Kurzer Abriss einer Geschichte des bündnerischen Oberlandes | Club Alpino Svizzero CAS
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Kurzer Abriss einer Geschichte des bündnerischen Oberlandes

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Von J. A. v. Sprecher.

I. Abschnitt.

Von der Römerzeit bis zur Entstehung der drei Bünde.

( 15 — 1471. )

Auch dem oberflächlichen Beobachter fallen auf einer Wanderung durch Bünden mancherlei Merkmale auf, an welchen er den Anwohner des Vorderrheins von demjenigen der Albula und des Inn leicht unterscheidet. Beide sind Romanen, aber verschieden in Typus, Sprache und Charakter und beide sind Nachkommen alt-rhätisch-tuskischer Stämme — welcher? ist unbekannt, und beide haben in ihren Dialekten

* ) Die Materialien zu dieser Arbeit sind hauptsächlich Mohr's und Sp r e c h e r's neuesten Greschichtswerkeu und bezüglich eines Theils der Culturgeschichte des XVIII. Jahrhunderts meinen Collectaneen entnommen.

uralte Eeste der ursprünglichen gemeinschaftlichen Sprache bewahrt, vorzüglich in einer Reihe von Benennungen alpwirthschaftliche!* Geräthe und Verrichtungen, deren Wurzeln weder celtischen, noch lateinischen Ursprungs sind, sodann in mancherlei ganz etrurisch. lautenden Orts- und Güternamen, wie Miraniga, Tavanasa, Schlans, Carcusa, Sardasca u. s. w.

Spärlicher als in andern Landestheilen finden sich im Oberlande Spuren der römischen Herrschaft über Rhätien; als die wichtigsten derselben sind wohl die seltenen Reste zweier Strassen zu betrachten, deren eine von Cläfen aus durch eine längst vergletscherte Alp hinter dem Tambohorn herein in das Rlieinwrald, von hier aus über den Sattel der Alp Alvana nach Safien und über das Mittagshorn nach Pitasch und Ilanz führte — eine für tüchtige Bergsteiger, wie es die alten Rhätier waren, wenn auch in mühsamer Wanderung, doch in einem Tage zurückzulegende Entfernung von 17 Stunden. Die andere Strasse durchzog von Curia aus das ganze Thal des Vorderrheins bis in die Nähe von dessen Quellen, überstieg die Oberalp und verband durch die Furka Rhätien mit Wallis, welche beide Länder eine Zeit lang dem nämlichen römischen Prokurator unterstellt waren. Wahrscheinlich diente dieser Strassenzug ebensowohl römischen Heeren als alemannischen Schaaren bei deren häufigen Einfällen in Rhätien.

Allein auf ihm wandelten auch bis in die Waldeinsamkeit an den Rheinquellen jene Glaubensboten Sigisbert, Placidus und ihre Gefährten, welche im Jahr 614 im dichten Urwalde das Kloster Dissentis gründeten, das eine Reihe von Jahrhunderten hindurch seine Mission, der umwohnenden anfänglich vielleicht noch heidnischen Bevölkerung die Wohlthaten des Christenthums in Glauben, Unterricht und Sittigung nahe zu bringen, erfüllt hat.

Gleich nach seinem Entstehen ward es von schweren Verfolgungen heimgesucht. Der eine - der Stifter, Placidus, wurde von dem Präses von Rhätien, Viktor I., aus einer Herrscherfamilie wahrscheinlich fränkischen Ursprungs, deren Stamm-güter im Vorderrheinthale lagen, hingerichtet, weil Placidus ihm freimüthig einen Raub an seiner Schenkung an das Kloster verwiesen hatte. Im Jahre 670 ward dasselbe von einer Avarenschaar ausgeplündert und niedergebrannt, nachdem jedoch Abt Adelbert den Schatz des Stiftes nach Zürich in Sicherheit gebracht — eine Katastrophe, bei welcher der Abt und die zurückgebliebenen Conventualen den Tod gefunden haben, aber auch die Avaren bald nachher bei Disla vom Landvolke bis auf den letzten Mann sollen erschlagen worden sein. Sechzig Jahre lang lag das Kloster in Trümmern. Als Wiederhersteller desselben nennt die Sage mit mönchischer Ausschmückung den Frankenherzog Carl Martell. Gewiss aber ist, dass bald nachher in der Abtei eine Schule aufblühte, in welcher Männer, wie die nachmaligen Bischöfe von Chur, Ursicinus und Tello herangebildet wurden. Eben dieser Bischoff Tello war es, der, als er seine Familie erlöschen sah, zur Sühne für den einstmaligen von seinem Vorfahren begangenen Raub am Kloster Dissentis, in seinem Testament, das er im Jahr 766 entwarf, nicht blos die damals entrissenen Güter,

sondern noch eine Menge seiner eigenen Liegenschaften,

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Rechte und Hörigen vermachte. Wie dieses Testament somit dem ohnehin rasch in Wohlstand hineinwachsenden Stifte neue reiche Mittel zuströmen liess, so ist es andererseits auch für den Geschichtsforscher, neben den Capitularien des Bischofs Remedius von Chur, fast die einzige Quelle für das Studium der Culturzustände Rhätiens in jener frühen Periode. Es lässt schliessen, dass die Landwirthschaft, wahrscheinlich durch ein von grösseren Waldungen geschützteres Climä als es heute der Fall ist, begünstigt, im Oberlande auf einer gedeihlichen Stufe sich befand. Ward doch die Rebe noch in Sagens und Ilanz, ja selbst in dem weit höher gelegenen Pleif in Lugnetz in Weinbergen gepflanzt; selbst von Spalierobst ( scalse fructiferse ) ist im Testamente die Rede! Auch muss die Bevölkerung eine beträchtlichere gewesen sein, als gewöhnlich angenommen wird, denn das Testament nennt 27 Ortschaften im Oberlande als Eigenthum Tello's, welche fast alle noch heute in den Thälern sich ausbreiten oder die Bergterrassen zieren; ein Theil der dort nicht genannten mag wohl Eigenthum anderer Herren gewesen sein. In den Capitularien des Remedius, in welchen eine Verschmelzung des römischen mit dem germanischen Rechte deutlich erkennbar ist, finden sich bemerkenswerthe Gesetze, welche die Standesunterschiede in den Wehrgeldern markiren, vom Hof- und Landesbeamten herab bis zu den Freien und Hörigen. Zaubereisünden werden in eigenthümlicher Art bestraft, doch sind im Ganzen die Gesetze nicht streng, viele Verbrechen können noch mit Geld gesühnt werden.

Ausser dem bereits erwähnten Strassenzuge durch das Vorderrheinthal finden wir schon jetzt — im 9. Jahrhundert, einen vom Kloster Dissentis angelegten Weg über den Lukmanier mit nicht weniger als fünf Hospizen im Medelserthal; dies lässt auf einen regen Verkehr mit Italien, jedenfalls mit den jenseitigen Thälern schliessen.

Nach dem Aussterben des Herrschergeschlechtes der Victoriden gelangte Rhätien an Graf Hunfried von Istrien, dem es von Carl dem Grossen übertragen worden zu sein scheint. Dem dritten Sohne desselben Roderich fiel die Grafschaft Lacs zu, jenes weite Gebiet, das von der Mündung der Lanquart rheinaufwärts bis zu den Quellen des Vorderrheins und des Medelser Landwassers « auf Lukmannen » reichte. Roderich,s Regierung war für die Bevölkerung des Oberlands eine unheilvolle; eine langjährige Fehde desselben mit dem Bisthume brachte Verheerungen über das fruchtbare Gelände am Rhein, bis endlich der Kaiser Ludwig der Fromme ( 823 ) dem Bisthume Chur und der Abtei Dissentis wieder zu ihrem Besitze verhalf. Später ging Rhätien, das unter Lothar eine kurze Zeit zu Italien gehört hatte, im Vertrage zu Verdun ( 843 ) mit Deutschland an Ludwig den Deutschen über.

Auch während der folgenden drei Jahrhunderte schwankte der Besitz derjenigen Thäler, welche das heutige Oberland bilden, zwischen mancherlei Herrscher- geschlechtern, aber es wurde die Grenzen des unserer Skizze zugestandenen Raumes weit übersteigen, wollten wir der häufigen Besitzeswechsel der verschiedenen Oberländer Herrschaften und Lehen auch nur flüchtig gedenken.

Bald siud es die Bistliümer Chat und Brixen, bald die Abtei Dissentis, bald das Stift Pfäfers, hier die Grafen von Lacs, dort die Freiherren von Belmont und andere jetzt auftauchende Dynasten, welche einzelne Gegenden besitzen — unsichere Zustände, Folge des lockeren Verbandes Rhätiens mit dem ohnehin fast beständig inneren und auswärtigen Fehden preisgegebenen deutschen Reiche, und ebenso Folge der Entlegenheit des Landes von den wechselnden Residenzen der Kaiser. Zu dem innern Wirrwar in Rhätien gesellten sich im 10. Jahrhundert verheerende Einfälle der Magyaren und Sarazenen, wovon wenigstens die Ersteren in das Oberland eindrangen, und die lang andauernden Kämpfe der Anhänger der Päpste mit denen der Kaiser.

Der folgenden Periode, derjenigen der hohenstau-fischen Herrschaft über Deutschland, speziell über das Herzogthum Schwaben, an welches Rhätien schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts durch Erbschaft übergegangen war, gehört die allmälige deutsche Colonisation von Vais und San1 en, sowie der Bergterrasse von Obersaxen an, welche höchst wahrscheinlich vom deutschen Rheinwald aus erfolgte. Noch heute unterscheiden sich ihre Nachkommen in ihrer äusseren Erscheinung, in Sprache und Charakter wesentlich von den sie rings umgebenden Romanen. Noch ist die Streitfrage über ihre Abstammung aus dem Wallis oder aus Süddeutschland nicht entschieden; sicher scheint uns nur, dass die Colonisten, welche nach Rheinwald, Saßen und Vais zogen, keineswegs des nämlichen Ursprungs sind mit denen, welche Davos und welche Avers ( Wels ) bevölkerten, obschon auch Jenen Wal-serische Abstammung beigemessen werden will.

Reiche Ausstattung mit Privilegien und Freiheiten fiel allen diesen Colonisten zu, mochten sie nun zur Sicherung der nach Italien führenden Pässe von deutschen Kaisern oder von rhätischen Dynasten verpflanzt worden sein. In die frühere Periode der Hohenstaufenzeit fällt die urkundliche erste Erwähnung rhätischer Dynasten-geschlechter. Im Oberlande herrschten die Freiherren von Rhäzüns über Waltensburg, Obersaxen, Tenna; das Belmont'sche Haus über Flims, die Gruob, Ilanz, den grössten Theil des Lugnetz; die Freiherren von Vaz besassen Schleuis, Lacs, Trins, Tamins und Safien; die Abtei Dissentis das nachherige Hochgericht d. N. mit Medels und Tavetsch, sodann einige Kirchen und Dörfer im Lugnetz; endlich das Bisthum Chur, dessen Erblehenträger mehrere dieser Dynasten waren, eine Reihe im vordem und mittlern Oberland zerstreut gelegener Ortschaften, wie Fellers, Valendas, Riein, Seewis, Seth u. s. w., die fast alle schon in Tello's Testament als bischöfliches Eigenthum compariren. Uebrigens scheint ganz Rhätien; somit auch das Oberland unter der Hohenstaufischen Herrschaft verglei-clmngsweise ruhiger Zustände sich erfreut zu haben. Nach dem Niedergange dieses hochsinnigeii Hauses begannen aber neue Kämpfe, welche einen um so ernsteren Charakter trugen, als nun bald das Streben der Herzoge von Oesterreich und der Kaiser aus dem habsburgischen Stamme, auch in Rhätien festen Fuss zu fassen, immer deutlicher zu Tage treten sollte. Schon hatte König Albrecht seine Söhne widerrechtlich

4 nait der Reichsvogtei über Urseren, welches dem Gotteshause Dissentis gehörte und mit der Grafschaft Lacsr die, wie wir gesehen, einen bedeutenden Theil des heutigen Bünden umfasste, belehnt.

Begreiflicherweise wurde durch ein solches Vorgehen das Misstrauen und der Widerstand besonders derjenigen Dynasten wach gerufen, deren Herrschaftsgebiet am meisten bedroht war: vor Allem die mächtigen und sich in der wohlerworbenen Treue ihrer Unterthanen stark fühlenden Freiherren von Yaz, während eine Reihe anderer Dynasten, wie Montfort-Feldkirch, deren einer um diese Zeit auf dem bischöflichen Stuhle zu Chur sass, ganz für die habsburgisch-österreichischen Pläne gewonnen waren.

Aus diesen theils politischen, theils lediglich dynastischen Strebungen und Gegenstrebungen gingen lang andauernde Kämpfe hervor, in welche ganz Rhätien verflochten ward; aber sie wurden auch der Anstoss zu den Bündnissen von Herren und Unterthanen unter sich wider den gemeinsamen Gegner, dessen eroberungslustigen Charakter nicht blos die Grossen, sondern auch das Volk seit dem Kampfe der Waldstätte mit Oesterreich erkennen gelernt hatten. Auch das Oberland wurde in eminentem Grade in diese Kriege hineingezogen, zunächst in die Fehden des Bisthums mit den Freiherren von Vaz; sodann nach deren Aussterben ( 1333 ) in die langen Kämpfe von deren Erben in ihren Besitzungen im Oberland, nämlich der Häuser von Belmont und Werdenberg, ebenfalls mit den Bischöfen von Chur, den Freiherren von RMzüns und den Grafen von Montfort-Feldkirch und andern An- liängern der österreichischen Partei.

Auch der Abt von Dissentis, Martin v. Sax, gehörte derselben an und liess sich, unterstützt von einem Theile des Adels, zu einer Fehde mit den drei Waldstätten verleiten, indem er den Pass zwischen Uri und Urseren sperrte. Die Folge war eine Niederlage der äbtischen Truppen und ihrer Verbündeten. Später jedoch schloss des Abtes Nachfolger, Thüring von Attinghausen, ein Urner und einer weiter blickenden Politik huldigend, ein Schutzbündniss mit den Waldstätten ab; dieser Verbindung traten im nämlichen Jahre 1339 auch die Häuser Belmont und Werdenberg bei, was namentlich Ersterem bald gute Früchte bringen sollte.

Von grösserer Wichtigkeit und wohl ein Glanzpunkt in der mittelalterlichen Geschichte des Oberlands zu nennen, war der Sieg, den im Jahr 1352 das Volk von Lugnetz, und zwar in hervorragender Weise die Frauen, unter Ulrich Walter von Belmont am Piz Mundaun und Porclas-Passe über den Grafen Montfort-Feldkirch errangen, als dieser ohne Fehdebrief in das Oberland eingebrochen war, Flims überfallen, Ilanz eingeäschert hatte und nun in das Lugnetz einzudringen -versuchte. Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, dass Belmont die heldenmüthige Theilnahme des Lug Hetzer Volkes an diesem Siege hauptsächlich der Umkehr von seiner Oesterreich freundlichen Politik zu verdanken hatte.

Dass aber nicht blos im rhätischen Volke selbst ein lebhafteres Bewusstsein der ihm innewohnenden Kraft und ein Streben nach Freiheit erwacht war, sondern dass auch dem Adel eine Ahnung von diesen Regungen aufgegangen war — einem Theile desselben ein Wink zu verständigem Zusammengehen mit dem Volke, Andern ein Sporn zur Aufbietung aller Kräfte, um dieselben im Keime zu ersticken, das bewiesen die nun bald eintretenden, immer grössere Kreise ziehenden Kämpfe.

