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Matterhorn-Ostwand

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Mafferhorn-Ostwand 1 ).

Von Giuseppe Mazotti.

Nach den siegreichen Besteigungen Whympers und Carrels über den Hörnli- und Leonegrat, nach denen Mummerys, Penhalls und Reys ( Piacenza ) über den Zmutt- und Furggengrat blieben bis zum Jahr 1929 trotz vieler Versuche von dem edelsten Felsberg Europas noch vier vom menschlichen Fusse fast unberührte Wände unbezwungen, wenn man auch angenommen hatte und heute vielfach noch glaubt, dass die Westwand im Jahr 1879 von Penhall begangen wurde. Jedenfalls ist die Westwand als erste durchklettert worden: am 18. Juli 1929 bewältigte Fritz Herrmann als Alleingänger mit unfassbarer Kühnheit die mächtige, furchterweckende Felsmauer. Er erreichte den Zmuttgrat über der « Carrelgalerie » nahe dem italienischen Gipfel. Zwei Jahre darauf, am 1. August 1931, fällt die Nordwand, deren Durchkletterung in der Geschichte des Alpinismus unvergessen bleiben wird, durch die Brüder Schmid. Im gleichen Jahre, am 15. Oktober, bezwingt Enzo Benedetti aus Mailand, der schon früher den Gipfel über den Furggengrat erreicht hatte, gemeinsam mit Luigi Carrel und Maurizio Bich die erhabene Südwand.

Die Ostwand des Matterhorns erhebt sich vom Furggengletscher bis zu einer Höhe von etwa 3200—3300 Meter. Vom Fuss bis zum Gipfel ist also ein Höhenunterschied von mindestens 1200 Meter. Der Gletscher klammert sich an die Nordseite der Wand mit einem grossen, fächerförmigen Seracgletschersturz an. Der darüberliegende Hang ist von erschreckender Einförmigkeit; er ist glatt und steil wie ein Kirchendach und dauernd von Stein- und Eislawinen gefegt, die in jeder Photographie sichtbare Furchen bilden. Es hat keinen Zweck, dem einen oder anderen Weg den Vorzug zu geben, denn im unteren und mittleren Teil ist die Gefahr überall gleich gross. Wir beschlossen daher, in gerader Richtung auf den Gipfel emporzusteigen.

Im oberen Teil wird der Hang plötzlich noch steiler. Die erste Strecke der Wand ist sehr gefährlich, bietet jedoch keine Schwierigkeiten; die letzte von der Höhe der Furggenschulter zum Gipfel wurde von Mummery als « very formidable » bezeichnet und kann heute noch als äusserst schwierig betrachtet werden. Um im mittleren Teil des Matterhorngipfels einige Zehner von Metern zu erzwingen, gingen acht Stunden dahin, obwohl der Berg vorzügliche Verhältnisse hatte. Diese 4300 Meter hoch liegende Strecke, in der wir fern von Menschen und Kinoaufnahmeapparaten über dem Furggengletscher hingen, stellte an uns die höchsten Anforderungen menschlicher Leistung.

Auf der linksseitigen Kante, wo sich der Grat bis 90 Meter über die Furggenschulter herabsenkt, war Guido Rey dem Sieg nahe: ein Überhang hielt ihn fest. Auch mit Hilfe eines doppelten Knotenseils, das die oben wartenden Freunde heruntergelassen hatten, gelang es seinen Führern nicht, die wenigen letzten Meter zu erzwingen. Sie pendelten hin und her und mussten sich zum Abstieg entschliessen.

Konnten wir hoffen, die Wand in der Mitte zu ersteigen, wo diese doch gerade dort sehr viel höher ist und ihr oberer Teil ins Leere überhängt? Und doch hat uns Luigi Carrel bis zum Gipfel geführt und uns diese überhängenden Felsen bezwingen lassen.

Es ist schwer zu sagen, wann und wie uns der Gedanke kam, die Wand zu durchklettern. Ich erinnere mich jedoch, dass wir uns im August 1931, als wir einen zukünftigen Bergsteiger — den kleinen Cici Benedetti, der an diesem Tage seinen dritten Geburtstag feierte — zum Theodul führten, sehr oft nach dem vom vielen Schnee noch zu weissen Matterhorn umwandten. Und siehe da! Nach und nach erschien uns vom Furggengrat die Ostwand in perspektivischer Verkürzung, durch die Morgensonne ganz rosenrot beleuchtet. Da war der Wunsch schon erwacht!

« Das Licht kommt von Osten », schrieb mir Benedetti, « wir werden die Wand im Winter besteigen, wenn das Eis die Steine festhält. » Es wurde Frühjahr daraus... Mai... Himmelfahrt, symbolischer Tag! Dann wurde es Sommer... eine schlechte Zeit wegen der Lawinen. « Halte Dich bereit!»Es regnet.Ich verbrachte die klaren Augustferientage in den Dolomiten in unruhigster Erwartung. Schliesslich wurde der Plan auf die ersten Septembertage verschoben.

