In der Hohberghorn-Nordwand | Club Alpino Svizzero CAS
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In der Hohberghorn-Nordwand

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Veronika Meyer, Uettligen BE

Die Welt beschränkt sich auf eine schwindelerregend abgekippte Fläche aus Eis. Einer Riesenrutschbahn vergleichbar, setzt sie hoch oben am Horizont an, und ohne Halt gleitet der Blick über sie in die Tiefe bis zum weit unten drohenden Bergschrund. Nur der Standplatz, eine kleine Stufe in dieser gleichmässig steil abfallenden Wand, bietet Sicherheit und Entspannung. Alles ist selbstverständlich und einfach. Wir bewegen uns auf einem Weg von herausfordernder Eleganz, von gleissender Schönheit. Was gestern mein Gipfel. Noch ein letzter Aufschwung, und ich erreiche mein Ziel.

Weit schweift der Blick in die Runde: weit in den Süden, wo irgendwo ferne das Meer seine Wellen gegen den Sandstrand rollt, wo es heiss ist, wo sich jetzt Millionen im Sande tummeln. Weit gegen Osten, wo irgendwo die Bernina, und dahinter die Dolomiten stehen, beide durch den herrlichen, ausgeglichenen Gipfel des Cengalo verdeckt. Weit in den Norden, von wo ich geflohen bin, um hier das zu suchen, was ich dort nicht finde: Ruhe, wilde Natur, keine Hektik. Weit in den Westen, wo irgendwo das Dach der Alpen steht.

Ein weiter Marsch führt mich über die Südseite des Badile und zwei Pässe zurück in die Bondasca. Heftiger Regen, Blitze und Donner wetteifern miteinander, einer sucht den andern zu überbieten. Die Gipfel sind dem Auge entrückt, sie haben sich mit Nebel umgeben.

« Cengalo,... nächstes Jahr komme ich, da folge ich deinem Ruf: Cengalo... » noch ein abschreckend-kühner Traum schien, geht heute in Erfüllung.

Beat pickelt oben die nächste Kerbe. Eissplitter fallen mir auf Helm und Handschuhe. Beat Burgener aus Saas Grund, mein Führer, wollte mich gestern am Nordwändchen des Allalinhorns in die Geheimnisse des schärferen Eisgehens einführen-aber da gab es kein Eis, nicht einmal Firn, durch tiefen Schnee wühlten wir eine Spur dem Gipfel zu. So wird das Hohberghorn zu meiner ersten Steileistour, und was für einer! Der Berg scheint sich gepanzert zu haben zum Empfang einer No-vizin: blankes Eis, in welchem die Steigeisen von Beat kaum Spuren hinterlassen. Zwei Alpinisten, die nach uns einsteigen, zeigen sich dermassen beeindruckt, dass sie nach zwei Seillängen den Rückzug antreten. Vorsichtig wie Seiltänzer, obwohl eher Spiegeltänzer, steigen sie ab und wenden sich, auf dem Riedgletscher angelangt, wieder dem Windjoch zu.

Beat hat sich oben eingerichtet, ich kann nachkommen. Die beiden Eisschrauben sind rasch her-ausgedreht - und nun soll ich mich auf diese hohnblanke Spiegelebene begeben? Alles in mir sträubt sich, den Standplatz, Oase der Erholung und Träumerei, zu verlassen und unter grösster Muskelanspannung höherzusteigen. Ich bin versucht, mit den Steigeisen das Eis unschlüssig an-zukratzen. Aber was hat mir Beat am Einstieg eingeschärft? Genau das dürfe ich nicht tun, sondern ich müsse — zackdie Frontzacken ins Eis schlagen und draufstehen. Wie schwer mir das jetzt fällt! Aber mit Zögern lässt sich eine solche Wand nicht gewinnen. Zack! und zack! und zack! steige ich auf, nichts ist mehr selbstverständlich, nichts ist einfach, die Beine sind schon nach ein paar Schritten müde. Als ich glaube, bereits ein schönes Stück zurückgelegt zu haben, blicke ich hoch. Aber o weh! Beat ist noch weit oben. Hier kann ich nicht stehenbleiben, also tanze ich meinen Spiegeltanz weiter. Mein Pickel ohne Zähnung, so lieb ich ihn habe, ist wohl nicht ganz das richtige Werkzeug für Blankeis. Wenn sich morgen die Nordwand der Lenzspitze auch so präsentiert! Beim letzten Schritt zum Standplatz scheue ich mich nicht, tüchtig ins Seil zu greifen.

Beat lobt mich überschwenglich und klopft mir auf den Helm. Dabei habe ich ihn im Verdacht, dass er alle seine Gäste gewaltig lobt, um sie bei Laune zu halten, ob sie nun ihre Sache gut oder eher nicht so gut gemacht haben. Doch nach überstandener Anstrengung gefällt mir alles: das Lob, die eisige Welt und der Standplatz als kleine, geradezu wohnliche Kerbe in ihr. Was heisst schon Anstrengung: ihretwegen bin ich doch her- gekommen! In weiser Voraussicht habe ich mir vor einigen Wochen eine Spezial-Gymnastik-übung zur Stärkung der Wadenmuskeln ersonnen und bis zur schmerzhaften Ermüdung trainiert. Geh nur weiter, Beat, die Wand gefällt mir!

Das Stecknadelhorn schaut als kleine Spitze hinter einem gewaltigen Eisturm hervor. Es wird mein zehnter Viertausender sein, heute Mittag. Prüfend blicke ich zum Dürrenhorn. Wir sind nun etwas höher als sein Gipfel, was bedeutet, dass wir erst ein gutes Drittel der Hohberghorn-Nordwand erstiegen haben. Ohne Worte werden wir uns während des Aufstiegs einig, dass wir, unser Ziel einmal erklommen, nicht noch diesen Schutthaufen von Dürrenhorn mit unserem Besuch beehren werden.

Beat hat das Seil ausgegangen. Er pickelt wie ein Schatzgräber, um einen schönen Standplatz herzurichten. Nachkommen! Mit zunehmender Routine wird mein Zögern vor dem Verlassen des Standes geringer, ganz ablegen aber kann ich es angesichts des blanken, steilen Eises jedoch nie.

Irgendwann habe ich begonnen, die Seillängen zu zählen. Am Ausstieg ist die zehnte vollendet. Zwei davon führten in der Wandmitte durch unangenehm tiefen Schnee, alle übrigen über Eis. Etwas unterhalb des Gipfels weicht Beat auf den Ostgrat aus; genug des Spiegeltanzes für heute. Auch mir liegt nichts daran, eine Direttissima zur höchsten Spitze zu legen. Trotz zunehmender Müdigkeit wird das Steigen stets einfacher, schon fast zur Selbstverständlichkeit. Die letzte Seillänge ist ein Abschiednehmen von der fünfzig Grad geneigten Fläche, die Welt weitet sich wieder. Mit beeindruckender Mächtigkeit überragen uns Stecknadelhorn, Nadelhorn und Lenzspitze, neue Ziele locken. Mit wenigen Schritten erreichen wir den Gipfel, von wo ich einen Stein mitnehme.

Nach kurzer Rast wenden wir uns dem Stecknadelhorn zu. Als mir vor einigen Jahren die ersten Bilder des Nadelgrats vor Augen kamen, schien er mir entsetzlich luftig. Nun setze ich meinen Fuss ohne Zaudern auf die Gratschneide. Der Abgrund, aus dem wir gestiegen sind, hat seinen Schrecken verloren.

Da ich nun meine Feuertaufe bestanden hatte, wollte mich offenbar die Nordwand der Lenz-

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