Wir treten aus der Zeit der Privat-febden der Grossen unter einander in die Periode der Verbändungen zwischen Adel und Volk und des gemeinsamen Ringens derselben mit dem volksfeindlichen Theile der Dynasten.

Schon nach dem Aussterben des Hauses Belmont ( 1374 ) erkannten dessen Erben, die Sax v. Monsax, ein Bündniss mit der Abtei Dissentis behufs des Schutzes für ihre Besitzungen im Oberland, als ein Gebot der Nothwendigkeit. Dieser Verbindung trat am 19. Februar 1395 der Graf Joh. von Werdenberg für seine Herrschaft ob dem Flimser Wald und die Feste Leuenberg und wenige Tage darauf auch der Freiherr Ulrich v. Rhäzüns bei. Hiemit war der Grundstein zur Stiftung des grauen oder oberen Bundes gelegt und schon jetzt nannte sich diese Verbindung die Part sura ( der obere Theil ), eine Benennung, welche später auf das Oberland in seiner Gesammtheit tiberging und sich noch heute in dieser Bedeutung erhalten hat. Als Versammlungsort für die Theilnehmer an dieser ersten Verbündung wurde schon damals das Dorf Truns gewählt, welches bis zur Aufhebung der III Bünde ( 1850 ) Sitz der Tagsatzungen des grauen Bundes geblieben ist.

Als dann aber der nämliche Ulrich v. Rhäzüns mit dem Bisthum über das Vicedominat im Domleschg und über einige Lehen in Streit gerathen war, und vielfache Verheerungen der beiderseitigen Herrschaften daraus erfolgten, traten im Jahre 1396 die Unterthanen Beider zu gegenseitigem Schutz und Schirm zusammen, und im Jahre 1398 schlössen die Grafen von Werdenberg-Heiligenberg mit ihrer Feste Hohentrins und ihren Leuten, mit Tamins und Reichenau, dem Bunde der Part sura sich an.

Und schon zwei Jahre später, am 24. Mai, geschah ein ewiges Schirm-bündniss aller Bundesgenossen am Vorderrhein mit dem Lande Glarus. Den reinen und uneigennützigen Charakter dieser Verbindungen kennzeichnet der Umstand, dass sie bald nachher den eigenen Genossen, jenen Ulrich v. Rhäzüns zwangen, einem ergangenen, dem Bisthume günstigen, Spruche sich zu unterwerfen. Auch darf es als eine ausdrückliche Anerkennung der gehobeneren Stellung des Volkes angesehen werden, dass jene Grafen von Werdenberg, als sie die Kastvogtei über die Abtei Dissentis an diese selbst verkauften, deren Gotteshausleute als Theilhaber an dem Kastvogteireclite mit einschlössen. Dagegen verlor das Kloster um das Jahr 1408 den wichtigen Besitz seiner alten Kolonie, des Urserenthales, der Hüterin des Gotthardpasses, das die hohen Gerichte an den Stand Uri übertrug und mit demselben im Jahre 1410 ein ewiges Landrecht schloss.

Mit jener Anerkennung der freiheitlichen Berechtigungen des Landvolkes war der Weg zu Grösserem gebahnt worden. So traten denn kurz vor 1424 die meisten Gemeinden des Oberlandes, das Volk von ganz Schams und Rheinwald, Misox und Rhäzüns zu dem Zwecke zusammen, um den Anschluss der mächtigen Dynasten und Herren, zu deren Gebieten sie gehörten, zu erwirken.

Zunächst scheint der seiner Klugheit und edeln Gesinnung wegen allgemein geachtete Peter von Pontaningen, Abt von Dissentis, von ihnen angesprochen und dessen Mitwirkung gewonnen worden zu sein. Seiner Fürsprache war es wohl zu verdanken, dass bald die drei Brüder Hans, Heinrich und Ulrich Brun von Khäzüns, die Grafen Johann von Sax und Hugo von Werdenberg-Heiligenberg beitraten.

So ward denn am 16. März 1424 unter dem alten ehrwürdigen Ahorn bei Truns von den Abgeordneten der Gemeinden jener Thalschaften, dem Abte von Dissentis und den genannten Dynasten jene denkwürdige Verbündung geschlossen, welche seither der obere oder graue Bund genannt wird — unzweifelhaft die erste in ihrer Gesammtheit, so wie sie auch später " erscheint, fest geschlossene Verbündung nur einheimischer Herren und Gemeinden. Wohl ist der Keim zur Entstehung des Gotteshausbundes ein älterer ( 1392 ), allein es fehlt ihm das Gepräge einer ausschliesslich rhätischen, nationalen Verbindung wegen der damaligen Theilnahme des Hauses Oesterreich an derselben. Der Bundesbrief vom 16. März 1424 erneuerte die Artikel des Schirmbündnisses von 1395, setzte fest, dass Ansprachen nur da geltend gemacht werden sollen, wo der Angesprochene seinen Wohnsitz habe, dass renitente Bundesglieder von der Gesammtheit zum Gehorsam zurückgeführt, das Bündniss alle zehn Jahre erneuert und dessen Artikel durch den Bund selbst nach Bedürfnis« gemehrt oder gemindert Werden sollen.

Es konnte nicht fehlen, dass ein derartiger fester Zusammenschluss des Volkes mit den mächtigsten Grossen gerade bei Oesterreich und der Adelspartei Erbitterung und das Streben wachrufen musste, einen in seiner Tragweite kaum berechenbaren Bund zu sprengen, bevor derselbe völlig erstarken konnte. Bewegungen und Verbindungen dieser Natur, kraft welcher die Stellung des Landvolkes gegenüber dem Adel eine immer selbstständigere und bedeutendere wurde, bestanden ja ohnehin auch in der Eidgenossenschaft, und zwar schon seit mehr als einem Jahrhundert, und immer grösser wurde der Kreis der adelsfeindlichen Stände und Städte. Der Adel sah seine alten Vor- rechte, seine Einkünfte, seine ganze bisherige Herrscher- stellung gefährdet. Als nun vollends der Verlauf des Zürichkrieges um die Toggenburgische Erbschaft Oesterreich und dessen Anhängern Niederlagen und Verluste bereitet hatte, entschlossen sich Jene, welche den « schwarzen Bund » — vielleicht im Gegensatze zum grauen Bund so genannt — unter sich gebildet, den Freiherrn Hans von Rechberg, einen tollkühnen bittern Feind des Volkes an der Spitze, im Jahre 1450 zu einem Handstreiche auf die, den jungen Grafen von Werdenberg-Sargans gehörende Landschaft Schams, deren Gemeinden zur Ablegung einer ihr Unter- thänigkeitsverhältniss verstärkenden Huldigung zusammenberufen waren. Gelang diese Unternehmung, so gedachte der schwarze Bund in gewaltsamer Weise gegen andere Theilnehmer des Trunser Bündnisses vorzugehen. Selbst eines der Mitglieder dieses Letzteren, der Freiherr Heinrich von Rhäzüns, hatte durch seine Verwandten, jene Werdenberg-Sargans, zum Abfalle und zur Theilnahme an diesem Handstreiche sich verleiten lassen.

So schlau der nächtliche Ueberfall angelegt warr er wurde noch in der letzten Stunde, im Morgengrauen, von Hirten ( wohl des Heinzenbergs, über welchen damals die Passstrasse, am Grat des Piz Beverin vorbei und durch die Alpen von Schanis führte ) entdeckt. Eilboten warnten die Schamser und beriefen Hülfe aus Rheinwald und Saften, welche mit unglaublicher Schnelligkeit auch aus Oberhalbstein, Bergün u. s. w. nach Schams herbeiströmte. Als Rechberg^ und Genossen hier anlangten, fasste sie panischer Schrecken über die Vereitelung ihres Vorhabens. Die? welche vom Landvolke nicht erschlagen wurden, endeten'in den Abgründen. Rechberg und die Werdenberger Grafen entkamen mit einer kleinen Anzahl von Söldnern in die Eidgenossenschaft, aber Rhäzüns wurde gefangen genommen. Die Chronisten berichten nun eine schöne gemüthliche Episode, mit welcher das zu Gerichte sitzende Volk seinem Siege die Krone aufgesetzt. Als dem Freiherrn nämlich zu Valendas unweit Ilanz das Todesurtheil verkündet war, habe der kluge alte Diener desselben die Landleute mit einem Mahle und reichlicher Weinspende bewirthet, die, wie er verkünden liess, der Freiherr zum Abschiede von dieser Welt angeordnet. Weicher und fröhlich gestimmt, habe dann als die Becher kreisten, das Volk dem Freiherrn verziehen und ihn wieder zu Gnaden angenommen.

Durch diese Niederlage war der volksfeindlichen Partei der Muth und in Folge der Niederreissung einer Menge von Burgen auch die Kraft zu neuen Unternehmungen solcher Art gebrochen.

Wir sehen daher bald darauf eben jene Werdenberg-Sargans ihre bisherige Politik aufgeben, die Rechte ihrer Landleute erweitern und sich sogar auf der Seite der Eidgenossen an derer Kriege mit Herzog Sigismund von Oesterreich ( 1460 ) betheiligen. Im Jahr 1464 verkauften sie dann ihre Besitzungen im Oberland an Bischof Ortlieb von Brandis, der im Jahre 1483 auch die ehemaligen Belmont'schen Herrschaften von den Grafen von Sax durch Kauf erwarb. Als um 1472 auch Heinrich von Höweii, der an der Schamser Fehde ebenfalls Teil genommen, kurze Zeit nach dem Brande seines Schlosses Hohentrins gestorben war — der letzte Brun von Rhäzüns war 1459 Todes verblichen — gab es ausser dem Bischöfe von Chur keine Dynasten mehr in Rhätien.

II. Albschnitt.

Vom Schwabenkriege bis zum ersten Mailänder Capitulate.

( 1499—1639. )

Auch in diesem Lande brach mit Ausgang des 15-Jahrhunderts eine neue Geschichtsperiode an: Die Zeit der Constituirung der III Bünde — der Zehngerichtenbund hatte sich im Jahre 1436 zusammen- geschlossen — als selbstständiger demokratischer Freistaat;

der völligen Freiwerdimg des Volkes; der Eroberungen und auswärtigen Kriege, aber auch neuer und gewaltiger Kämpfe auf politischem und religiösem Gebiete. Denn in dem nämlichen Jahre 1471, in welches Chronisten den Zusammenschluss der III Bünde verlegen,erwarb Oesterreich die Herrschaft Khä-ztins und Avard hiedurch Mitglied des Oberen Bundes. Ernste Kämpfe konnten um so weniger ausbleiben, seit der Kaiser durch Kauf in Besitz auch Tyrols gelangt war und zugleich als Protektor der süddeutschen Adelsverbindung deren der Freiheit der Eidgenossen feindliche Ziele begünstigte. Dies voraussehend schloss zuerst der Obere, dann der Gotteshausbund ( 1497 und 1498 ) ein ewiges Bündniss mit den VII Orten, das schon im folgenden Jahre im sogenannten Schwabenkriege seine Blutweihe erhalten sollte. Sowohl an der Seite der Eidgenossen im Vorarlbergischen und um die Feste des Luziensteiges, wie auch als getrennter Heerhaufen im Unter-Engadin und Münsterthal, kämpften die Bündner mit grösster Tapferkeit und erfochten, freilich nicht ohne eigenen bedeutenden Verlust, jenen glorreichen Sieg an der Calver-schanze über die Tyroler, welcher nach dem Worte des sterbenden Helden Benedikt Fontana ihre bedrohte Freiheit sicherstellte. Die nächtliche zwölf Stunden dauernde Erklctteriing des für unersteiglich geltenden Schiingenberges durch die Krieger des oberen Bundes

* ) Die Bundesurkunde, wenn sie je aufgerichtet wurde, konnte bisher nicht aufgefunden werden.

unter R. v. Lombrins, einem Oberländer, und Wilh von Rink, welcher es ihnen möglich machte, den Ty-rolern in Rücken und Flanke zu fallen und hierdurch der Schlacht die entscheidende Wendung zu geben, verdient als eine der hervorragendsten und kühnsten Leistungen dieser Art, welche die Kriegsgeschichte kennt, den Mitgliedern des schweizerischen Alpenclubs in Erinnerung gebracht zu werden.

Mit diesem schweren Kriege, in welchem jede Schlacht auch einen Sieg der Eidgenossen und Bündner bedeutete, war die Zeit der Kämpfe mit Oesterreich für mehr als ein Jahrhundert vorüber. Kaiser Max hatte erkennen gelernt, dass es den Interessen seiner Länder mehr entspreche, mit seinen rauhen Nachbarn in Rhätien gutnachbarliche Freundschaft zu pflegen, als die Sonderbestrebungen seines und des schwäbischen Adels zu unterstützen. So schloss er denn im Jahre 1500 zunächst auf zwanzig Jahre, dann im Jahr 1518 auf alle Zeiten die Erbeinigung mit den III Bünden, eine für das Verhältniss beider Contrahenten im Ganzen wohlthätige Allianz, welche gegenseitigen freien Handel und Verkehr, Bestrafung geflohener Verbrecher, Hülfeleistung im Kriegsfalle zusicherte. Der obere Bund, von Frankreich stark beeinflusst, trat diesem Bündnisse erst später bei.

Es folgt nun für die Bünde eine Periode der staatlichen Befestigung derselben, welche im Bundesbriefe vom Jahr 1524 ihren Ausdruck fand, der Errungenschaften auf materiellem und geistigem Gebiete. Bündner erobern das hundert Jahre vorher von

dem flüchtigen Mastino Visconti dem Bisthume Chur abgetretene Veltlin und die Grafschaften Cläfen und Worms ( 1512 ), und da dies ohne Betheiligung des Bisthums geschieht, eignen sie sich, anfänglich dem Letzteren einen Antheil an der Beute gewährend, die Herrschaft über diese « Unterthanenlande » zu, stellen das staatliche Verhältniss zu denselben fest;

müssen aber die Eroberung zunächst in Kämpfen mit Frankreich, welches das Herzogthum Mailand ansprach, dann in den zwei « Müsser Kriegen » ( 1524 und 1531 ) dem unruhigen, verschlagenen Feinde der Bündner, Johann de Medeghin nochmals abringen.

Wichtiger aber und nach mehr als einer Seite hin überaus folgenreich für Bünden wurden seine Errungenschaften auf geistigem Gebiete. Schon frühe — im Jahr 1524 — waren die Lichtstrahlen der Reformation von Zürich aus zunächst in die nördlichen, dann bald auch in die östlichen und südlichen Gegenden, ja selbst in sehr abgelegene Thäler des Landes gedrungen und hatten in den Herzen von Landleuten, Adeligen und Priestern ein Feuer entzündet, welches fortbrannte und immer weiter sich ausbreitete. Schon im folgenden Jahre hatte sie auch in das Oberland, ja selbst in das Kloster Dissentis sich Bahn gemacht; üer'Abt Martin Winkler, der später ( 1535 ) sich sogar verehelichte, Joh. Schniid, genannt Fabricius, der nachherige Reformator von Davos und die Mehrzahl der Mönche huldigten der neuen Lehre. Solche Uebertritte erfolgten im ganzen Lande in wachsender Menge, besonders nach der Disputation von Ilanz ( 1526 ), auf welcher Joh. Comander ( Dorfmann ), der wohl als der Vater der Reformation in Bünden zu betrachten ist, die biblische Lehre mit so siegreicher Beredtsam-- keit dem Abte von S. Luzi, Th. Schlegel, und andern römischen Geistlichen gegenüber vertheidigte, dass die Standesversammlung sofort eine Reihe von hochwichtigen Artikeln erliess, welche nicht blos vollkommene Gewissensfreiheit sicherstellten, sondern auch den Gemeinden die Wahl ihrer Seelsorger übertrugen.

