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Lawinen an der Jungfrau

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Eben war nach einem wunderbar klaren Tage des August 1902 ein Gewitter im Anzüge, als der Schreiber dieser Zeilen zur Stufensteinalp am Fuße der Jungfrau emporsteigend ein donnerähnliches Rauschen vernahm, dessen Ursache er augenblicklich nicht bemerken konnte. Erst weiter oben fand er am Fuße der Bärenfluh und des gewaltigen, vom Hochfirn der Jungfrau herabziehenden Silberlauitobels hart am Wege einen verhältnismäßig kleinen und noch frischen Lawinenkegel, dessen Sturz vom Hochfirn — ein anderes Abrißgebiet war in diesem Lawinenzuge nicht vorhanden — ohne Zweifel den obenerwähnten Donner verursacht hatte. Äußerlich unterschied sich dieser Lawinenkegel nicht im geringsten von solchen gewöhnlicher Grundlawinen tieferer Talregionen. Beim nähern Zusehen bemerkte ich jedoch überall kleinere oder größere, scharfkantige Eisstücke, welche vom weicheren Schnee umhüllt und mit diesem zu den bekannten Schneegeröllen zusammengeballt waren, welche man bei allen Grundlawinen auf längerer Bahn beobachten kann * ). Wie ist die Ähnlichkeit beider Ablagerungsformen, derjenigen der gewöhnlichen Grundlawinen und dieser Firnlawine, zu erklären? Die Antwort ist leicht zu geben. Wie auf unserem Hochfirn sammelt sich auch im Einzugsgebiete gewöhnlicher Grundlawinen der gefallene Schnee meist während einer längeren Zeit an. Das Eigengewicht, sowie häufiger Temperaturwechsel lassen diesen Schnee, besonders in den unteren Lagen, allmählich zusammensintern, erst zu kleinern, dann zu gröberen und dichteren Körnern zusammengefrieren, wodurch das Gesamtvolumen, also die Dicke der Schneeschicht, nach unten ab-, deren Dichte aber zunimmt. So fand Vallot2 ) auf dem Mont Blanc, daß eine 1 m. mächtige Firnmasse im Laufe eines Jahres um O,os8 m. an Dicke abnahm, d.h. sich setzte ( ohne zu schmelzeneine andere Probe zeigte in einer 13 m. mächtigen Schicht und für die Zeit von 4 Jahren eine durchschnittliche Zusammenziehung von O,o« m. per ursprünglichen Meter Neuschnee. Bei einer konstanten Temperatur von —14° bis —17° C. kann sich nach Vallot harter Firn und wahres Eis sogar ohne Seitendruck und Schmelzung bilden. Die Beobachtung zeigt also, daß der Schnee bei längerer von der Temperatur und Schneemenge abhängiger Dauer3 ) erst in Firn, dann in Eis übergeht. Im Einzugsgebiete der Grundlawinen wird die eisbildende Ursache, tiefe Temperatur und Druck großer Massen, gewöhnlich ersetzt durch häufigeren Temperaturwechsel und Einsickern des Schmelzwassers der Oberfläche. So erhalten wir häufig, im Hochgebirge meist mehrere Jahrgänge umfassend, in tiefern Regionen sich jährlich wiederholend, vier Schichtarten übereinander: unten Eis, darüber Firn, dann zusammengesinterten, aber noch nicht verfirnten Schnee, zu oberst den mehr oder weniger in ursprünglicher Kristallform erhaltenen Neuschnee. Brechen nun solche ( aus Eis, Firn, Sinterschnee und Neuschnee etc. ) kombinierte Schichten am steilen Gehänge los, dann ergeben sich Erscheinungen, wie sie das beigegebene Bild einer Lawine im Silberlauitobel, leider nur für einen einzigen Augenblick, festhält. Die Firn- und Sinterschneeschichten zerschellen im Sturz; die vereisten Massen zersplittern beim öftern Aufprall auf den Felsen und gleiten mit dem Schnee vermengt im Rutschkanal des letztern zur Tiefe. Durch den raschen Sturz und den daraus folgenden scharfen Luftwiderstand wird die oberste, noch voluminöse und leichte Flockenschicht vom schwereren Materiale in Schneestaubwolken abgelöst, welche nun nicht, wie erstere, an alle Details der Lawinenbahn gefesselt, sondern frei und infolgedessen auch, besonders an der Spitze, mit größerer Schnelligkeit durch die Luft abstürzen. In normalen Verhältnissen, das heißt wo dem schwereren ( Grundlawinen ) Materiale entweder infolge geringer Masse oder ungünstiger Bahngestalt viele Hindernisse im Wege stehen, eilt daher die Spitze dieses stürzenden Schneewolkenstroms, vulgo Staublawine, derjenigen der erzeugenden Grundlawine stets in einiger Distanz voraus. Diese Distanz wächst mit der zu gunsten der Staublawine sich mehrenden Mächtigkeitsdifferenz beider Lawinen und mit der Zahl und Intensität der Hindernisse in der Sturzbahn der Grundlawine1 ).

Wie bei den Lawinen die Menge des mitgeführten Firn-, Sinter-und Neuschnees bald gleich Null, bald die einzige sein kann, so unterscheiden wir bei denselben noch außer den oben genannten vier Haupttypen deren zahllose Variationen und Kombinationen, ausgehend von den reinen, steinschlagähnlichen Eislawinen und endigend bei den reinen, einzig in der Luft abfahrenden Staublawinen. Solche Variationen sind nicht bloß nach den Regeln der Kombinatorik gefunden, sondern können in natura, teils im Nieder-, teils im Hochgebirge kontrolliert werden. Die Art des Materials ist somit auch ein sehr natürlicher, wo nicht der beste Einteilungsgrund zu einer wissenschaftlichen Systematik der Laivinenerscheinungen überhaupt, wie sie durch die genannten vier Hauptarten und deren Kombinationen dargestellt wird.

