frasco hinein ist denn auch durchaus ein südländischer; bis hinter Gera stehen die schönsten Kastanienbäume; im Pfarrgarten zu Sonogno gedeihen Bohnen und andere Gemüse, ja sogar Kirschlorbeer und Blumkohl wird darin gepflanzt und Ahorne kommen noch in der Nähe der Alp Vogornesso vor. Die Hitze war denn auch ganz der südlichen Lage des Thales und der Jahreszeit entsprechend und nachdem von Gordola aus die Höhe der Thalstufe zu Fusse gewonnen war, bestiegen wir recht gerne wieder unsern Einspänner, der uns bis Lavertezzo fahren sollte. Die neue Strasse führt, stetsfort an der linken Thalwand sich hinziehend, bis Brione und überspringt in ihrem Laufe auf mehreren

) Die Kirche von St. Bartolomeo, auf der Höhe nahe des Thalausganges gelegen, liegt 600 m über dem Meer, Lavertezzo 540, Brione 761, Traseo 873, Sonogno 909. Die Distanz beträgt von St. Bartolomeo bis Alp Vogornesso, wo erst die eigentliche Steigung beginnt, circa 33,000 m. Die Steigung nflacht also bloss circa 1 °/0 aus.

kühngebauten Brücken die einmündenden Seitenschluchten. Besonders » schön ist der Blick hinab nach dem, im tiefen Bette rauschenden Bache, dessen Wasser mir durch seine merkwürdige und je nach der bedeutenderen oder unbedeutenderen Tiefe, heller oder dunkler olivengrüne Farbe auffiel, sowie auch durch seine vollkommenst denkbare Durchsichtigkeit. Durch dieselben Eigenschaften hatte mich vor mehreren Jahren das Wasser der Maggia im obern Theile ihres Thales überrascht, nur möchte ich behaupten, dass dasjenige der Yerzasca die Maggia noch an Klarheit und Intensität der Färbung überbietet; woher kommt diese prächtige Farbe und, diese, andere Bergwasser übertreffende, Durchsichtigkeit? Bald nachdem wir den Thaleingang hinter uns hatten, erblickten wir an der jenseitigen rechten Thalwand die kühn angelegte, schwindelnd hoch über dem Abgrund sich schlängelnde Strasse, die nach dem hoch gelegenen Mergoscia führt, am Ausgange der düstern Valle di Mergoscia gelegen und kurz darauf kamen wir bei S. Bartolomeo, der Kirche des etwas oberhalb der Strasse gelegenen Dörfchens Vogorno vorbei; etwa einfe Viertelstunde weiter hinein liegt, wieder auf dem andern Ufer, reizend zwischen Bäumen versteckt, Gorippo ( oder €orippo ) und nach kurzem Marsche langen wir in dem Hauptorte des Thales, dem freundlichen Lavertezzo an 1 ), drei kleine Stunden von Gordola entfernt, wo-

. ' ) In dessen Nähe der Weiler Eancone, woselbst sich nach Lavizzari ein Weinstock befinden soll, der bis in die Höhe von 4 Meter einen Umfang von 1,4 m hat und dessen Zweige eine 14 m lange und 9 m breite Laube bedecken.

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selbst wir in der säubern, recht ordentlichen Osteria bei Pietro Pometta ein bescheidenes, aber genügendes-und sehr freundliches Unterkommen fanden. Dieses Gasthaus führt keinen Schild, ist aber leicht zu finden, da es das letzte Haus des Dorfes auf der linken Seite ist; ein anderes Gasthaus gehalten von einem gewissen Jona, liegt am Eingange des Dorfes rechts bei der Post, es soll eher besser aber ziemlich theuer sein. Die hübsche Kirche von Lavertezzo steht sehr schön auf einer Terrasse über dem Dorfe und enthält einen Hochaltar mit interessanten Marmorvarietäten. Ausserhalb des Dorfes führt eine Brücke, halb von Holz halb von Stein, in zwei Sprengungen über den Fluss-nach der rechten Thalseite. Die hohe Felspyramide an deren üppig bewachsene sonnige Halde Lavertezzo sich anlehnt wird hier Foppia genannt und die nach Lavertezzo abfallende Seite noch spezieller Solina, der thalauf sich rechts hinziehende Gebirgskamm ist die Cima della Motta. Um halb 4 Uhr brachen.wir auf und spazierten bedächtigen Schrittes in grösser Hitze auf der staubigen Landstrasse thalaufwärts. Eigentliche Dörfer kommen* nun bis Brione keine mehr vor, man passirt den Weiler Ciosetta und bald darauf hört vorläufig die Kunststrasse auf, die aber bis zum nächsten Jahre wohl vollendet sein wird, da mit Macht an der grossen Brücke gearbeitet wird, die in gewaltigem Bogen eine Viertelstunde unterhalb Brione die Verzasca und damit so zu sagen das ganze Thal überspannt. Nachdem auch noch der aus der öden Val di Osola hervorschäumende, am Monte Zucchero entspringende, Bach überschritten ist, langen wir in Brione an, einem in weitem, grossentheils von Ueberschwemmungen und Rufen verheerten Thalgrunde liegenden alten Neste, mit anscheinend stattlicher Kirche, am Fusse des Monte Rasia gelegen.