Allein die « llanzer Artikel » gingen noch viel weiter und verkürzten und beschnitten rücksichtslos die geistlichen Vorrechte und Einkünfte des Bisthums in einer Weise, die einer Säcularisation desselben nahe kam.

Ein Rückschlag gegen so energisches Vorgehen konnte nicht ausbleiben, zumal nachdem das Haupt der römisch Gebliebenen, jener Abt von S. Luzi, Th. Schlegel, auf den dringenden Verdacht des Landes-verraths hin zum Tode verurtheilt und enthauptet worden, der Bischof, Paul Ziegler, nach Tyrol sich geflüchtet hatte. Zunächst äusserte sich dieser Rückschlag in Folge der Niederlage Zürichs in der Kappeier Schlacht. Die Reformation, welche einem Strome gleich ganz Bünden überfluthen zu wollen schien und im ganzen Zehngerichtenbunde, im Engadin, in Rheinwald und Schams, wenn auch nicht ohne heftigen Widerstand, fortschritt und sich befestigte, ward in einen grossen Theile des Oberlands allmälig aufgehalten, und zwar vollends seit der Abt Christian v. Castelberg durch eine Conferenz mit dem fanatischen Restaurator der katholischen Kirche, Cardinal Carlo Borromeo gestärkt ( 1565 ), sich entschlossen hatte, dem Fortgange der Reformation einen Damm entgegenzustellen.

In seinem ganzen fast 30,000 Seelen zählenden Sprengel standen, als Castelberg seine Arbeit begann, nur noch sieben Priester in Thätigkeit; die grosse Mehrheit des Oberländer Volkes war entweder bereits zur neuen Lehre tibergetreten, oder .verhielt sich, bei dem grossen Mangel an Geistlichen beider Confessionen, passiv. Der Abt begann seine Restauration, einem der Ilanzer Artikel zum Trotz, mit Besetzung des Klosters durch Novizen und fremde Mönche, mit Reisepredigten, die er, Land auf Land ab, im Oberlande hielt, mit pomphafter Herstellung des Grottesdienstes in der Klosterkirche. So wirksam war seine Thätigkeit, dass 11 Jahre später im Oberlande nur noch der Hauptort Ilanz, Safien, Kästris, Versam und Valendas, nebst, einigen kleinern Ortschaften und den Gerichten Trins und Flims der Reformation erhalten geblieben waren.

Aber in diesen hatte sie auch um so tiefere Wurzeln geschlagen, da zu dem Hülfsmittel der Predigt sich auch der Unterricht gesellte: frühe schon bestanden Schulen in Ilanz, Safien, Valendas, Flims, und es ist beachtenswert !), dass gerade in diesen Gemeinden das Schulwesen drei Jahrhunderte hindurch sich auf einer vergleiclmngsweise höheren Stufe erhalten hat, als in den andern ( Gemeinden des Oberlands. Eine höhere protestantische Schule besass Bünden seit 1538 in Chur, doch beschränkte sich der Unterricht auch hier auf die alten Sprachen und die philosophischen Lehrfächer. Es herrschte grösser Mangel an Pfarrern; wyer nicht die Hochschule zu Basel und die theologische Lehrerschaft in Zürich zu besuchen vermochte, und deren waren Wenige, machte einen dürftigen theolo- Geschichte des bündnerischen Oberlandes.65

gischen Lehrcurs bei älteren Geistlichen durch und trat, oft nur schwach vorbereitet, in das Pfarramt ein. Aber es erforderte fast überall in Bünden einen beträchtlichen Grad von Selbstverleugnung, dem dornenvollen, wenn auch damals hoch angesehenen Berufe eines evangelischen Seelsorgers sich hinzugeben: die Besoldungen waren so gering, selten 40-50 Gulden übersteigend, dass sehr viele der Pfarrer ihr ganzes Leben hindurch mit Mangel und Sorgen zu kämpfen hatten.

Das Landvolk des Oberlands betrieb in der langen Friedens- und Freiheitszeit des 16. Jahrhunderts seine land- und alpwirthschaftlichen Arbeiten, ohne sich allzu viel um die Welthändel zu kümmern, feierte neben den kirchlichen Feiertagen seine Sonnenwend- und Bachusfeste, huldigte gar manchem uralten Gebrauche und Aberglauben, und lebte mit seinen confessionell geschiedenen Nachbarn damals noch im besten Ein vernehmen. Die Gemeinden besassen eine fast unbeschränkte Selbstherrlichkeit sowohl in politischen als in kirchlichen Dingen, aber als Mitglieder des obern Bundes waren sie gewissen gemeinsamen Statuten und Gesetzen in bindenderer Weise unterworfen, als dies bei den andern zwei Bünden der Fall war, und dieses Gefühl engerer Zusammengehörigkeit hatte die Wirkung, dass mehr als einmal in wichtigen politischen Situationen die Reformirten des oberen Bundes mit den Katholiken gegenüber den beiden andern Bünden gemeinschaftliche Sache machten.

Dies zeigte sich u. A. in dem Falle des Freiherrn Joh. v. Planta von Rhäzüns ( 1570 ), als dessen ge- 61v.

Sprecher.

heime Verhandlungen mit der römischen Curie und die Ertheilung einer päpstlichen Generalvollmacht an Planta zur Restitution aller kirchlichen Güter in den Diöcesen Chur und Como einen gewaltigen Sturm der Entrüstung und das « Lupfen der Fähnlein » in den meisten Gerichten der beiden andern Bünde hervorgerufen hatten. Weder Protestanten, noch Katholiken des oberu Bundes, mit Ausnahme von Schams, betheiligten sich an diesem Handel, bis die 22 Fähnlein in Chur versammelt waren. Dagegen ward Planta von seinen eigenen Glaubensgenossen in Lacs, wohin er sich geflüchtet hatte, auf Requisition der beiden andern Bünde ausgeliefert und mit einer Escorte von sieben Fähnlein nach Chur gebracht; schon wenige Tage später erfolgte seine Hinrichtung.

Allein mit diesem Handel der päpstlichen Bulle, deren Urheberschaft wiederum auf den Glaubensfana-tismus des Cardinais Borromeo zurückzuführen ist, " war die Reihe der unheilvollen Strafgerichte und namenloser Leiden für das gesammte Bündnerland eröffnet. Denn nachdem im Jahr 1572 auch alle Diejenigen, welche in jenen Handel mit verflochten gewesen waren, oder vom Papste Geschenke empfangen hatten, durch das Strafgericht zu hohen Geldbussen waren verurtheilt worden, sass schon im folgenden Jahre wieder ein Strafgericht zu Thusis, und sprach über eine Anzahl der hervorragendsten Männer, besonders über ehemalige Amtleute im Veltlin, welche, ihrem Eide zuwider, Mieth und Gaben genommen, oder ihre Aemter mittelst Bestechungen erlangt hatten, Absetzung oder Geldstrafen aus. Die Sentenzen eben dieser Richter vom Juni 1573 passirte ein drittes im folgenden Monat, durch Veranstaltung der Verurtheilten niedergesetztes Tribunal in Chur.

Als dann um dieselbe Zeit der Bischof Beat von Porta, in Folge der Ansprüche des Gotteshausbundes auf die Kastvogtei über das Bisthum, Bünden für immer verliess und mehrfacher Aufforderung zum Trotze nicht zurückkehrend, abgesetzt wurde ( 1581 ), und sein Nachfolger, Peter v. Rascher, seines versöhnlichen Charakters wegen in den Verdacht der Ketzerei verfiel, wagte es Borromeo selbst, in den Bünden zu erscheinen, um das nicht hell genug brennende Glaubensfeuer der Katholiken anzufachen. In Dissentis conferirte er von Neuem mit dem Abte Castelberg und die Folge war -die Ausrottung des Protestantismus im Misox mit Feuer, Schwert und Presse. Erst jetzt schritt der Bundestag ein, als es zu spät war: Borromeo ward aus den Bünden ausgewiesen.

Noch herrschte in einem folgenden Zeiträume von

So sehen wir denn vom Jahr 1603 an mit weniger Unterbrechung jene Aera der Unruhen sich aufthuny welche erst mit der Capitulation mit Spanien im Jahr 1639 ihren Abschluss erhält. Selbst die von edel denkenden Patrioten, wie Hartmann von Hartmannis in 's Leben gerufene Reformversammlung vom Jahr 1603, welche an der Übeln Wahl der Mittel zur Abstellung der Missbräuche im Aemtenvesen scheiterte^ musste dazu dienen, die Leidenschaften noch tiefer aufzuwühlen. Durch ein Strafgericht gegen Beamte, die sich der Bestechungen und des unredlichen Aemter-kaufes schuldig gemacht, und welche zum Theil sehr grosse Geldstrafen bezahlen mussten, deckte man zwar auch diesmal die enormen Kosten der Versammlung, rief aber in den Bestraften um so grössere Erbitterung hervor. Als dann in demselben Jahre ein Bündniss mit Venedig geschlossen wurde, das mit Spanien auf dem Kriegsfusse stand, während Letzteres, der Verbindung mit Italien über die bündnerischen Pässe wegen schon mehrere Male und auch jetzt umsonst seine Allianz mit den Bünden angetragen hatte, errichtete der spanische Statthalter in Mailand, Graf Fuentes, dicht an den Grenzen des Veitlins jene berühmte, nach seinem Namen genannte Feste, deren Trümmer noch jetzt in ihrer Verödung deren ausserordentliche Stärke ahnen lassen. Ein Versuch, den Bau dieses Zwing-Bünden durch Unterhandlungen mit Mailand zu verhindern, scheiterte an den Intriguen Frankreichs und seiner bündnerischen Parteigenossen.

Nachdem wir die Ursachen der folgenden Unruhen flüchtig angedeutet, haben wir, des uns zugemessenen Geschichte des bündnerischen Oberlandes.67 '

Raumes wegen, die Darstellung der Ereignisse bis zum Jahre 1639 in den engsten Rahmen zusammenzufassen, und dies um so mehr, als sie sich vorzugsweise nur auf einen, wenn auch ansehnlichen Theil Bündens beschränken muss.

Das Jahr 1607 sah abermals nicht weniger als vier Strafgerichte zusammentreten und sich wieder auflösen. Zuerst das von der spanischen Partei gebildete, an deren Spitze die Brüder Pompejus und Rudolf v. Planta standen, und zu welcher zwar vorzugsweise die Katholiken besonders des obern Bundes, aber auch eine Anzahl angesehener Protestanten und protestantischer Gemeinden gehörten. Als Padovino, der venetianische Gesandte, kraft des Allianz Vertrages von 1603 die Erlaubniss zum Durchmarsche von 6000 Mann in Lothringen geworbener Truppen verlangte, erregte die spanische Partei sofort einen Aufruhr; ihre Fähnlein, worunter auch reformirte, rückten nach Chur und forderten die Wegmehrung sowohl des venetiani--sehen als des französischen Bündnisses. Sie bildeten ein Strafgericht, verboten für immer den Pass für Venedig und nöthigten durch ihr tumultuarisches Auftreten die Anhänger Venedigs und Frankreichs zur Flucht. Jetzt wurden gegen dieselben Straf urtheile, meist schwere Geldbussen, verhängt. Die Abgesandten der eidgenössischen Stände, nach Bünden gekommen, um zu vermitteln, mussten unverrichteter Sache abreisen. Gleichzeitig aber hatten die Prätigauer zwei Hauptführer der spanischen Partei, Landvogt G. Beeli und Hauptmann Baselga gefangen genommen und Venedigs Anhänger, zumal im Engadin, zum Widerstände gegen das Strafgericht der Spanischen aufgereizt.

Jetzt zogen auch die Fähnlein dieser Faktion nach Chur, und eine ihrer ersten Handlungen war die Folterung und Verurtheilung von Beeli und Baselga, welche am 6. Juli mit dem Schwert gerichtet wurden.

Abermals sandten die Eidgenossen Boten in die Bünde, um zu vermitteln; sie forderten die Constituirung eines neuen, aber unparteiischen Gerichtes an drittem Orte. In der That versammelte sich nun ein gemischter Beitag noch im Juli zu Davos, der die Aufhebung der französischen und venetianischen Allianz und die Lösung der Wirren den Eidgenossen anheimzustellen beschloss. Sowohl das spanische als das venetianische Strafgericht verweigerte den Gehorsam, aber ein Versuch des Ersteren, den Davoser Beitag zu terrorisiren, scheiterte an dessen Festigkeit.

Als die Wirren den höchsten Grad erreicht zu haben schienen, indem die spanische Faktion zwar noch die Oberhand hatte, die gegnerische aber immer mehr Kräfte zu einem Hauptschlage sammelte, glaubten die eidgenössischen Orte mit bewaffneter Macht einschreiten zu sollen. Allein da die katholischen Kantone mit dem Bischöfe von Chur ein Programm in 15 Artikeln entworfen hatten, welches statt einer unparteiischen Vermittelung die Unterstützung der Ziele der spanischen und der klerikalen Partei bezweckte, so trat Zürich vom Zuge zurück, was die Folge hatte, dass derselbe ganz unterblieb. Inzwischen hatte sich im August ein viertes Strafgericht in Ilanz gebildet, welches nun, um more Rhseto die Kosten der vorherigen Tribunale zu decken, über Männer beider Geschichte des biindnerischeu Oberlandes.60

Parteien eine grosse Menge von Geldbussen verhängte, wobei freilich die flüchtig Gewordenen am schlimmsten wegkamen. Am Ende des Jahres löste auch dieses Gericht sich endlich auf.

Die folgenden zehn Jahre verflossen zwar ruhiger, aber es war die Ruhe, die dem Sturme vorhergeht. Bünden hatte zwar schon im Jahre 1613 die Allianz mit Venedig gekündigt, allein diese Republik, zu ihrem Kriege gegen die Uskoken grossen Zuwachses an Mannschaft höchst bedürftig, liess dessen ungeachtet unter Austheilung bedeutender Summen im Lande werben. Zweimal brachte die spanische Faktion wieder ein Strafgericht gegen die Reisläufer zu Stande und bewirkte sogar die in brutaler Form erfolgte Ausweisung des venetianischen Gesandten, allein die Sprüche des zweiten Tribunals wurden von einem dritten Gerichte in Ilanz im Jahre 1617 wieder umgestossen. Da nun Anfangs des folgenden Jahres die « Spanischen doppelt ergrimmt, weil ein neuer Bündnissantrag seitens Spaniens in Folge der Agitationen der Prädikanten ( evangelischen Pfarrer ), zugleich aber auch mit Rücksicht auf die Abmahnung seitens der Stände Zürich und Bern war abgewiesen worden, eine Kqrnsperre gegen Bünden vom spanischen Statthalter in Mailand erwirkt hatten, constituirte sich zuerst ein Strafgericht in Thusis ( 1613 ), welches unter dem Drucke namentlich der Unter-Engadiner Fähnlein, von den Prädikanten, an deren Spitze Georg Jenatsch, Bonav. Toutsch und Blasius Alexander durch rücksichtslosen Eifer und Entschlossenheit hervorragten, den Hauptführer der spanischen Partei, Rud. Planta, in seinem Schlosse Wildenberg belagerte, ohne jedoch seiner habhaft zu werden, da er nach Tyrol entfliehen konnte.