Mir liess es keine Ruhe mehr. Der Himmel war stets unbewölkt, und die Wahrscheinlichkeit der Dauer des guten Wetters wurde immer geringer. Am 16. September verdeckten niedere Nebel die Berge des Aostatais. In Valtournanche versicherte uns Carrel, dass das Wetter trotz des bedeckten Himmels vorzüglich sei; wir waren nicht allzu sehr davon überzeugt, gaben jedoch zu, dass wir schwerlich besseres Wetter hätten finden können. Am nächsten Tag konnten wir vom Breuiljoch aus feststellen, dass über dem Nebel klarer Himmel war. Am Abend des 17. September ruhten wir auf den harten Lagern der Hörnlihütte aus. Carrel hatte uns unter den drohenden Gletscherbrüchen des Matterhorns zum « Laufschritt » trainiert.

Bei Tagesanbruch waren wir schon am Fuss der Wand in einer Nische oberhalb des grossen Hanges von hartem Schnee, der von erdigen, grünlichen Rinnen durchzogen ist, die die fallenden Steine gezogen haben.

Als die Sonne uns zu wärmen begann, waren wir schon hoch oben in der Wand. Wir hatten den ganzen Gletscher gequert und gingen zuerst über einen messerscharfen Grat von gefrorenem Schnee zwischen dem Felsen und dem vereisten Hang. Das Sonnenlicht leuchtete noch kalt und grün, später violett, dann rosenfarbig, schliesslich gelb und lauwarm; wir wussten jedoch nicht, wann das war, denn wir standen mit dem Rücken gegen die Sonne. Unmittelbar, bevor wir an die Felsen herankamen, wenig links von der höchsten Stelle, bis zu der das Eis heranreicht, hatten wir den Bergschrund auf einem kleinen, aus Tropfwasser entstandenen Buckel von seitlich vorspringenden Eisstalaktiten und einem harten Schneerücken überschritten. Wir gingen auf Fels noch etwas weiter nach links, dann durch eine kleine Rinne von festem Schnee; hier war das Licht schon rosenfarben.

Der Fels ist bleifarben und grün geädert. Kein GeräuschHätte ich nicht gesehen, wie sich unterhalb der Hörnlischulter eine schreckliche Lawine löste, donnernd über die ganze Wand herunterstürzte und eine weisse Staubwolke auf ihr zurückliess, wäre ich mir keiner Gefahr bewusst geworden. Jetzt aber saust plötzlich etwas neben mir herunter und hinterlässt ein Pfeifen. Dann ein heftiger, harter Schlag; rechts ein Stein und noch ein weiteres Zischen über meinem Kopf. Keiner spricht. Nur Maurizio macht eine schnelle Bewegung, als sei er überrascht. Er fährt mit der Hand an den Nacken, klettert aber weiter. Nach und nach färbt sich seine weisse Schutzhaube rot, das Blut bildet Klümpchen zwischen dem Haar und rinnt den Hals herunter.

Eintönig dauert der Aufstieg fort. Die Wand verschwindet unter den Füssen bis zum Gletscher. Nebel steigen vom Furggenjoch auf, vom Winde herübergestülpt; andere schwerere Nebel lasten auf den italienischen Tälern, Buchten grauer und gelblicher Dünste zwischen den höchsten Bergrücken, Halbinseln und düstere Inseln. Wir dagegen freuen uns des Sonnenlichts.

Die Gebirgstopographie erscheint klar, wie vom Flugzeug aus gesehen. Wir sind auf dem grossen Schneeflecken inmitten der Wand, der sich oben zerteilt und drei parallel laufende Adern bildet. Wir steigen geradeaus gegen die linksliegende Ader empor, die sich weiter oben abhebt, als sei sie ein Turm; der Fels ist fest und lauwarm und erscheint bronzefarbig. Die Schnee-ader, die wir besteigen, ist riesengross, man bekommt einen Begriff von der Grösse des Berges.

Carrel quert in zwei Sprüngen die Eisrinne, die uns von der mittleren Ader trennt. Bevor Gaspard über die Rinne springt, fliegen drei oder vier Steine herunter. Kaum ist er drüben, fallen neue, sie sausen leicht und elastisch durch die Luft, sie prallen auf und zerschmettern auf den tieferhegenden Felsen. Auch Enzo ist drüben.

Von oben ruft uns Carrel zu, hinüberzukommen. Maurizio springt schnell hinüber und sucht hinter einem Felsblock Schutz, während eine Eis-und Steinlawine den Kanal hinuntersaust. Wir queren den unteren Teil eines riesigen Trichters, der alles aufnimmt, was sich weiter oben loslöst. Auch Luciano Carrel ist herüber. Endlich sind wir alle auf der mittleren Rippe und in Sicherheit. Für einen Augenblick sind wir ausser Gefahr und sitzen.

Man sieht sehr gut die Solvayhütte hinter einem Turm auf dem Hörnligrat. Jenseits des weiten, tiefen Tals ragen fern die Berge und blendenden Schneefelder des Monte Rosa. Stimmen klingen von der Schweizer Schulter herüber. Zwei Gestalten heben sich vom weissen Schnee gegen den tiefblauen Himmel ab.