Von den kleinen grünen Terrassen der Thalwände grüssen allenthalben freundliche Häuschen herab und bis hoch gegen den Gebirgskamm hinan steigt das Laubholz, wahrscheinlich Ahorn, empor. Von Brione an ist die vorherrschende Gesteinsart der Granit, während mir bis dahin der Kalk zu dominiren schien, der Thalgrund ist aber schon bis Brione hinauf mit einer solchen Masse von Granitblöcken bedeckt, dass man sich über die Gebirgsart leicht täuschen könnte; und auch zu den Kunstbauten des Thales haben Granitfindlinge das meiste Material geliefert. Eine Viertelstunde von Brione thaleinwärts folgt auf der linken Thalseite das von einem Bergsturze grossentheils verwüstete Aldasca und eine halbe Stunde weiter an der, von Brione an auf der linken Seite des Thales weitergeführten Strasse, das « kleine Gera, in einem wahren Walde von Eschen, Nuss- und Kastanienbäumen und Ahornen. Eine kleine Viertelstunde hinter Gera sprudeln am Strassenborde zwTei reiche Quellen hervor, auf die ich durstige Wanderer gerne aufmerksam mache und auch wir versäumten nicht an der schönen Gottesgabe uns zu erquicken. Bald erblickten wir das von weitem ansehnliche Frasco auf der linken Seite des Baches ( etwa 5 Viertelstunden von Brione entfernt ) und liessen uns verleiten unsere Schritte dahin zu lenken, während man eigentlich besser thut dem geradeaus führenden Fusspfad zu folgen, der schliesslich auf guter Brücke weiter oben den Bach überschreitet und direkt nach Sonogno führt.

In Frasco hält Stefano Lesnini eine bescheidene Osteria mit zwei bis drei Betten, die jedoch schon sämmtlich von Strassenarbeitern in Anspruch genommen waren und beim Signor Curato war ebenfalls kein Platz, da er für den morgigen Festtag Gäste erwartete. So zogen wir denn fürbass und langten nach einigem Herumirren in dem Gewirre von Steintrümmern, die allenthalben das hier ziemlich breite Thal bedecken, über einen etwas bedenklichen Steg kurz nach 7 Uhr in dem, an der letzten Gabelung des Verzascathales gelegenen, hintersten Winterdorfe Sonogno an. Hier theilt sich das Thal nach West in die wilde Yal Re-dorda, und setzt nach Nord, später ebenfalls westlich verlaufend, nach der Val di Cabione fort. Die von Frasco aus sich nach Osten hinziehende Val d' Efra ist eigentlich, soviel aus dem Thale ersichtlich, bloss eine kurze in einen weiten, mit hohen Felsmauern umgebenen Thalkessel einmündende Schlucht. Obschon in Sonogno eine kleine Osteria von einem gewissen Giovanni Sonognini gehalten werden soll, zogen wir doch vor uns gleich an den uns als gastfreundlich empfohlenen Curato zu wenden, der auch, oder vielmehr dessen bejahrte Haushälterin, wirklich Alles zu unserer Verfügung stellte, was das bescheidene Presbyterium bieten konnte. Ich erhielt das grosse zweischläfrige Gastbett angewiesen und mein Jann dasjenige der Köchin, unser Nachtessen aber bestand aus einem kräftigen Eierkuchen und einer Flasche guten Landweines.