Statt seiner nahmen die Fähnlein, in das Veltlin und nach dem Bergeil ziehend, dort den Erzpriester Rusca, hier den greisen Prévost Zambra, beide allerdings eifrige Förderer der spanischen Interessen, aber der ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht überwiesen, gefangen, und Beide wurden nach schwerer Folterung hingerichtet. Gegen beide Planta, den Bischof von Chur und eine Menge anderer Anhänger der spanischen Partei verhängte das in Thusis nun versammelte Strafgericht, und zwar in unregelmässigem Verfahren, theils Verbannung, theils Achterklärung, theils Geldstrafen. Der Gegenschlag blieb nicht aus. Im Jahre 1619 erhielten die Verbannten der Spanischen zumal auf Fürsprache Gueffiers, des französischen Gesandten, dessen mehr als zweideutige, den Bünden sogar feindselige Politik von jetzt an sich immer mehr offenbart, Erlaubniss zur Rückkehr, und benutzten dieselbe sofort, um in den katholischen Thalschaften, zumal in Misox, Dissentis und Lugnetz das Volk aufzuwiegeln. Es gelang ihnen dies so gut, dass je 300 Mann aus diesen Hochgerichten im April nach Ems, später nach Chur hinabstiegen, denen sich dann im Mai auch die Fähnlein von Bergell O. P. und von Oberhalbstein anschlössen. Zu gleicher Zeit aber rückten die Unter-Engadiner, die von Unter-Porta und Fürstenau ebendahin, jedoch nur in die Vorstadt des « wälschen Dörflein ». Mehr als einmal wurden Abtheilungen beider Heere in kleinen Scharmützeln handgemein, während in Chur selbst ein durchaus spanisch gesinntes Straf- « gerieht die Urtheile des Thusner Tribunals aufhob und Execution gegen die renitenten Unter-Engadiner be~ ^sehloss.

Diese kam aber nicht zu Stande, vielmehr ergossen sich die Fähnlein der Venetianischen aus ganz Engadin, Münsterthal, Prätigau nach Zizers. Jetzt entflohen die Verbannten auf 's Neue, und die Venetianischen wiesen Gueffier aus dem Lande, ein zwar durchaus gerechter, aber unvorsichtiger Beschluss, der die schlimmsten Folgen hatte. Mittlerweile waren auch die evangelischen Oberländer und die Schamser und Heinzenberger ihren Glaubensgenossen zu Hülfe geeilt und lagen in Ems; die Katholiken hatten sich in Chur -einquartirt, das nun fast auf allen Seiten cernirt war. Als dann die Vereinigung sämmtlicher evangelischer Schaaren in Ems erfolgt und ein Ausfall der Spanischen von diesen zurückgeschlagen worden, legten die Katholiken die Waffen nieder und gingen nach Hause; Chur unterwarf sich und das Strafgericht der spanischen Partei war gesprengt ( Oktober ). Ein neues Strafgericht in Davos vermittelte; es wurde eine Ge-neralamnestie für Alle, mit Ausnahme der acht am schwersten Compromitirten verkündet. Fortan hatte -diese Behörde jedoch sich mehr mit der immer bedenklicher sich gestaltenden Lage der Dinge im Veltlin -zu beschäftigen, das schon seit längerer Zeit, zumal aber seit Rusca's Hinrichtung fieberisch aufgeregt und durch einheimische und fremde Wühler unterminirt war. Zu diesen gehörte ausser den spanischen Emis-sären auch Gueffier. Als dann in Boalzo zwischen den Anhängern beider Konfessionen über die Benutzung der Kirche ein Streit ausgebrochen war, und die Com- missäre des Davoser Strafgerichtes die Urheber des Auflaufes, dortige Mönche, auswiesen, kam die Rebellion bald darauf, am 18. Juli 1620, zum Ausbruche-Obwohl von vielen Seiten, besonders von Venedig und?

dessen Gesandten, Vico, gewarnt, hatten die Häupter und das Strafgericht es unterlassen, bündnerische Besatzung in das Veltlin zu legen. So traf die Ausführung des Mordplanes die Opfer ganz unvorbereitet. I » Tirano begann Ritter Robustelli mit gedungenen Mör-dern das Gemetzel; hier und in allen Gemeinden des oberen und mittlern Terziere, wo einheimische und bündnerische Protestanten wohnten, wurden dieselben theils in ihren Häusern, theils auf den Gassen und in den Kirchen hingemordet, in Tirano und Teglio auch die bündnerischen Amtleute. In Sondrio, dem Hauptorte-des Veltlins, fielen 180 Evangelische. Weit geringer war die Zahl der Opfer in Trahona und Morbegno, wo ein besserer Geist geherrscht zu haben scheint; i » letzterem Orte erhielten die Protestanten sogar freien Abzug. Im Ganzen wurden 5—600 derselben im Veltlin hingeschlachtet, darunter mehrere aus den vornehmsten Familien des Landes und Bündens. Wegen der Nähe der herrschenden Lande und der grossen Zahl der Evangelischen in Olafen blieb es hier ruhig: auch in Bormio erfolgte keine Mordthat. Aber selbst auf Btindner Gebiet, nach Brusio, wagte sich Robustelli's-Mörderbande: hier fielen 27 Personen und 20 Häuser von Evangelischen wurden eingeäschert.

Ein Schrei der Entrüstung und des Zornes ging durch ganz Bünden und die reformirte Schweiz bei der Kunde von dieser Veltliner Bartholomäusnacht- Sofort wurden von Häuptern und Strafgericht Truppen nach Cläfen zum Schütze der dortigen Evangelischen und in 's Veltlin zur Bestrafung der Mörder, sowie zur Niederwerfung der Rebellion entsandt und zugleich die Stände Bern und Zürich um Hülfe angesucht.

Ehe Letztere anlangte, waren etliche tausend Mann aus den Bünden aufgebrochen, hatten den Pass bei Riva forcirt und fast überall — nur an der Gandenbrücke erlitten sie eine kleine Schlappe — die Rebellen geschlagen. So schien Alles den gewünschten Erfolg zu versprechen. Da trat eine verhängnissvolle, schmähliche Wendung ein. Theils um die grosse gemachte Beute in Sicherheit zu bringen, theils auch weil die katholische Mannschaft unter den Truppen, von den Veltlinern heimlich aufgewühlt, schwierig zu werden begann, traten die Mannschaften den Rückweg an, ohne ihre Aufgabe gelöst zu haben. Dies hatte abgesehen von allem Uebrigen, auch den Nachtheil, dass die in Brusio liegende, sehr exponirte Bündner'sche Besatzung überfallen und niedergemetzelt wurde. Gleichzeitig war Rud. v. Planta mit österreichischen Truppen in das Münsterthal eingebrochen und hatte mehrere Dörfer ausgeplündert und verbrannt; gegen 500 Thalbewohner, welche Oesterreich nicht huldigen wollten, wanderten nach dem Engadin aus.

Im August marschirten die Hülfstruppen von Bern und Zürich, unter Nikolaus von Mülinen und Oberst Steiner, 3000 Mann stark, nebst einem kleinen Heerhaufen Bündner, meist Prätigauer unter Oberst Guler, in das Veltlin. Trotz grosser Tapferkeit richtete auch dieses Heer wenig aus; es war unterwegs, zumal in der rasch wieder eroberten Grafschaft Bormio, zu viel Zeit um auf Munition zu warten, an welcher, auffallend genug, grösser Mangel herrschte, versäumt und dadurch den Spaniern und Yeltlinern Gelegenheit verschafft worden, Tirano zu befestigen.

Nichtsdestoweniger wäre, auch nachdem Mülinen und fast alle seine Hauptleute und 200 Mann heldenmüthig kämpfend, in einem Hinterhalte gefallen waren, der Ort erstürmt und das Rebellenheer geschlagen worden, das bereits zur Flucht sich anschickte, wenn die vordringenden Bündner von den weiter hinten stehenden Zürchern wären unterstützt worden. In Folge der Entmuthigiuig der Truppen musste von Worms aus der Rückzug nach Bünden angetreten werden.

Das Scheitern dieser beiden Feldzüge hatte die fernere Folge, dass die katholische Bevölkerung des oberen Bundes, voran die Hochgerichte Misox, Dissentis und Lugnetz, nunmehr ganz ungescheut mit ihren hochverrätherisehen Sonderplänen hervortraten. Das Oberland nahm eine Besatzung von 300 Mann aus den fünf Orten ein, und zwang auch die evangelischen Gemeinden zu gemeinsamem Vorgehen. Es handelte sich um nichts Geringeres als um einen Sonderbund mit Mailand. Dort unterhandelte der Hauptwühler der Misoxer, Anton Giover, mit dem spanischen Statthalter zu dem Zwecke, dass das Veltlin nach Ausrottung aller Ketzerei daselbst nur dem obern Bunde zurückgegeben werden sollte, wogegen man Spanien die Pässe zu öffnen sich verpflichtete. Ja, man wagte sogar diesen Vertrag dem Volke der beiden andern Bünde zur Ratifikation vorzulegen. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass derselbe fast einhellig, sogar von den Katholiken des Gotteshausbundes verworfen wurde.

Die Ermordung von Pompejus Planta in seinem Schlosse Rietberg durch Jenatsch, Alexander und Toutsch war das Losungszeichen für die Anti-spanischen im Unterengadin um loszuschlagen. Verstärkt durch Oberengadiner und Bergeller marschirten sie durch das Albulathal und den Schy n, 800 Mann stark in das Domleschg, schlugen die Misoxer und Oberländer bei Thusis, drängten diese und die Fünförtischen aus dem Gericht Im Boden gegen Valendas hin. In Reichenau zogen sie die Fähnlein von Chur, Prätigau und der vier Dörfer an sich und mit ihnen vereinigt verfolgten sie die Zurückweichenden. Bei Valendas stellten sich Letztere in der Nacht vom 2./3. April: sie erlitten aber eine Niederlage und verloren 200 Mann. Nun zogen die Fünförtischen aus dem von ihnen terrorisirten Oberlande ab, die Bündner fortwährend ihnen nachdrängend, um das geraubte Vieh und andere Beute ihnen abzunehmen. Trotz des hohen Schnees, der noch auf der Oberalp lag, erreichten die Verfolger die Fünförtischen nahe der Grenze und jagten ihnen die Beute ab; in wilder Flucht stürmten jene nach Urseren hinab. Unter dem Eindrucke dieser Niederlage sagten die Oberländer vom Sonderbunde mit Mailand sich los und beschworen den Bundes Brief. Auch das untere Vicariat von Misox, welches sich noch renitent zeigte, wurde durch Waffengewalt zum Gehorsam zurückgeführt und mit einer Besatzung belegt.

Während nun von Ende Aprils an eine Zeit lang Euhe im Lande herrschte, war die Diplomatie thätig.

Drei Gesandtschaften, unter denen zweimal die Geschichtschreiber Fort. v. Juvalta und Fort. v. Sprecher, gingen nach einander nach Innsbruck und nach Imst, um mit den österreicliiscli-tyrolischen Behörden über die Rückerstattung des Münsterthals zu verhandeln; sie konnten aber nichts ausrichten, da sie bald erkannten, dass Oesterreich die Bündner hinhalten wollte, um seine weiteren Eroberungspläne in gegebenem Momente in 's Werk zu setzen. Zu gleicher Zeit unterhandelte Frankreich^ ausserordentlicher Gesandte in Madrid, von Bassompierre, über die Zurückgabe des Veltlin's. Es kam allerdings der sogenannte « Madrider Tertrag » zu Stande, da aber in demselben die Bürgschaft der XIII Kantone für die Einhaltung der Bedingungen Seitens der Bünde ausbedungen war, und Spanien unter der Hand die katholischen Orte veranlasste, ihre Garantie zu verweigern, so blieb dieser Traktat ohne Wirkung. Doch bot nun der Statthalter von Mailand, Herzog von Feria, nochmals ein spanisches Bündniss und zugleich die Erstattung der Unterthanenlande unter der einzigen Hauptbedingung an, dass die reformirte Religion aus denselben fern gehalten werde. Leider wies man, von den Prädikanten gedrängt, diesen Antrag auch jetzt zurück, und beging zugleich die Thorheit, während dieser Unterhandlungen einen Zug nach Worms zu unternehmen, um von hier aus das Veltlin wieder zu erobern. Georg Jenatsch war der Haupturheber dieser Unternehmung;

die Teilnahme der Oberländer an derselben erzwang er durch terroristische Massnahmen.

Allein während dieser Zug, ohne Ueberlegung und trotz ernster Warnungen von Venedig her begonnen und ohne Energie ausgeführt, zwar nicht mit einer Niederlage, aber in Folge des Mangels an Proviant und Belagerungsgeschütz mit einem Rückzuge endete, waren die Spanier und Oesterreicher, den Wormser Zug als willkommenen Vorwand benutzend, auf drei Seiten in Bünden eingefallen. In's Prätigau, wo Brions 800 Mann von den Thalbewohnern mit grossem Verluste zurückgeworfen werden, und erst später einer weit grössere Truppenzahl die Eroberung gelingt; in 's Unterengadin, wo Baldiron ebenfalls mit bedeutender Uebermacht alle Kräfte aufbieten muss, um den Inn-übergang zu forciren, endlich im Bergell, dessen Bevölkerung von Serbelloni sofort Kapuziner und Soldaten in die Quartiere gelegt wurden.

Bünden war jetzt in der Gewalt des Feindes und zwar der Zehngerichtenbund und das Unterengadin als Unterthanenländer, die übrigen Landesgegenden zwar nicht dem Namen aber der That nach ebenfalls unter der spanisch-österreichischen Botmässigkeit. Den braven Prätigauern ward sogar die Schmach, knieend die Huldigung zu leisten, nicht erspart; auch wurden sie vollständig entwaffnet. Im Gefolge dieser politischen Unterjochung kamen auch hier und im Unterengadin Schaaren von Kapuzinern an, um nun auch die religiösen Gefühle des Volkes zu knechten; alle Drangsale der Eroberung durch eine wilde Soldatenrotte, Plünderung, Raub, Brand, Todtschlag und Schändung suchten die unglücklichen Thäler der Lanquart und des Inn heim.

Die Führer der venetianischen Partei Ävaren in die Schweiz geflohen, wo sie aber damals fast überall nicht blos mit Kälte aufgenommen, sondern mit einziger Ausnahme von Appenzell A.Rh. weggewiesen wurden. Abgesandte des Oberen und des Gotteshausbundes begaben sich nach Mailand und brachten die schimpflichsten vom übermüthigen Sieger abgepressten Verträge heim.

Dieser unerträgliche Zustand dauerte bis in den Monat April des Jahres 1622. Im Prätigau wollte Baldiron soeben zwangsweise die katholische Religion einführen, und hatte zu diesem Ende auf Palmsonntag den 24. April eine Abstimmung hierüber in allen Gemeinden anberaumt. Unter dem Drucke der Waffen hoffte er überall eine zustimmende Mehrheit zu erhalten. Da brach der schon seit Wochen heimlich vorbereitete Aufstand an eben diesem Sonntage aus. Nur mit nägelbespickten Keulen bewaffnet, griff das Landvolk von Conters und Saas an bis Seewis und Grüsch hinaus die Besatzungen an und erschlug oder sprengte sie iu die Lanquart, wo ihrer mehrere Hunderte ertranken. Nach wenigen Tagen musste auch die Besatzung des festen Schlosses Castels bei Luzern kapituliren. Fast überall, zumal in Schiers betheiligten sich auch die Frauen und Mädchen am Kampfe. Unter Anführung des Freiherrn Rudolph vou Salis-Grüsch, Thüring Enderlin und J. P. Guler erfochten nun die heldenmüthigen Prätigauer, anfangs nur von wenigen Freiwilligen, dann aber von angeworbenen Regimentern aus der Eidgenossenschaft unterstützt,

Sieg auf Sieg; bei Maienfeld und Fläsch, an der Molinära u. s. w. wurden die Generale und Obersten Baldiron und Reitnau, überdies fast immer mit bedeutendem Verluste, geschlagen; zuerst musste das stark befestigte Maienfeld, dann im Juni auch Chur, wo Baldiron lagerte, der das ganze Schanfigg mit Plünderung und Feuer heimgesucht hatte, sich ergeben. So gross war der Schrecken der feindlichen Söldner vor den « Prätigauer Prügeln », dass neue erst aus dem Elsass angelangte Hülfsmannschaft zu fechten sich weigerte, und zurückgeschickt werden musste.