Ähnliche Beobachtungen wie an der Silberlaui machte ich anderen Tages auch an den Lawinen des Rottales. Besonders frappierte mich tungen ergaben, daß sich der Firn an derselben Stelle pro Jahr um zirka 5 % verdichtet. Es bedarf daher nach dem gleichen Beobachter nur etwa 12 oder höchstens 15 Jahre, damit sich ein Gletscher bilde.

ein Firnsturz im Couloir des Rottalsattels. Auch da vernehme ich wieder das übliche Getöse, sehe die aufwirbelnden und rasch abstürzenden Schneewolken und, diesen nachfolgend, die schweren rauschenden Massen wie ein Wasserstrom sich über die Felsen ergießen. Als ich wenige Stunden nachher den Lawinenkegel1 ) am Fuße des Couloirs besuchte, fand ich zu meinem Erstaunen darauf mehrere gegen 300 m. weit und strahlig zum Rottalgletscher hinunterlaufende Lawinenzungen, welche mich lebhaft an die Bifurkationen der Stromdeltas erinnerten. Jede derselben zeigte in ihrer ganzen Ausdehnung prächtige trogförmige, gerade oder gedrehte Gleitflächen, welche das weite Vorwärtsdrängen der Lawine trotz der geringen Böschung des Lawinenkegels erklärten. Noch mehr; auch diese Lawinenmassen bestanden zum größten Teil aus Firn und Sinterschnee, durchsetzt mit Eissplittern, und waren ohne Ausnahme zu feinen bis groben Gerollen und Geröllklumpen, von denen manche 2 bis 3 m3 faßten, zusammengeballt, zeigten also fast bis in alle Details dieselben Merkmale wie die Sinterschnee- ( oder Grund-)lawinen der tiefern Regionen. Es ist demnach meine Ausführung im Jahrbuch XXXVII, pag. 238, Zeile 28 u. ff., über Bahnpflasterung und Geröllbildung bei Firnlawinen dahin zu erweitern, daß letztere beiden Erscheinungen auch bei Neuschnee oder Sinterschnee mitführenden Firnlawinen auftreten.

Als dritten, besonders klaren und nach den obigen Darlegungen auch für die Leser des Jahrbuches verständlichen Fall erwähne ich eine Lawine, welche ich vormittags von den Firnhängen des Gletscherhorns stürzen sah, als ich eben über den Kalkgrat zur Jungfrau emporstieg und die Lawine gerade gegenüber hatte. Beim Vernehmen ihres Getöses rückwärts blickend, sehe ich nur eine dichte schwere Schneewolke am Gehänge herab und ein Stück weit über den flachen Gletscher wallen. Von den rauschenden Massen aber sah ich nichts. Erst nach dem allmählichen Niederschlag der Schneewolke erkenne ich auf dem Rottalgletscher die bis gegen die Mitte vorgedrungene Lawinenzunge. Hier war die Staubmasse gegenüber dem Strom verhältnismäßig viel größer als bei den vorgenannten Lawinen, wahrscheinlich deshalb, weil die diesseitigen Firnhänge des Gletscherhorns fast beständig beschattet sind, also nicht so häufige und intensive Temperaturwechsel und Sinterung aufweisen wie die besser besonnten Firnhänge des Rottalsattels.

Überblicke ich die an der Jungfrau und auch anderwärts beobachteten Beispiele, dann komme ich zur Erkenntnis, daß reine Firnlawinen in den höchsten Gipfelregionen der Alpen relativ selten, dafür aber um so häufiger in der sogenannten Gletscherregion, genauer zwischen 2500 bis 3500 m. Höhe auftreten, in jedem Falle aber eine längere Pause im Schneefall voraussetzen. Da solche aber auf den höchsten Berggipfeln in allen Jahreszeiten häufig eintreten, vermögen die obersten Schichten bis zum nächsten Schneefall nicht zu verfirnen, bleiben also im Stadium des Neuschnees oder Sinterschnees, bis sie vom folgenden Neuschnee abgelöst werden. Eine Lawine aus solchen Regionen wird infolgedessen meistens kombiniertes Material ( Firn-, Sinter- und Neuschnee ) mit sich führen und damit auch einesteils, wie die gewöhnliche, von mir im Jahrbuche 1 ) beschriebene Grundlawine, den Gesetzen der Bahnpflasterung, der Gleitflächen-und Geröllbildung folgen; andernteils, wie die winterliche Staublawine und analog den Beispielen an der Jungfrau sich zum Schneewolkenstrom auflösen. Neben den Firnhängen ist der Fels frei für die Lawinenerschei-nungen des Neuschnees, welche in gleicher Art auftreten und in gleichem Maße vom Gebirgswanderer zu beachten sind, wie an den tiefer gelegenen Berghängen. Die Neuschnee- und Sinterlawinen sind um so gefährlicher, als sie sozusagen überall und bei jeder Temperatur ( am häufigsten und gefährlichsten bei steigender Temperatur ) abstürzen können, während die Firnlawinen nur an bestimmte und wenige Abbruchstellen und Sturzbahnen gebunden sind, also in der Mehrzahl der Fälle leicht ausgewichen werden können. Wohl allen Lesern sind noch die seinerzeit von den Tageszeitungen gemeldeten Unglücksfälle am Sustenpaß, am Flüela, auf der Furka, am Wetterhorn, am Piz Blas etc. in Erinnerung. Alle genannten Fälle sind von Neuschnee- und Sinterschnee-lawinen verursacht worden. Daher gilt diesen gegenüber vor allem die Mahnung: Nehmt euch in achtF. W. Sprecher ( Sektion Piz Sol ).

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