Bei prächtigem Wetter verliessen wir Sonntag den 28. Juli früh 41/* Uhr ohne Frühstück das stille Pfarrhaus nach Berichtigung der sehr bescheidenen Rechnung und wanderten auf holprigem Pfade, der oft tief in das Bachbett eingreift, in das immer enger werdende Thal hinein.

Nach halbstündigem Marsche wird der Bach überschritten und man stösst auf die Monti di Vogornesso, von welchem aus ein Pass über die Alp Oognara und unter der Cima Bianca durch, nach der Alpe del Lago ( mit kleinem See ) und hinunter nach Val Chironico führt. Nach abermaligem Ueberschreiten des Wassers steigt endlich der Weg an und mündet in den hintersten, von hohen Felsenwällen umgebenen Thalkessel, in welchem zwei Alphütten, Corte di Fondo, in geringer Entfernung von einander gelegen sind. Der am Eingange in dieses Hochthälchen von Terrasse zu Terrasse hinabschäumende Bach bildet mehrere hübsche Fälle in Fächerform, indem das Wasser in auffallend gleichmässiger Vertheilung über breite glatte Felsplatten hinabstürzt.

Gleich in der ersten der beiden Sennhütten wurden wir sehr freundlich aufgenommen und bewirthet, wie ich denn überhaupt der auch auf dieser Reise genossenen tessinischen Gastfreundschaft nicht rühmend genug erwähnen kann.

Es lässt sich von hier aus, mit etwas jäher Steigung zwar, aber soviel ersichtlich ohne besondere Schwierigkeit durch eine deutlich markirte Lücke bei Punkt 2343, von Corte di Fondo in nordwestlicher Richtung ansteigend nach Val di Campala und Maggia hinüber gelangen. Um halb 8 Uhr in Corte di Fondo angelangt, verliessen wir die Hütte erst nach einstündigem Aufenthalte und stiegen, die bisher innegehaltene westliche Richtung mit der nördlichen vertauschend über steile Waidehänge nach der Alp Piadaia zu.

Nach anstrengendem zweistündigem Steigen befanden wir uns oberhalb des Baronasees, der jedoch noch gänzlich mit Eis bedeckt war. Uns gegenüber starrte eine wilde, vielfach gezackte Felsmauer in die Lüfte empor, die wir mit einigem Entsetzen anguckten, indem wir von unten gehofft ohne alle Schwierigkeiten über die Grasplanken hinauf die Grathöhe gewinnen zu können, über welche wir unsern Uebergang nach Val Chironico zu bewerkstelligen gedachten. Statt dessen sahen wir uns genöthigt erst in grossem Bogen, meist über Schnee, den See in bedeutender Höhe auf seiner Nordwestseite zu umgehen und alsdann mit ziemlicher Mühe und nicht ganz ohne Gefahr über Fluhsätze und Rasenbänder empor die Höhe vollends zu ersteigen. Es war 12 Uhr. Es wartete unser hier eine neue Prüfung, denn der Grat fiel gegen den Hintergrund der Alp Campionigo ebenso steil und wild ab, wie nach der Südseite und eine missliche Kletterei war nicht zu vermeiden. Weite Schneefelder, die aber wahrscheinlich in normalen Jahren zu dieser vorgerückten Sommerszeit schon längst üppigen Waidegründen Platz gemacht haben, bedeckten die ganze Mulde bis beinahe zur Alp Campionigo hinunter. Uns gegenüber starrte die kühne Kuppe des Piz Campo Tencia empor, der, gleich gewaltigen Fangarmen nach den vier Himmelsgegenden scharfgekantete Gräte entsendend, das ganze Gebirge weit überragt. Zwischen ihm und dem Pizzo Forno durch könnte man über ein, anscheinend unschwierig zu überstei-gendes Joch nach Val Piumogna, Dalpe und Faido hinunter gelangen. Hätte sich der Himmel nicht nach- gerade mit drohenden Wolken überzogen, so würden wir wohl unsern Plan, über diesen Pass unsern Weg nach Faido zu nehmen und wohl auch einen Versuch zur Besteigung des Campo Tencia zu machen, ausgeführt haben.