Da inzwischen die Katholiken des oberen Bundes zuerst eine neutrale, dann auf auswärtige Instigation hin eine feindselige Haltung gegenüber dem Aufstande angenommen und abermals ein Einfall von Mannschaft aus den Urkantonen zur Unterstützung der katholischen Oberländer erfolgt war, rückte Salis in das Oberland ein und erwirkte bei den meisten Hochgerichen, Lugnetz und Dissentis ausgenommen, die Lossagung der Gemeinden von dem schimpflichen Mailänder-Verträge, und die Beschickung eines Bundestages in Chur. Auch jene renitenten Hochgerichte unterwarfen sich, als Salis bis Truns vormarschirte, und die Dreiörtischen über die Oberalp zurückdrängte; sie mussten jedoch 9000 Kronen Busse bezahlen, welche Salis an seine Mannschaft austheilte. Der Bundestag erliess eine allgemeine Amnestie, beschloss die Beschwörung des Bundesbriefes durch die Gemeinden und den Verzicht auf das spanische Bündniss und ernannte Salis zum General und Oberanführer über die bündnerische Armee, zu welcher jeder Bund 1200 Mann zu stellen hatte.

Hiermit schloss die Befreiung des Landes diesseits der Berge; das Volk hielt sie vielleicht für dauernd, allein nur zu bald sollte es darüber enttäuscht werden. Oesterreich und Spanien konnten die furchtbare militärische und moralische Demüthigung. von einem nur mit Prügeln bewaffneten Yolksheere überwunden worden zu sein, nicht ungeahndet lassen. Während Salis vom Unterengadin aus, wo er die Österreicher unter Baldiron und Fuchs in mehreren Treffen geschlagen, statt den Feind sofort aus dem Lande zu werfen, unnöthigerweise einen Streif- und Beutezug in das Montafun gemacht, war Graf Alvig von Sulz mit einem 8—10,000 Mann starken Korps in das Engadin eingebrochen. Salis, durch'den Heimmarsch der Hälfte der Prätigauer in die vom Feinde bedrohete Heimcath und durch die Desertion vieler eidgenössischer und fremder Angeworbener sehr geschwächt, vom Bundestage trotz dringender Mahnungen ohne Suceurs gelassen, musste sich, nachdem er in Val Tasna eine Schlappe erlitten, mit sehr weniger Mannschaft nach Davos zurückziehen, wohin ihm der Feind über Scaletta nachfolgte. " Wäre dieser wichtige Pass von den Davosern rechtzeitig und mit genügender Mannschaft besetzt worden, so würde von nun an der Krieg wohl eine ganz andere Wendung genommen haben. So aber musste Salis auch von Davos sich zurückziehen. In Klosters, wo sich, wieder Truppen sammelten, ward trotz der grossen feindlichen Uebermacht ein letzter Kampf bei Kaschnals beschlossen. Dort in der Nähe von Saas stellten sich die wenigen bündnerischen und eidgenössischen Kompagnien auf. Bald erschien Graf Sulz mit seinem Heere;

auch hier wurde den Bündnern, welche den Feind zweimal zurückschlugen, vielleicht jetzt noch der Sieg zu Theil geworden sein, wären nicht bei der Aufstellung einige Fehler begangen worden. Um den Untergang der Freiheit des Vaterlandes nicht zu überleben, weiheten sich dreissig Prätigauer, noch im Sterben dem Feinde furchtbar, dem Tode.

Nun erfolgten die Eacheakte der frevelnden Sieger auch im Prätigau und der Herrschaft Maienfeld. Wie sie im Unterengadin und in einem Theile von Davos alle Dörfer und Höfe ausgeplündert und in Asche gelegt, und mordlustig auf Baldiron's Geheiss eine Menge von Gefangenen hingeschlachtet, so übergaben sie auch hier sämmtliche Ortschaften mit Ausnahme des Städcliens Maienfeld dem Feuer. Wer nicht in die Eidgenossenschaft entfliehen konnte, war der Barbarei der Soldateska preisgegeben.

Der Zehngerichtenbund und das Unterengadin wurden durch den Lindauer Vertrag ( Sept. 1622 ) von den zwei andern Bünden wiederum völlig getrennt und als österreichische Unterthanenlande erklärt, und blieben solche bis 1628; aber auch der obere und der Gotteshausbund mussten sich in politischen und kirchlichen Dingen grosse Demüthigungen gefallen lassen. Das Veltlin ging als Depositum in die Hände des Papstes über. In Puschlav feierten die Katholiken ebenfalls eine Mordnacht ( 2. April 1623 ) und im Veltlin dauerte das Hinmetzeln von Einzelnen und zwar nicht blos ton Evangelischen, jetzt meist nur um Erbschaften oder Schulden willen, noch immer fort.

6 Mit dem Verluste der Freiheit und des grösseren Theiles der Habe war das Maass der Leiden in den eroberten Thälern nicht erschöpft.

Es folgten eine grosse Hungersnoth ( 1622 23 ) und Seuchen, und wenige Jahre später die Pest, welche von 1629—31 in ganzr Bünden mehr als 20,000 Menschen hinwegraffte.Von ihr wurde auch das Oberland schwer heimgesucht. Von den Männern, welche im Jahr 1622 so helden-mütliig für die Freiheit gestritten und deren Untergang erlebt, sahen wohl nur Wenige die Wiederaufrichtung der III Bünde von Alt-Frei-Rhätien.

Sie erfolgte mehr durch das Werk beharrlichster Ausdauer und unglaublicher Schlauheit patriotisch gesinnter Männer, so wie der politischen Missgunst rivalisirender Grossmächte, von den Bündnern klug benutzt, als durch die ebenfalls mitwirkende Waffengewalt. Nachdem im Spätherbst des Jahres 1624 ein französisches Heer unter dem Marquis de Coeuvres das Veltlin in einem kurzen, fast unblutigen Feldzuge unterworfen, schloss Frankreich im März 1626 mit Spanien den mit Recht infam genannten Vertrag von Monzone, welcher die Bünde zwar wieder in Besitz der Unterthanenlande setzen sollte, ihnen aber nur eine nominelle Herrschaft über dieselben einräumte ". Da Bünden diesen Vertrag natürlich verwarf, so ging Veltlin ( 1627 ) wieder in päpstliches Depositum über. Im Jahre 1629 erfolgte ein dritter und letzter Einmarsch der Oesterreicher in Bünden, und in seinem Gefolge kehrten neue Leiden des Hungers, der Glaubensverfolgung und eben jener furchtbaren Pestkrankheit ein. Erst zwei Jahre später zogen die fremden Truppen wieder ab.

Nun schien es vier Jahre hindurch, als ob Frankreich, dessen Einfluss in Bünden tief herabgesunken war, gesonnen wäre, denselben durch Eroberung und Rückgabe des Veitlins wieder zu gewinnen, allein auch jetzt war Alles eitel Spiel und Täuschung. Erst nachdem der Sieg bei Nördlingen über die Schweden unter Banér die Machtstellung des Kaisers in Europa in bedrohlichem Grade gesteigert hatte, raffte Richelieu sich auf, und ertheilte dem protestantischen Herzoge von Rohan, einem der grössten Heerführer seiner Zeit, im März 1635 Marschordre mit drei bündnerischen und drei französischen Regimentern in das Veltlin. in vier Schlachten in Val Livigno, Val Fraele, bei Mazzo und Morbegno, in welchen die Bündner Truppen abermals Wunder der Tapferkeit verrichteten, schlug er die kaiserlichen und spanischen Generale Fernamond und Serbelloni, deren Truppen grosse Verluste erlitten. Das Veltlin und die Grafschaften Cläfen und Worms wurden erobert und die Bünde forderten nunmehr die Rückerstattung dieser Länder. Jetzt aber zeigte es sich von Neuem, dass Frankreich mit dem Plane umging, in Bünden, der wichtigen Pässe wegen, selbst festen Fuss zu fassen, oder das Land durch harte Bedingungen von sich abhängig zu machen, indem neben andern drückenden Stipulationen fortwährend der völlige Ausschluss des evangelischen Kultus aus den Unterthanenländern zur « conditio sine qua non » gemacht wurde. So dringend auch der Herzog von Rohan, der wahre und in allen Lagen treue Freund der Bündner sich bei Hofe für sie verwendete, und unter Anderm auch die endliche Zahlung grosser Sold- rückstände forderte, so oft er warnte, den Einfluss Frankreichs nicht von Neuem auf 's Spiel zu setzen, so gelang es ihm erst, als es zu spät war, politische Zugeständnisse und die verlangten Soldzahlungen zu erhalten.

Denn inzwischen hatte unter Leitung des Obersten Georg Jenatsch, der die Seele aller öffentlichen und geheimen Unterhandlungen, und aus patriotischen Motiven sogar katholisch geworden war, ein aus 30 der tüchtigsten und angesehensten Männer des Landes bestehender, geheimer Bund, der sog. Kettenbund sich gebildet, zu dem Ziele, das Yeltlin den Franzosen zu entreissen und Bünden selbst von ihrer Gegenwart zu befreien. Insgeheim hatte diese Verbindung auch mit Oesterreieh und Spanien sich in 's Vernehmen gesetzt, und von diesen Mächten nicht blos, wenn nöthig, Zusicherung von Hülfe, sondern auch diejenige völliger Restitution der Unterthanenlande erhalten. Es verdient bemerkt zu werden, dass selbst eine Reihe angesehener Katholiken des Oberlandes nunmehr mit den Protestanten gemeinsam auf jenes Ziel hinarbeitete. Als die Zeit zum Handeln gekommen war, erliessen die Häupter mit Zuzug am 18. März 1637 an die Gemeinden einen Aufruf, die Waffen zu ergreifen, und die in der Rheinschanze, zwischen der oberen und der Tardisbrücke lagernden fremden Regimenter anzugreifen und aus derselben hinauszuwerfen.

Um Blutvergiessen zu verbinden, schloss der edle Herzog von Rohan, der durch diesen Schritt seinen Feldhemiruhm auf das Spiel setzte, und sich für immer die Möglichkeit der Rückkehr nach .Frank- reich verschloss, eine Convention ab, durch welche er sich verbindlich machte, seine Truppen nicht blos aus Bünden, sondern auch innerhalb einer gewissen kurzen Frist aus dem Veltlin abziehen zu lassen, und dasselbe nebst allen dortigen festen Plätzen den Bündnern zu übergeben.

Bei dieser Convention beharrte Rohan auch dann, als General de Lecques ihm einen sicheres Gelingen versprechenden Plan vorlegte, Jenatsch und die übrigen bündnerischen Obersten in Chur zu überfallen und zu tödten und hierdurch der verlornen Stellung sich wieder zu bemächtigen. Im Mai verliess Rohan das Land; kaum ein Jahr später fiel er vor Rheinfeld im Elsass.

Es schien nun jedes Hinderniss gegen die wirkliche Besitznahme der Unterthanenlande hinweggeräumt; allein nun hielt Spanien mit deren Zurückgabe unter allerlei Ausflüchten zurück. Als aber Jenatsch in Mailand die Entlassung der Bündnertruppen aus spanischem Dienste ( um sie gegen Spanien zu verwenden ) forderte und mit der Zurückrufung der Franzosen drohte, gab das Madrider Cabinet endlich nach, und schloss am 3. September 1639 das Capitulât und den ewigen Frieden mit .Bünden zu Mailand ab, durch welchen Veltlin und die zwei Grafschaften wieder in den völligen und alleinigen Besitz der III Bünde übergingen. Mit Ausnahme von Cläfen ( in geheimem Artikel ) war aber den einheimischen Reformirten der dauernde Aufenthalt in diesen Landschaften untersagt. Durch den Traktat von Feldkirch ( 1641 ) wurde dann auch die Erbeinigung mit Oesterreich wieder her- gestellt, und in den Jahren 1649 und 1652 kauften die acht Gerichte und das Unterengadin um die Summen von 91,000 und 26,000 fl. sich gänzlich von Oesterreich los.

III. Abschnitt.

Vom ersten Mailänder Capitulât bis zum Ende des XVHL Jahrhunderts.

Von nun an herrschte anderthalb Jahrhunderte hindurch, wenn auch keineswegs völlig Ruhe, doch Frieden im Lande bis im Jahr 1799 die Kriegs-fakel, von aussen hineingetragen, wieder aufloderte. Die furchtbaren Wirren und Leiden der letzten 30 Jahre hatten den wilden unbändigen Trotz, den Trieb schrankenloser Unabhängigkeit des Bündnervolkes gebeugt, und das Bewusstsein, jene Drangsale zum Theil selbst verschuldet zu haben, wachgerufen. Das Bedürfniss eines dauernden Friedens war so mächtig geworden, dass wir von nun an eine Reihe von Streitigkeiten, welche früher unzweifelhaft den Bürgerkrieg im Gefolge gehabt hätten, ohne allezu grosse Mühe friedlich sich beilegen oder in Intriguen verlaufen sehen. Am Frieden und Bündnisse mit Spanien ward trotz Verlockungen und Drohungen von Seiten Frankreichs unentwegt festgehalten, bis das Herzogthum Mailand im spanischen Erbfolgekriege an Oesterreich überging. Bis zum Beginne des achtzehnten Jahrhunderts brachten nur wenige politische Ereignisse eine Störung in die Ruhe des Landes;

so der Waser'sche Handel ( 1644 ) zwischen Davos und den übrigen neun Gerichten über die Hegemonie jener Landschaft im Zehngerichtenbund; das Monastergeschäft mit seinem Strafgerichte, an und für sich unbedeutend, aber wichtig wegen der daraus hervorgegangenen Landesreforma ( 1684 ) und ein zweites kleines Strafgericht vom Jahr 1694, wegen künstlich gesteigerter Theuerung entstanden, welches Zusätze zur Reforma im Gefolge hatte.

Dass indessen die alten politischen und konfessionellen Gegensätze im Volke, zumal demjenigen des Oberlands noch immer bestanden, bewies unter Anderem ein Vorfall, der im Jahr 1701 sich ereignete. Eine Streitigkeit in der paritätischen Gemeinde Sagens in der Gruob um Antheil an kirchlichen Rechten und Nutzniessungen, jedoch mit einem Hintergrunde von Familienzwistigkeiten, führte in Gegenwart von selbst bedroheten Kommissären der Häupter anfänglich zu einer in dieser Gegend nichts weniger als seltenen Rauferei zwischen Katholiken und Protestanten, an welcher sich auch die Katholiken von Schleuis betheiligten. Der übertreibende Hülferuf des Dieners eines der Kommissäre, v. Capol von Flims, bewirkte das bewaffnete Herbeiströmen der Fähnlein zunächst fast sämmtlicher Gemeinden des Oberlandes, dann bald auch derjenigen von Chur, des Prätigau, selbst des Engadin u. s. w., während anderseits auch alle katholischen Ortschaften des Oberlandes in Masse sich bewaffneten, und unter dem Oberbefehle des Obersten della Torre ( Latour ) nahe bei Ruis sich aufstellten.

Die Lugnetzer, zuerst aufgebrochen, waren, über die Sachlage genauer unterrichtet, wieder in ihr Thal zurückgekehrt, hielten sich aber bereit, auf den ersten Ruf ihren Glaubensgenossen zu Hülfe zu eilen. Ein Bürgerkrieg schlimmster Art schien unvermeidlich. Aber theils Latour's kluge Zurückhaltung, theils das rasche Einschreiten verständiger und einflussreicher Männer beider Partheien verhinderte einen Zusammenstoss. So rasch als sie herangebraust, ebenso rasch verlief sich diese Fluth eines konfessionellen Volks-auflaufes und die einzigen Leidensträger in dieser tragikomischen Episode waren die Katholiken von Sagens und Schleuis, deren sämmtliche Küchen- und Keller-vorräthe von den Prätigauern und Churern waren aufgezehrt worden. Eine endliche Schlichtung dieses Handels, die immerhin mehr zu Gunsten der Katholiken als der Reformirten zu Sagens ausfiel, erfolgte doch erst 41 Jahre später, nachdem diese Angelegenheit viele Male vor Bundestagen und Gemeinden war verhandelt worden. * )

Obwohl von den katholischen Orten um Hülfe im Toggenburgerkriege ( 1712 ) gemahnt, verhielten sich die katholischen Oberländer dennoch neutral, so sehr auch einige Heisssporne, wie die Landrichter Castelberg und Yincenz sich um eine offene Parteistellung zu Gunsten der katholischen Eidgenossen bemühten. Dagegen liess der obere Bund es seinen Evangelischen

* ) Näheres über den Sagenser Handel und die folgenden politischen Ereignisse findet sich in: Sprecher, Geschichte der Eepublik der III Bünde im XVIII. Jahrhundert. Chur 1872/73.

ungewehi't, dem Aufgebote des Bundestages zu dem Zuzüge für die Armee der Reformirten Folge zu leisten. Als in den Jahren 1710 und 1711, also gegen Ende des spanischen Erbfolgekrieges, die französische Partei in Bünden die grössten Anstrengungen machte, um an 's Ruder zu gelangen, gelang es ihr in der That, den Führer der österreichischen Faktion, den Rathsherrn Thomas Massner von Chur in einen Prozess zu verwickeln, welcher zu dessen und seiner Anhänger Sturze führte. Massner hatte als Repressalie für die heimliche Entführung seines noch jugendlichen Sohnes in französische Gefangenschaft, zuerst den in Chur residirenden Sekretär der französischen Botschaft in Solothurn, Merveilleux, einen ruchlosen Intriganten verhaftet, dann als dieser unter Bruch seines Ehren-wortes entflohen war, sogar einen durch Bünden reisenden Verwandten Ludwigs XIV., den Grossprior v. Vendôme aufgegriffen und nach Oesterreich ausgeliefert. Da das Volk in Bünden, so lange es sich lediglich um die Bestrafung einer, wenn auch von den Geboten der Klugheit nicht gerechtfertigten, aber doch sehr entschuldbaren Repressalie wegen Kindesraub handelte, mit seinen Sympathien auf Massner's Seite stand, so nahmen die Franzosen und ihre wohlbezahlten Anhänger ihre Zuflucht zu den gefährlichsten Angriffen auf den Privatcharakter des Hauptes der österreichischen Partei, und in dessen Vergangenheit wühlend, fanden und erfanden sie die gravirendsten gemeinen Verbrechen. Jetzt wendete sich die Gunst des Volkes von ihm ab. Ein Strafgericht verurtheilte den flüchtig Gewordenen zum Tode und confiscirte sein grosses Vermögen. Schon im folgen- SOv.

Sprecher.

den Jahre ( 1712 ) soll der Unglückliche — Sicheres ist hierüber noch immer nicht bekannt — durch einen Sturz mit seinem Wagen den Tod gefunden haben.

In diesem Handel, in dessen Hintergrunde wiederum, wenn auch weit weniger accentuirt, confessionelle Motive mitwirkten, hatte der grössere Theil der Oberländer, selbst viele Reformirte, in leidenschaftlicher Weise für Frankreich Partei ergriffen, in dessen Solde die Mehrzahl der hervorragenden Yolksführer stand.

Dass in den viermal wiederkehrenden Streitigkeiten ober die Bischofswahl ( 1692, 1728, 1754, 1777 ) das Oberland und mit ihm der ganze obere Bund gegen den Gotteshausbund, welcher auf die Ilanzer Artikel gestützt, nur die Wahl eines aus seiner Mitte hervorgegangenen Bischofs anerkennen zu können erklärte. Partei ergriff, war um so eher zu erwarten gewesen, als in allen vier Fällen Oberbündner unter den Candi-daten auf den Bischofssitz sich befanden. Zweimal trugen diese in den Personen von Bischöfen aus der Familie von Federspiel den Sieg davon, und in den beiden andern Fällen unterstützte der obere Bund sogar die Candidatur von Landesfremden, nämlich der österreichischen Domherren von Rost, welche in der That gewählt wurden. So weit hatten die Parteien bei der Wahl des Bischofs J. B. v. Rost ( 1728 ) sich erhitzt, da auch der Zehngerichtenbund von Oesterreich gewonnen, den Letzteren unterstützte, dass Bünden abermals einem Bürgerkriege nahe zu stehen schien. Die Situation war eine um so ernstere und Verwickei-tere, da Oesterreich eben damals in Folge eines im Jahr 1726 mit den Bünden geschlossenen Capitulâtes — die Yerschlimmbesserung des im Jahr 1639 mit Spanien aufgerichteten — die Ausweisung sämmtlicher Reformirten aus Cläfen und den Unterthanenlanden forderte, und auf diesem Verlangen mit einer, die confessionellen Gefühle der Reformirten Bündens auf das Aeusserste reizenden Härte, unter Anwendung von Kornsperren u. s. w. bestand.

Nur der ausdauernden Dazwischenkunft vermittelnder Ehrengesandten von Bern und Zürich war es zu verdanken, dass wenigstens äusserlich der Frieden erhalten blieb.

In den meisten politischen Händeln der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Bünden, besonders in der Angelegenheit der Aufrichtung des dritten Ka-pitulats ( 1762 ) und dem Tomilser Geschäfte, dem Venetianischen Handel ( 1766-1767 ), sowie in den überaus leidenschaftlich geführten Parteistreitigkeiten der Familien Planta, Sprecher und Salis und deren politischen Anhängern stellte sich das Oberland fast immer auf die Seite der Gegner der v. Salis'schen Familie, und selbst die Mehrzahl der Reformirten ergriff in den Jahren 1764-67 Parthei für die Familien Planta und Travers. Die grossen Kämpfe um politische und confessionelle Ideen und Interessen waren nach und nach in kleine, aber nicht minder erbitterte, mit allen Künsten der schlauesten Intrigue geführte Kriege um die Stellung der hervorragendsten Familien aus- geartet; Kriege, die auch das Oberland von den Familien Castelberg, Latour, Schmid v. Grünegg, Gabriel, Marchion, Castell und Andere führen sah. Das Volk beider Confessionen hatte noch Viel von seiner alten tüchtigen Kraft bewahrt, aber neben einem trotzigen Freilieitsgefühl und sittlicher Einfalt auch Rohheit und Neigung zur Selbsthülfe, Missgunst und Habsucht.

Unter solchen Umständen rückte, von den Wenigsten geahnt, jene grosse Revolution in Frankreich heran, welche die Bünde für immer der Unterthanenlande berauben, und das Land selbst in neue Wirren und Kriegsnöthe stürzen, seine völlige Selbständigkeit vernichten, aber durch den Anschluss an die Schweiz seinen Fortbestand als Republik mit wenig veränderter Verfassung für eine lange Reihe von Jahren sicher stellen sollte.

Wir haben einige hervorstehende Züge aus der Culturgeschichte dieser Periode seit 1639 zu erwähnen.

Nach den grossen Leiden des ersten Dritttheils des 17. Jahrhunderts, von welchen auch das Oberland in Hungersnoth und Pestkrankheiten, wenn auch durch Kriegsdrangsale ungleich weniger als andere Landesgegenden betroffen wurde, waren die Dörfer sehr stark entvölkert, manche um mehr als die Hälfte. Nach und nach nahm die Einwohnerzahl in der Friedenszeit wieder zu, die Aecker und Wiesen konnten von Neuem in ausreichendem Masse bestellt werden, und als in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Gesellschaften junger Zürcher Herren mit ihren Magistern das Oberland bereisten, fanden sie überall eine starke Bevölkerung und wohlangebaute Güter; die Bauart der Dörfer, deren Schmutz und das düstere Aussehen der meistens steinernen Häuser gefiel ihnen weniger. Auch den Typus des Landvolkes schildern sie, wohl übertreibend, als hässlich, wild und trotzig;

dies gilt jedoch mehr von den Bewohnern des höheren Oberlandes an den Rheinquellen, als von den tiefer gelegenen Gegenden. Indessen sah man fast in allen grösseren Ortschaften stattliche Herrenhäuser, so in Dissentis, Truns, Brigels, Ilanz, Valendas, Flims, Schleuis und Sagens, in Villa im Lugnetz, zwar mit ungleich weniger reicher und kostbarer Ausstattung, als in den Schlössern und Herrenhausern der Herr- schaft, des Prätigau, Engadin, Bergen, des Domleschg, aber doch war Alles bequem und reichlich vorhanden, zum Theil in uralten Erbstücken bestehend. Hie und da hatte ein aus Spanien, Holland, Frankreich zurückgekehrter höherer Offizier auch elegante Luxusmöbel mitgebracht, allein diese waren seltener vorhanden, als anderwärts.

Man lebte in grosser Einfachheit, wie in Kleidung, so in Speise und Trank auch in den Herrenhäusern; die eigentliche alte Nationaltracht, wenn jemals auch im Oberland eine andere herrschend war, als das stein- graue, selbstgesponnene und gewobene, rauhe Tuch- gewand, von welchem die Oberländer und wohl auch die Graubündner ihren Namen tragen, scheint schon im vorigen Jahrhundert verschwunden zu sein. Molken und an der Luft gedörrtes Fleisch, Brod nebst sehr reichlichen Mengen von Milch bildeten auch hier die Nahrung. Die einzigen Berufsarten im Oberlande waren: Land- und Alpenwirthschaft, Viehzucht und Vieh- handel .Wie das Landvolk die Bestellung der Acker und Wiesen, die Bereitung der Molken, die Aufzucht des Viehes von ihren Altvordern traditionell ererbt hatten, so betrieb es dieselben, fleissig und achtsam, aber ohne das Bedürfniss und freilich auch ohne Anleitung zu Verbesserungen, zumal - da ein im Allgemeinen sehr fruchtbarer Boden das zum Leben Nöthige spendete.

Nach Spescha erndtete das Tavetsch um 1790 jährlich circa 7000 Viertel Getreide, 4000 Klafter Heu und Emd, 3000 Pfund Flachs und 3000 Viertel Kartoffeln. In Missjahreii freilich trat sofort Theuerung und zuweilen auch Hungersnoth ein, besonders wenn die Zufuhren an Korn aus Italien ausblieben oder wenn der Viehhandel, der im Oberlande von jeher eifriger und schwunghafter betrieben wurde, als in den meisten andern Landesgegenden, fehlschlug. Uebrigens bildete auch hier das leidige Servitut des Weidganges bis in die neueste Zeit ein schwer zu besiegendes Hinderniss gegen einen rationellen Betrieb der Landwirthschaft. Gemüse und Obstbau wurden im höheren Oberlande nur wenig, und zwar ersteres seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts, mehr jedoch in der tieferen Thalstufe betrieben, namentlich seit mehrere Oberländer Offiziere Gemüsesamen und Obstpflanzen aus der Fremde mit heimgebracht hatten. Der einst vor 1000 Jahren in Weinbergen von Sagens Seewis und Pleif gepflegte Weinbau hatte längst aufgehört, seit die Waldungen schonungslos niedergeschlagen wurden. Dass dagegen in früheren Jahrhunderten noch ungeheure Forsten weithin und bis in höhere Lagen hinauf als jetzt sich ausdehnten, beweist u. A. die noch heute gebräuchliche Benennung Surselva, für das mittlere und höhere Oberland. Dieser Wald dehnte sich aus von Reichenau auf beiden Rheinufern, von Versam nach Safien hinein abzweigend, bis nach Laax und Kästris.

Aber auch Lugnetz, Medels und das untere Tavetsch waren mit den herrlichsten Waldungen bedeckt. Nicht blos das Bedürfniss, Weidboden zu gewinnen, hat dieselben gelichtet, sondern in gleich verderblichem Masse der schwunghafte und rücksichtslos die Axt schwingende Holzhandel. Viele Tausende der schönsten Stämme schwammen alljährlich in Gestalt von Flössen nach Rheineck hinab, wo sie oft genug um die geringsten Spottpreise losgeschlagen wurden! Von Nach-pflanzungen war nirgends die Rede; man überliess dieselben der gütigen Mutter Natur.

Andere einheimische Industriezweige als die obengenannten waren nicht vorhanden, etwa den ab und zu, meist mit Verlust unternommenen Bergbau bei Truns ausgenommen. Das verhältnissmässig seltene baare Geld, welches circulirte, war der Erlös aus nach dem Auslande verkauftem Vieh, Holz und Fellen und einigen Quanten Butter und Käse; fast der gesammte Binnenhandel beruhete auf Tausch. Auch die Fremden-Pensionen und der auswärtige Militärdienst brachten zuweilen beträchtliche Summen in das Oberland; aber diese flössen vorzugsweise in die Taschen der Landesund der Dorfmagnaten und der Offiziere. Gross war die Zahl der Oberländer, welche in fremden Heeren dienten, denn nicht bloss ihrer Tapferkeit wegen — eine Eigenschaft, deren sich alle Bündner rühmen durften — sondern noch mehr ihrer bessern Disziplin halber, wurden sie in allen Armeen sehr geschätzt.

Die industrielle und commerzielle Auswanderung begann aus dem Oberlande später als aus fast allen andern Gegenden Bündens; sie datirt erst vom Beginne v. Sprecher.

des gegenwärtigen Jahrhunderts und zwar waren es die Reforrairten, welche diese Emigration eröffneten. Jetzt aber sind Oberländer als Kaufleute, Kaffeewirthe, Zuckerbäcker, Techniker in allen Ländern Europa's angesiedelt und Viele haben, eine neue Heimath in Amerika suchend, ihre heimatlichen Thäler auf immer verlassen.

Reisende durchwanderten über die Oberalp das Hauptthal des Oberlandes, wenn auch selten, doch häufiger als andere nicht am Passe nach Italien gelegene Gegenden, aber die Bewirthung genügte nur an wenigen Orten auch bescheidenen Ansprüchen. Denn selbst in Dissentis und Ilanz fand der " Wanderer nur dürftige Unterkunft, die er zuweilen theuer bezahlen musste. Die Wirthe werden von den bereits erwähnten Zürcher Magistern als unfreundlich, selbst als grob geschildert. In den katholischen und zum Theil in den reformirten Ortschaften that man wohl, beim Pfarrer zu logiren; in Dissentis ward man in der Abtei stets gastfreundlich aufgenommen. Aber überall durfte der Reisende sicher sein, mit vortrefflichem Veltliner bêVirthet zu werden.