Die Aussicht wav leider durch aufgestiegene Nebel ziemlich beschränkt, dürfte aber bei hellem Wetter gen Nordost und Ost sehr lohnend sein. Durch eine Lücke des Grates der nach Süden Corte di Fondo abschliesst und an dessen Hängen die drei kleinen Alpen Ton Redorta, Porchiera und Porchierina liegen, liesse sich auch ein Uebergang finden nach dem obern Theile der Yal Maggia hinüber. Eine gute und deutliche neue Karte ist für diese Gebiete von höchster Nothwendigkeit um die so schwer entzifferbare, augenmörderische bisherige zu ersetzen.

Um 123/* Uhr verliessen wir die Höhe und kletterten mit aller Vorsicht über die losen, sehr steilen Felsen nach den jäh abfallenden Lawinenzügen hinunter, wanderten dann über weite Schneefelder und zuletzt über fette Waiden nach der Alp Gardascio, die wir nach einstündigem Marschiren erreichten. Diesen Pass möchte ich vorschlagen Passo di Barona zu nennen.

Ueber die grosse Alp Toira und später durch prächtigen Lärchenwald, ging es auf stellenweise bösem< Fusspfade über die Alpenhütten Monte Doro jäh hinab nach dem kleinen Sommerdörfchen Monti di Sanoi und nach kurzem Halte hinunter in die finstere Schlucht der Val Chironico; doch lange bevor wir ein schützendes Obdach gewinnen konnten, brach das furchtbare Gewitter über uns los, das am selben Abende ebenfalls einen grossen Theil der innern Schweiz überzogen und stellenweise bedeutenden Schaden angerichtet hat.

Unter einem überhängenden Felsen zusammengekauert " verfolgten wir den furchtbaren Kampf der Elemente, mit Grauen und Bewundern den fast ohne Unterbruch sich folgenden, grellzuckenden Blitzen zuschauend und dem majestätisch an den Felswänden lang nachhallenden Rollen des Donners lauschend. Endlich liess der Regen nach, wir brachen auf und stiegen vollends in das Thal von Chironico hinab. Das Bett, in welchem der Bach sich seine Bahn ausgebohrt hat, ist so enge, die bis oben bewaldeten Bergflanken so steil aufgerissen und so hoch, dass die Sonne kaum während ein bis zwei Morgenstunden hinein scheinen kann, und der Typus der südalpinen Thäler ist hier in der höchsten Potenz entfaltet: tief eingerissene, finstere Schlucht, l-ßO — 1501™ höher fette, sonnige Terrassen, darüber steiler Berghang mit kräftiger reicher Waldung, welche sich ihrerseits wieder an die obersten Felsmauern anlehnt, die vormals das höchste Plateau gebildet haben mögen, das nun durch tausendjährige Erosion verschwunden nur noch in verhältnissmässig spärlichen Resten uns Kunde ihrer ehemaligen Gestaltung hinterlassen hat. Unweit der Thalöffnung stürzt sich der Abfluss des kleinen Sees auf der Alpe del Lago in einem mächtigen, wohl mehrere 100 Fuss hohen und sehr sehenswerthen, Falle in das enge Thal hinab.

Nach einer kleinen halben Stunde war das Dörfchen Chironico erreicht, von dem aus wir auf einer eben i » der Vollendung begriffenen neuen Kunststrasse in etwa 40 Minuten ftter eine früher von der Hauptstrasse benutzte Brücke den St. Gotthardweg ge-

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wonnen. Es war bald 8 Uhr und dunkelte bereits stark als wir Lavorgo passirten und gespensterhaft leuchtete uns von der andern Seite des Thales der weisse Schleier des Gribiäscafalles entgegen. Endlich Nachts 9Uhr langten wir über Ghiggiogna in Faido bei unserm Clubgenossen Bullo all' Angelo an.