Dass der Bildungsgrad des Volkes bei so geringer geistiger Strömung von Aussen her kein hoher sein konnte, begreift man, wenn es auch andererseits einen Irrthum begehen Messe, ihn tiefer zu stellen als denjenigen aller andern Thäler Bündens. Vielmehr ist es Thatsache, dass selbst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht blos die Mehrzahl aller protestantischen, sondern auch der grösseren katholischen Gemeinden Schulen besassen, in welchen der Pfarrer die Kinder — und zwar vorwiegend die Knaben — deren Eltern diesen Schulbesuch wünschten, in Religion, im Lesen, Schreiben, nicht selten auch im Rechnen und auch im Gesänge unterrichteten, in letzterer Disziplin nur in protestantischen Gemeinden.

In der ersten Hälfte dieser Periode war auch in den Letzteren der Gehalt für den Schulunterricht mit der Pfründ-besoldung verbunden. Erst etwa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an begannen einzelne reformirte Ortschaften, wie Ilanz, Valendas, Safien, besoldete Lehrer anzustellen. Ihr Gehalt belief sich damals freilich nirgends höher als 40 n\, aber wie die Pfarrer genossen auch sie überall ausser freier Wohnung und Holz ein gewisses Deputat an Molken und Milch und wurden überdiess auch mit Fleisch von den Landleuten reichlich versehen. Der durchschnittliche baare Jahresgehalt eines reformirten Pfarrers stieg von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 1790 von SO fl. allmählig bis auf 220-250 fl.

Es fehlte aber überall in hohem Grade an Lesebüchern; in den reformirten Schulen diente neben dem Neuen Testament als solches wohl auch der Kalender, natürlich in weitaus den meisten Gemeinden in romanischer Sprache. In der That beschränkte sich auch die einheimische Literatur beider Sprachen hauptsächlich auf religiöse Schriften.

Grössere Privatbibliotheken fand man im Oberlande nur in zwei oder drei Herrenhäusern und auch diese sind längstens verschwunden. Welche Schütze die ansehnliche K los er bibliothek in Dissentis besass, die bei der zweiten Besetzung des Hochgerichts durch General Menard sammt dem Kloster in Asche gelegt wurde, ist uns unbekannt.

Spescha spricht in seiner Geschichte des Krieges von 1799 von sehr alten Codices, welche dort aufbewahrt wurden, und nach einer mündlichen Aeusserung desselben gegenüber einem ihm befreundeten Staatsmanneseien u. A. ein uralter Evangelien-Codex und Fragmente einer der verloren gegangenen Dekaden des Livius aus sehr früher Zeit, mit Unzialbuchstaben geschrieben, vorhanden gewesen. Für den bündnerischen Geschichtsforscher unersetzlich war aber der Verlust nicht blos des aus den frühesten Zeiten datirenden Archivs mit den ältesten und wichtigsten Urkunden über die Geschichte des Oberlands, sondern auch einer Menge historischer Aufzeichnungen früherer Aebte und Conventualen.

Dass in einem vom Weltverkehr so wenig berührten Thale der Hexenglauben im 17. und 18. Jahrhundert in üppiger Blüthe stand, ist nicht zu verwundern. Wie jedes Hochgericht in Bünden seine Periode einer Hexenepidemie hatte, so war dies auch im Oberlande der Fall. Wir erwähnen beispielsweise nur das Hochgericht der Gruob. Hier im Städtchen Ilanz wurden zwar auch schon früher von Zeit zu Zeit und nicht ganz selten der Hexerei angeklagte Männer und Frauen gerichtet, allein die Blüthezeit der Prozesse dieser Art scheint doch auffallend spät, in die Jahre 1699—1701, zu fallen. In diesen drei Jahren wurden, laut der uns vorliegenden Handschrift, nicht weniger

* ) Dem Bundeslandammann Jak. Ulr. v. Sprecher in Jenins.

als 45 Personen wegen Hexerei prozessirt und die Mehrzahl derselben hingerichtet.

Mit diesem Glauben an die Mächte der Finsterniss verband sich aber im Allgemeinen grosse Sittenstrenge. Lasterhafte Männer, auch wenn sie den höheren Ständen angehörten, verfielen der Verachtung ihrer Mitbürger ebensosehr, als gefallene Mädchen, selbst wenn diese von ihren Verführern geehelicht wurden. Diese Strafe traf die Fehlbaren weit harter als das Gesetz, welches für Vergehungen dieser Art nur Geldbussen und bei Wiederholungen die Prangerstrafe statuirte. Aber die Umgangssitten waren rauh und hart; wie im Hause regierte auch in der zwar selten besuchten Wirthsstube an den Markttagen und auf den Landsgemeinden die Faust. Es verging kaum eine wichtigere Landsgemeinde, kaum ein Jahrmarkt in Ilanz und in Dissentis ohne grossartige Raufereien mit schweren Verwundungen, nicht selten mit Todtschlägen. Die blutigen Zusammenstösse der Flimser mit den Lug-netzern an den Märkten waren fast sprüchwörtlich geworden.

Unter diesem rauhen und strengen Volke war der mehrerwähnte Benediktiner Placidus a Spescha* ) im Jahre 1752 geboren; er wurde im Priesterseminar zu Chur, in der Klosterschule zu Dissentis und zu Mals gründlich für seinen theologischen Beruf vorgebildet.

* ) Obwohl schon der Jahrgang 1868 des Jahrbuchs eine treffliche Biographie von a Spescha enthält, glaubten wir des wackern Mannes auch in dieser Skizze gedenken zu sollen. Eine gutgeschriebene einlässliche Biographie hat letzthin C. Decurtins veröffentlicht.

Eine originelle, urkräftige, aufgeweckte Persönlichkeit, welche der Schule weniger verdankte als sich selbst und ihrem Bildungstriebe. Dieser wies ihn auf die Erforschung der Natur hin, ihr weihete er sich ganz, aber ihr verdankte er auch das, was er wurde: ein tüchtiger Mineralog und der grösste Bergbesteiger, den Bünden jemals besessen hat; ja man darf ihn wohl den intellektuellen Vater des schweizerischen Alpenclubs nennen; denn ehe noch Saussure und Bourrit ihre Besteigungen der westlichen Hochalpen begannen, hatte a Spescha schon eine Reihe von Bergspitzen des Oberlands zum Zwecke der Erforschung des Gebirges erstiegen. Eine grosse Anzahl zum Theil sehr hoher jungfräulicher Gipfel hat er zum Erstenmal erklommen, so den Piz Valrhein, den Urlaun, Terri, Stockgron, Cotschen u. s. w. Nur äussere Umstände, wie ungünstige Witterung, verhinderten ihn etliche Male, auf die höchste Tödispitze zu gelangen, schon lange, ehe die schwierige Ersteigung von zwei Oberländer Gemsjägern ( Curschellas und Bisculm ) im Jahre 1824 ausgeführt wurde. Schon vor dem Jahre 1799 hatte er eine sehr werthvolle Sammlung von hauptsächlich einheimischen Mineralien und Krystallen angelegt, welche dann bei der furchtbaren Brandschatzung der Abtei durch Rapinat zur Ergänzung der geforderten Summe im Preise von Fr. 12,000 von den Franzosen angenommen wurde. Am liebsten weilte Spescha auf seinen Pfarrsitzen bald in Tavetsch, bald in Romein und zuletzt in Truns, wo er auch im Jahre 1833 hochbetagt starb. Decurtins führt 27 Schriften von ihm an, sämmtlich nur im Manuscript vorhanden, worunter die geschichtlichen, orographischen und topo- graphischen von entschiedenem Werthe auch jetzt noch sind, obwohl bei einer, sehr wünschbaren, Herausgabe jedenfalls Aenderungen in der Form rathsam erscheinen dürften.

IT. Abschnitt.

Von der Revolution ( 1789 ) Ms 1874.

Wir haben oben gesehen, welche Erschlaffung im politischen Leben Bündens namentlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählig eingetreten war. Der Salis'schen Familie war es hierdurch möglich geworden, die Leitung der Staatsgeschäfte in ihre und ihrer Anhänger Hände zu bekommen, indem sie vor dem dritten Capitulât mit grösser Schlauheit sich der Gesandtschaft nach Mailand gänzlich bemächtigt hatte, und nun nach dem Sturze der Familien Sprecher, Planta und Travers an der Spitze der österreichischen Partei stand, und seit der Ernennung von Ulyss. v.. Salis-Marschlins, des Urhebers aller jener Umwälzungen, zum Minister Frankreichs, zugleich auch des grossteil Einflusses bei den Anhängern des letzteren Staates genoss. Durch seine Herrschsucht beleidigte dieses grosse und, so bedeutende Verdienste es sich in altern und neueren Zeiten erworben hatte, auch viel geschmähte Haus fortwährend die mit ihm rivalisirenden alten Familien; durch die vieljährige Ausbeutung der Zollpacht in Verbindung mit allmählig monopolartig betriebenem Korn-handel und Spedition in Cläfen hatte es nicht blos bei angesehenen Churer Geschlechtern, welche schon seit langer Zeit auf den Zollappalto aspirirten, Neid und Hass, sondern auch im Volke den Verdacht erweckt, dass es schon seit vielen Jahren den Staat um bedeutende Summen geschädigt;

andere ebenso wichtige Anklagen übergehen wir.

So hatte sich reichlicher Zündstoff angesammelt, der bald nach dem Ausbruche der französischen Revolution explodirte. Auch in Bünden hatte eine weniger durch Zahl als durch Begabung und Einfluss ihrer Führer starke Partei, theils aus Gegnern der Salis'schen Familie und aus Unzufriedenen, theils aus Anhängern der grossen Ideen, welche die Eevolution auf ihre Fahne schrieb und anfänglich auch wahr zu machen sich be-mühete, sich gebildet. Diese Partei, welche sich den Namen der Patrioten beilegte, hauptsächlich in Chur, der Herrschaft Maienfeld, im Engadin und Bergell vertreten, benutzte im Jahre 1794 die Missstimmung des Oberlandes über eine, wie man glaubte, von der Salis'schen Familie künstlich erzeugte Theuerung, um unter dem Namen einer Standesversammlung ein vielköpfiges Strafgericht zusammen zu berufen, welches denn auch den flüchtig gewordenen Minister v. Salis - Marschlins für vogelfrei erklärte und sein Vermögen confiscirte, über die Erben derjenigen Mitglieder der Salis'schen Familie, welche den Zollpacht innegehabt, Geldbussen bis auf hunderttausend Gulden verhängte und eine Menge anderer Anhänger Oesterreichs ebenfalls streng bestrafte. Die Wirren nahmen zu, und erhielten einen immer intensiveren Charakter, seit nun auch die Gefahr, die italienischen Unterthanenlande zu verlieren, näher rückte.

Denn nicht ohne heimliche Connivenz Oesterreichs hatten die Veltliner Unzufriedenen, an deren Spitze ein fanatischer Clerus und der ebenso unruhige als sitten-lose Adel stand, die thatsächliche Missregierung einer Reihe von bündnerischen Amtleuten besonders während der letzten Dezennien benutzend, im Stillen die Los-reissung von der Herrschaft der Bündner vorbereitet. Als dann der Bundestag, dem es mit der Abstellung der Missbräuche wirklich Ernst war, eine Aufforderung an die Unterthanen erliess, ihre Beschwerden einzureichen, traten sie im Jahre 1786 mit sehr weit gehenden und die Autorität der Bünde und ihrer Amtleute fast auf Null reduzirenden Forderungen bezüglich der gesetzgebenden Gewalt der Bünde und der Handhabung der Justiz und der Polizei im Veltlin hervor. Um ihren guten Willen zu bethätigen und die Missbräuche in ihrer Wurzel anzugreifen, schlug Bünden nun die Revision der Veltliner Statuten vor, welche, im Vorbeigehen gesagt, im Jahre 1548 von den Veltlinern selbst im Einvernehmen mit drei bündnerischen Juristen waren entworfen worden. Jetzt offenbarten die dortigen Leiter der Bewegung, dass es ihnen nicht, wie sie vorgaben, um das Wohl des Volkes als vielmehr um völlige Emanzipation zu thun sei. Sie brachen die Verhandlungen mit Bünden ab und riefen Oesterreich als Garanten der Veltliner Statuten und Verfassung an. Nicht bessern Erfolg hatte ein wohldurchdachter Entwurf zur Verbesserung der Justiz in den Unterthanenlanden aus der Feder von Minister v. Salis-Marschlins im Jahre 1791. Vom Congresse mit grossem Beifalle aufgenommen, ward er von den sog. « Patrioten » in Bünden wie von den Veltlinern und zwar von diesen « mit Abscheu *-verworfen.

Die Yeltliner Frage war dann vom Kaiser in die Hände des Mailändischen Statthalters, Grafen Wilczek, gelegt worden, der sie, um Anlass und Vorwand zur Einmischung in die bündnerischen Angelegenheiten zu erhalten, in die Länge zog.

Mit dem Einzüge des Generals Bonaparte in Mailand veränderte sich die Sachlage. Aus der Lombardei und einigen venetianischen und päpstlichen Provinzen u. s. w. wurde im Jahre 1797 eine cisalpinische Republik und Verbündete Frankreichs. Schon im Juni desselben Jahres erklärten Veltlin und Cläfen ( ohne das treugebliebene S. Jakobsthal ) freiwillig, und Bormio gezwungen,, ihre Lossagung von Bünden uud ihren Anschluss an die cisalpinische Republik. Dieser zwar erwartete, aber immerhin schwere Schlag hätte in Bünden abgewendet werden können, wenn die augenblicklich wieder zur Regierung gelangte altbündnerische Partei es verstanden hätte, die nicht ungünstige Stimmung Bonaparte'^ für die Bünde zu benutzen, den französischen Gesandten anerkannt und die Wichtigkeit der bündnerischen Pässe behufs Bestätigung der bündnerischen Besitzes-rechte auf das Veltlin geltend gemacht hätte. Der günstige Moment ward auch dann noch durch Zögerung versäumt, als der französische Obergeneral, als Vermittler angerufen, die Einverleibung der Unterthanenlande als vierten Bund in Vorschlag brachte. Nachdem dann auch der von Bonaparte verlängerte Termin, ohne eine Entscheidung zu bringen, abgelaufen war, erfolgte die Einverleibung der Unterthanenlande in die französische Republik und wenige Tage später, am 20. Ok- tober 1797, sprach das veltlinerische Revolutionscomité sogar die Confiscation des sämmtlichen, auf nahe an 8 Millionen Mail.