Auch diessmal war uns keine lange Nachtruhe bescheert, denn schon früh um 2 Uhr mussten wir uns wieder erheben um die Morgenpost, die um 3 Uhr Faido passirt, zu benutzen, mit der wir etwas nach 5 Uhr nach Airolo und gegen 10 Uhr nach Andermatt gelangten. Abermals leuchtete uns die herrlichste Sonne, doch als wir um 11 Uhr aufbrachen und, um die langen Kehren der Oberalpstrasse zu vermeiden, den steilen Fussweg hinanstiegen, sagte uns die drückende Hitze und die drohend im Süden aufsteigenden Wolken deutlich, dass es gerathen sein dürfte unsere Schritte zu beschleunigen. Um 1 Uhr am Ende des Sees angelangt, bogen wir bei der Fischerhütte links ab und stiegen über die Waiden und Geröllhalden des hintern Felli in einer fernem Stunde nach der 2490 " l hohen Fellilücke empor, die wir um 2 Uhr, also nach drei Stunden guten Marsches von Andermatt weg, erreichten. Immer näher zog das drohende Gewitter und wir hielten uns daher auf der Höhe nur so lange auf als nöthig um den Einblick in die Verzweigungen der Thäler von Cornera, Maigels, Palidulseha, Unteralp und die sie überragenden Gebirge zu geniessen, glitten dann rasch über die Schneefelder hinab und waren kaum mehr eine kleine halbe Stunde von den obersten Hütten entfernt, als der plötzlich herunterstömende Regen uns zwang unter einem balmartig vorgewölbten Felsblocke Schutz zu suchen.

Zu unsern Fussen lag der oberste Staffel dieses einsamen Hochthales, die Mattenbergalp, von endlosen Geröllmasseil bedeckt, mit nur kümmerlichen Waideplätzen, zur Rechten steigt hoch über uns in kühnen Formen der mehrgipflige Piz Giuf ( 3098 m ) in die grauen Lüfte empor, zwischen welchem und dem Fellinenstock ein jäh ansteigender Pass durch den schattigen Wichel ( Winkel ) nach der Spülaui und dem Ezlithale hinüberführt, links schwingt « ich die schlanke Felsnadel des Rienzerstockes auf. Es regnete fort und wir brachen endlich auf, durch hohes nasses Gras nach der Alp watend, wo ein Trunk warmer Milch uns erquickte. Um 4 Uhr wanderten wir weiter und gelangten über einen steilen Felsriegel hinab zum zweiten Staffel, Waldialp, und immer am linken Ufer des in stäubenden Fällen herabtosendeh Fellibaches, auf heillosem Pfade zur ersten Terrasse dieses rauhen Thales, den Telliberghütten. Der letzte Abfall, bevor man zur St. Gotthardstrasse gelangt, war ganz dazu angethan uns den Abschied von dem Hochgebirge zu erleichtern. Dachgäh führt der pfützen- und steinreiche Pfad von den Waiden hinab in einem dunkeln Tannenwald, wo jeder Schritt über die hervorstehenden Baumwurzeln alle Aufmerksamkeit erheischte und die vielgeplagten Kniee noch eine grausame Hauptprobe durchzumachen hatten. Um halb 6 Uhr endlich langten wir bei der Fellibrücke an. Das Fellithal kann gewiss bei günstigem Wetter dem Naturfreunde durch seine wilde Grossartigkeit mancherlei Genuss bieten, wie es auch vornehmlich für den Geologen besonders interes- sant ist und trotz des unvorteilhaften Gewandes in welchem ich es erblickte gereute es mich keineswegs den kleinen Umweg durch dasselbe gemacht zu haben.

Eine Eigenthümlichkeit des Fellithales ist auch, dass es das einzige urnerische Seitenthal ist, das in einem spitzen Winkel in das Hauptthal einmündet, alle andern Seitenthäler laufen, sei es nach West oder nach Ost, in rechtem Winkel vom Eeussthale aus und sind eigentliche Längsthäler.

Hiemit will ich die Schilderung meiner Erlebnisse auf dieser zwölftägigen Wanderung schliessen, indem der 30. Juli bloss noch dazu benutzt wurde, um von Flüelen über Brunnen, Schwyz, das Muottathal, den Pragel- und Schweinalppass nach meinem Ausgangspunkte, dem Kurhause im hintern Weggithal zurückzukehren.

Meinen Clubgenossen aber rufe ich aus vollem Herzen ein kräftiges « Mach's nach » zu; unsere gegenwärtigen Excursionsgebiete sind so reich an den mannigfachsten Naturschönheiten und namentlich an den überraschendsten Kontrasten in der Bildung der Thäler, in der Vegetation, in der Bevölkerung, so reich auch ferner an wilden, gletscherreichen Bergen und unbekannten Pässen und dabei zum grössten Theile so wenig* von Touristen begangen, dass sich für einen Schweizer Alpenclubisten kaum in unserm schönen Vaterlande lohnendere Wanderungsgebiete denken lassen, als diejenigen die sich der S.A.C. für 1871, 1872 und 1873 zu erforschen vorgenommen hat.

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