Lire ( circa 3 7* Millionen Bündn. Gulden ) geschätzten bündnerischen Privatvermögens, in Veltlin und Cläfen gelegen, aus. »

Die Erbitterung über diese Verluste führte in den herrschenden Landen im Januar 1798 ein neues Strafgericht herbei, welches sich gegen Diejenigen richtete, denen man, in gewissem Sinne allerdings mit Recht, die Schuld beimass; es verhängte abermals grosse Geldbussen, besonders gegen die Häupter und den Congress und eine Reihe von Mitgliedern der Salis'-

sehen Familie. Allein mittlerweile hatte der französische Gesandte Guyot, von den « Patrioten » unterstüzt, an die Bünde die Forderung gerichtet, an die nach dem Untergange der alten Eidgenossenschaft ( März 1798 ) unter dem Drucke der französischen Bajonette neugeschaffene helvetische Republik sich anzuschliessen. Bünden gerieth zwischen zwei Feuer, indem nun der Wiener Hof erklären liess, eine solche Neuerung nicht dulden zu wollen. Es herrschte eine grosse Gährung im Lande; an vielen Orten, besonders in Chur, kam es zu Tumulten. Die grosse Mehrheit des Volkes, einem Anschlüsse an die helvetische Republik abgeneigt, verwarf den Antrag, worauf ein Theil der « Patrioten » sich nicht mehr sicher fühlend, das Land verliess. An der Spitze derselben standen der Bürgermeister I. B. Tscharner, der Gesandte Jakob Ulrich v. Sprecher, Vicari Gaud. v. Planta. Auf ihre Veranstaltung hin sandte die Herrschaft Maienfeld Ersteren und Herrn Heinrich Zschokke aus Preussen, vor kurzem in das Bündner Bürgerrecht aufgenommen und bisher Lehrer an der Erziehungsanstalt in Reichenau, nach Aarau ab;

sie sollten das helvetische Bürgerrecht für jene Herrschaft und die geflohenen Patrioten verlangen, ein Gesuch, dem das helvetische Direktorium sofort entsprach. Während nun die Herrschäftler des St. Luzien-steigs sich bemächtigten, um dem Einmärsche österreichischer Truppen zu wehren und dem, vom Bundestage zu Ilanz erlassenen Aufgebote von 6000 Mann zur Grenzbewachung sich entzogen, stellte jene Versammlung, indem sie gleichzeitig den Schutz Oesterreichs anrief, einen Kriegsrath auf. Guyot erhob Protest und reiste unter Drohungen gegen Bünden ab. Er und Zschokke drängten die französische Regierung zu bewaffnetem Einschreiten. Dies hatte wieder die Folge, dass die Häupter und der Kriegsrath nunmehr am 17. Oktober ( 1798 ) eine Convention mit den kaiserlichen Generalen Auffenberg und Bellegarde in Chur bezüglich des Einmarsches in Bünden abschlössen. Derselbe erfolgte vom 18. Oktober an, und zwar über den St. Luziensteig.

Es begann jetzt eine Zeit der Verfolgungen gegen die « Patrioten », deren Viele ihren früher geflohenen Gesinnungsgenossen in die Fremde folgten, und bald sollte auch Bünden, vorzüglich Chur, das Oberland, Engadin und Bergell die Leiden des Krieges zu kosten bekommen.

Denn sofort nach dem Abbruche der Friedensverhandlungen in Rastatt begannen die Kriegsopera-tionen der Franzosen unter Massena ( 6. März 1799 ). Während nämlich General Oudinot zwischen Haag und Bendern den Rhein überschritt, den S. Luziensteig erstürmte und den General Auffenberg nach mehreren Gefechten in der Nähe von Chur zur Waffenstreckung zwang, hatte General Loison die Oberalp mit 1000 Mann überschritten und war am 6. März nach Dissentis vorgerückt, aber am folgenden Tage vom Land sturme des Hochgerichts mit einem Verluste von 400 Todten und 100 Gefangenen geschlagen und zum Rückzüge nach Urseren gezwungen worden.

Allein schon am 9. erschien General von Mont, ein Lugnetzer in französischen Diensten, mit seiner Brigade und besetzte Dissentis und die umliegende Gegend. Während er selbst und Loison, der von neuem, dies Mal mit 4000 Mann über die Oberalp vorgedrungen war, schonend auftraten, legte der Commissär Rapinat, ein berüchtigter Blutsauger — nomen et omen — der Abtei die enorme Contribution von 100,000 Fr. auf, die dieselbe mit grösster Mühe, theils in meist entliehenen Baarsummen, theils mit Drangabe uralter Wertlistücke und kostbarer Sammlungen aufbrachte.

In Chur war inzwischen von Franzosen und Patrioten eine provisorische Schattenregierung aufgestellt worden, und Massena, der wie ein römischer Proconsul schaltete und waltete, ernannte Präfekten für die verschiedenen Landestheile und liess eine Menge Öster-reichisch Gesinnter nach Frankreich als Geisseln ab- führen. Am 21. April zeigte das helvetische Direktorium die Annahme der von jenen « Patrioten » angeblich im Namen des Bündnervolkes verlangten Einverleibung des Landes in Helvetien als « Kanton Rhätien » an, und somit war nun auch formell der Untergang von Alt fry Rhätien vollzogen.

Das helvetische Direktorium inaugurirte seine Regierung durch die Confiscation des Vermögens aller Anhänger Oesterreichs, durch Einverleibung aller Klöster und Stiftsgüter in das Nationaleigenthum. Auch wurden « Priinärversammlungen » ( Landsgemeinden ) zur Wahl der Wahlmänner für die Volksvertretung angeordnet.

Bünden blieb dessen ungeachtet und trotz der Siege des Erzherzogs Carl in Oberitalien und in Schwaben Kriegsschauplatz. Im Unter-Engadin kämpfte General Lecourbe mit Laudon; im Oberland brach am 1. Mai, im Einvernehmen mit General Hotze, der aber umsonst an diesem Tage die St. Luziensteig zu forciren suchte, der Landsturm auf, schlug die französischen Besatzungen und nahm eine Compagnie derselben gefangen, welche von den fanatisirten Medelsern, trotz der kniefälligen Fürsprache der Klostergeistlichen und trotz des Flehens der Gefangenen selbst auf dem Marsche nach Truns bis auf den letzten Mann hingemordet wurden. Ohne Wissen der Mönche legten zurückkehrende Bauern die blutbefleckten Uniformen der Unglücklichen Nachts in einem Gewölbe des Klosters nieder, aus welchem Grunde, ist unbekannt. Nach dieser Unthat strömte der Landsturm das Oberland hinab und drängte in blutigen Gefechten die Franzosen bis nach Ems, in dessen Gassen ein wüthender Kampf sich entspann, an welchem auch Frauen und Mädchen, mit Morgensternen bewaffnet, sich betheiligten. Auch hier geschlagen sammelte sich der Feind aufs neue bei Plankis, in der Nähe von Chur und hier erhielt er Suceurs. Jetzt wendete sich das Blatt. Das Landvolk ward auseinandergesprengt und flüchtete sich nach allen Richtungen.

Die nachsetzende Brigade Menard' äscherte das Dorf Tamins ein und erreichte schon am 6. Mai Dissentis. Unglücklicherweise wurden von Soldaten dieser Truppen jene blutigen Uniformstücke entdeckt. Die Niedermetzelung von 22 Einwohnern und die vollständige Einäscherung des Dorfes und des Klosters, in welchem sieben Bauern mit verbrannt wurden, und wie schon erwähnt, die unersetzlichen Schätze des Archivs und der Bibliothek für immer untergingen, war die Folge jener Entdeckung. Man schätzte den materiellen Verlust der Abtei und des Dorfes auf mehr als eine halbe Million Gulden.

Zum vierten Male durchzogen französische Truppen das höhere Oberland, als Suchet, von General Ilotze bei Reichenau ( 15. Mai ) geschlagen, über die Oberalp zurückgedrängt wurde. Im September aber, nachdem der russische General Korsakow gegen Massena die Schlacht bei Zürich verloren, erschienen auch Russen zuerst vorübergehend um Dissentis gelagert, dann stieg Souwarow am 7. Oktober, nach jenem ewig denkwürdigen Rückzuge vom Gotthardpasse, zuerst über den Kinzigkulm, dann über den Pragel und schliesslich über den Segnes- und den Panixerpass, nach unglaublichen Strapazen und grossen Verlusten an Mannschaft, Pferden und Geschützen, in das Thal des Vorderrheins herab, von wo aus er mit seiner Armee, vom Kaiser Paul abberufen, Bünden verliess. Noch bis zur Mitte des folgenden Jahres hielten die Oesterreicher Bünden besetzt; auch im Oberlande lag eine halbe Brigade.

Nach der Schlacht von Marengo und dem Waffen- stillstände zu Parsdorf zog diese ab, und das Oberland, durch die enormen Truppenquartiere und die französischen Contributionen erschöpft und vollständig ausgesogen, bis zu den Grenzen einer Hungersnoth, konnte endlich aufathmen.

Am letzten Tage des Jahres 1800 zogen, die Oesterreicher, von den Franzosen über die Martinsbrücke gedrängt, auch aus dem Engadin ab. Inzwischen war die alte Verfassung Bündens vom helvetischen Präfekturrathe — ohne Befragung des Volkes — beseitigt und das Land in eilf Distrikte eingetheilt worden, deren Präfekten ihre Befehle vom helvetischen Regierungsstatthalter, Gaud. v. Planta, erhielten, der seinerseits dem helvetischen Senate und Direktorium verantwortlich war. Besondere Verwaltungsrathe und Friedensrichter regelten und beauf-sichtigten die Oekonomie, Justiz und Polizei der Gemeinden. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Bestreben, Ordnung und Controlle in die vorher meist sehr regellose Verwaltung der Gemeinden hereinzutragen, geeignet sein konnte, die Bündner mit manchen Schattenseiten dieser ihnen wider Willen aufgedrun-genen Verfassung zu versöhnen. Allein vor Allem die Erinnerung an die 300 Jahre lang genossene unbeschränkte Freiheit und Unabhängigkeit als Bürger eines durchaus souveränen Staates, die politische und polizeiliche Vielregiererei und die verletzende Einmengung in alle Details der Gemeindehaushalte, die im Charakter der helvetischen Verfassung und ihrer Beamten lag, widerstrebte dem Bündnervolke in einem solchen Grade, dass es schon im Jahre 1802 sich dem von den Urkantonen ausgegangenen und sehr rasch über die ganze Schweiz sich verbreitenden Aufstände anschloss und am 9. September die alte Verfassung wiederherstellte.

Nachdem Bachmann, der General der wieder hergestellten, in Schwyz versammelten Tagsatzung die helvetischen Truppen bei Faoug ( Waadt ) geschlagen, rief das helvetische Direktorium Bonaparte als Vermittler an, der 20,000 Mann in die Schweiz einrücken liess. Dies hatte nun auch die Auflösung der Tagsatzung zur Folge. Auf die Einladung des ersten Consuls sandten sämmtliche Kantone Vertreter nach Paris, um in Conferenzen mit demselben, der auch hier eine merkwürdige Detailkenntniss von Verfassungen und Geschichte der Kantone, von Charakter und Eigenthümlichkeiten des schweizerischen und bündnerischen Volkes offenbarte, eine neue Verfassung für die Eidgenossenschaft zu entwerfen. So kam am 19. Februar 1803 die in föderativem Sinne gestaltete Vermitt-lungsakte zu Stande, in welcher auch Bünden als 15. Stand eingeschlossen war.

Mit der Annahme der Mediationsverfassung endete für Bünden eine Zeit der Wirren und Leiden und es begann eine Periode des Neubaues und einer Reihe der wohlthätigsten Schöpfungen im staatlichen Leben von denen manche, wie z.B. die neue Gestaltung der Regierung, des Grossen Raths,,die Errichtung einer Kantonsschule, eines geordneten Post- und Transitwesens noch in die Mediationsperiode fallen, während die alte Verfassung in ihren Grundzügen, selbst mit der Erhaltung der III Bünde mit dem obligatorischen, wenig beschränkten Referendum u. s. w. unangetastet blieb. Nur einmal, im Jahre 1814, wurde die Ruhe ganz vorübergehend unterbrochen, als eine reaktionäre Partei nach dem Feldzuge von 1813 die auch in Bern auftauchenden Restaurationsgelüste und den in der ganzen Schweiz herrschenden Unwillen über die Militäraushebungen für die grossen Schlachten Napoleons benutzen wollte, um sich von der Schweiz zu trennen.

Allein die tumultuarische Bewegung des 4. Januar 1814 mit ihrem Aufmarsche von 400 Bauern aus Ems und Obervaz etc. vor dem Rathhause zu Chur, wo sie die Lossagung von der Mediationsakte im eben versammelten Grossen Rathe ertrozten, verlief rasch ohne Folgen, als bekannt wurde, dass bei den Alliirten durchaus keine Geneigtheit für die Anerkennung einer von der Schweiz losgerissenen Republik Graubünden vorhanden sei. Eben so wenig aber gelang es den von Bünden an den Wiener Congress und nach Mailand Abgeordneten, Bundespräsident v. Salis-Sils und Bürgermeister Christoph v. Albertini, die Rückgabe des Veltlins und der beiden Grafschaften, sei es als vierter Bund von Graubünden oder als selbstständiger Kanton, zu erwirken, und eine « promenade militaire » einiger Bündner Compagnien nach Cläfen, das schnell erobert wurde, hatte schon hier ihre Endschaft erreicht, Die ehemaligen Unterthanenlande blieben fortan mit der wieder an Oesterreich übergegangenen Lombardei vereinigt — gewiss zum Glück für die Schweiz und speziell für Bünden. Erst in den Vierzigerjahren erhielten die Nachkommen derjenigen Familien, deren Veltlinische Besitzungen im Jahre 1797 confiscirt worden waren, unter welchen auch einige angesehene Oberländer und das Kloster Dissentis, ein Viertheil des damaligen ( 1797 ) Werthes dieser Güter, eine sehr dürftige Entschädigung, und zwar erst nach vielfachen Mühen und Prozessen mit den spätem Eigentümern, von Oesterreich, erstattet.

Das heutige Bünden, speziell das Oberland, gleicht demjenigen des Jahres 1799 nur noch in den Hauptzügen seines Volkscharakters. Seit der neuesten Bundesverfassung sind auch die Grundlagen der uralten demokratischen Verfassung untergraben. Die Autonomie der Gemeinden mit ihrer das Freiheitsgefühl wach haltenden Theilnahme aller Bürger an Staatsgeschäften, aber auch mit ihrer Unordnung und Unbotmässigkeit gegen viele, auch wohlthätige Neuerungen hat den Nivelli-rungs- und Einheitstendenzen unserer Zeit weichen müssen. Andererseits hat das Volk eine Reihe neuer Schöpfungen sowohl auf idealem als materiellem Gebiete eingetauscht. Schöngebaute Strassen durchziehen gegenwärtig nicht blos das ganze Vorderrheinthal, sondern auch das Lugnetz und das Medelser- und das Tavetscherthal, letztere als Verbindung mit den Urkantonen und Wallis, die andern bestimmt, über den Lukmanier, den uralten Pass, Tessin und Italien die Hand zu reichen. Selbst die Hoffnung auf das Zustandekommen eines das ganze Hauptthal durchziehenden Schienenweges, der mittelst eines mächtigen Tunnels jenes Gebirge durchbrechen und also den grossen Weltverkehr zwischen dem Norden und Süden durch das Oberland leiten sollte, schien eine Reihe von Jahren hindurch eine gerechtfertigte zu sein, bis das Gotthard-projet seinen Rivalen Lukmanier besiegte. Aber auch so vermitteln eidgenössische Posten den üblichen Verkehr

8 durch das Thal, bis in die entlegensten Bergdörfer, und im Sommer besuchen mehr Fremde an einem einzigen Tage das Oberland, als vor hundert Jahren in einem Dezennium.

An vielen Orten erheben sich grosse Gasthöfe, noch weit mehrere werden auf den sonnigen hohen Terrassen des Landes sich erheben. Aber auch die kleinste Gemeinde besitzt ihr Schulhaus und ihren, meist in Chur gebildeten Lehrer, und nicht wenige Oberländer werden in der Kantonsschule für höhere Berufsarten vorgebildet. In die Gemeindeverwaltungen ist mehr Ordnung eingekehrt, der Verschleuderung der öffentlichen Gelder, der* Verwüstung der Wälder wird von oben herab gewehrt: Alles Schöpfungen, welche hauptsächlich der Periode von 1848 bis 1870 zu verdanken sind.

Wir schliessen unsere kurze Skizze mit dem Wunsche, welchen einst Placidus a Spescha auf dem Gipfel eines der Bergriesen des Oberlandes ausgesprochen « Möge doch das Volk, das diese herrlichen Thäler und Berge bewohnt, frei bleiben wie die Gemsen und Adler, so lange Grund und Grat im Oberland stehen! »

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