Die Felsrippe läuft oben in die Wand mit einem dünnen Schneegrat; es kommt mich Lust an, hinüberzureiten; beim zweiten Schritt jedoch gibt der Schnee unter den Füssen nach, und ich taumle; dann gehe ich wie ein Seiltänzer mit ausgestreckten Armen weiter. Wir sind auf blutfarbigen Felsen, viertausendeinhundert Meter hoch.

Einige Steine gleiten wie Schlitten auf der Bahn in prachtvoller Kurve über den Schnee und sausen in überraschender Geschwindigkeit in die Rinne, die wir weiter unten gequert hatten. Neben uns ragen steil abfallend die Gipfelfelsen. Plötzlich stehen wir der Wand gegenüber und beginnen sie zu erklettern.

Die Furggenschulter hat einen leuchtenden Schneerand. Carrel hätte dorthin gehen müssen, um über das grosse Band, das über der Schulter beginnt, die Wand weiter oben wieder zu erreichen; statt dessen ersteigt er sie geradeaus ohne jede Unsicherheit, als kenne er den Weg. Bald ist das Band erreicht, und wir gehen darauf nach rechts, bis wir einen Kamin entdecken, von dem aus es möglich sein muss, den Schweizer Grat zu erreichen. Zweihundert Meter fehlen uns noch zum Gipfel.

Ich gemesse schon die etwas einfältige Freude über einen leichten Sieg: der Durchstieg war beinahe ein Spiel! In einer Stunde werden wir auf dem Gipfel sein, denke ich. Waren wir nicht schon übereingekommen, jenen Kamin zu durchklettern? Carrel ist nicht mehr dieser Meinung: er will zuerst versuchen, die Felsmauer unmittelbar zu ersteigen. Jetzt isst er erst einmal Schokolade.

Enzo schaut nach dem Aneroid: 4500 Meter... Das Matterhorn ist 4478 Meter hoch. Was ist geschehen? Gar nichts, der Wind ist es nur müde, die Wolken vom Furggenjoch wegzublasen; unterhalb des Bandes versinkt und verschwindet der Berg im Nebel. Wir sind allein und fern, inmitten senkrechter, glatter und fremder Felsen. Es ist erst halb zehn.

Um acht Uhr abends tastete der Verfasser dieses Aufsatzes kaum 100 Meter höher auf unmöglichen Felsen herum, die nur ganz selten einen von frischem Schnee bedeckten Griff aufwiesen. Lässt sich überhaupt erzählen, was alles in den Stunden auf der wahnsinnigen Strecke vor sich ging? Jede zählt ein Lebensjahr für sich.

Über dem Band, auf welchem wir uns morgens aufgehalten hatten, lehnt sich eine grosse rote Felsplatte an die Wand. Auf der Mitte der Platte hielt Carrel an. Oben aus dem Nebel sah man ab und zu einen dunklen Felsen hervorspringen. Carrel stieg noch etwas höher, und sich mit einem Fuss auf einen schmalen Vorsprung stützend, fühlte er den Rand der Platte ab: nirgends ein Griff! Er schmiegte sich mit einem geknickten Bein an die Platte. Das andere hielt er gerade und in Anspannung gestreckt, den Fuss seitlich aufstützend, nur zwei oder drei Nägel des Absatzes bissen in den Fels.

Sich ganz zusammenkrümmend versuchte er, weiterzuklettern; nach einem kurzen Augenblick jedoch stützte er den Schuh wieder auf den kleinen Vorsprung auf, von unten sah man gut die ganze Sohle. Oben erschienen und verschwanden Felsen und Rinnen.

Auf dem Band stehend, machte ich mir Bewegung; ich stiess mit dem Fuss an einen Stein, der über den Schnee glitt und gleich im Nebel verschwand. Ich setzte mich auf einen Stein, stand aber wieder auf, weil er sich bewegte. Ich sah den Kamin, der uns zum Hörnligrat hätte führen können; Eiszapfen hingen von den Vorsprüngen herunter. Ich setzte mich wieder. Schliesslich blieb ich zusammengekauert mit an den Fels gelehntem Rücken.

Um 1330 Uhr waren wir wieder alle beisammen in einem 25 oder 30 Meter höherliegenden Kamin. Über uns sprang ein grünfarbiges Felsdach vor. Carrel kletterte bis unter dieses Dach und schlug einen Haken ein. Dann verschwand er links hinter einer Felsrippe.

Die überwundene Strecke hatte uns ungeahnte Schwierigkeiten bereitet. Nach der roten Platte mussten wir eine Wand brüchigen Felsens queren; unförmliche, glatte, nur von wenigen Rissen durchzogene Blöcke sprangen vor; ein in eine kleine Vertiefung gepresster Finger musste genügen, um das Gleichgewicht zu halten und auch den ganzen Körper, falls der Fuss abgerutscht wäre. Plötzlich tastete ich wie ein Blinder vergeblich die Wand oben und unten ab; mit ausgestreckten Armen hänge ich über der Wand, und das Seil schleift mich nach rechts. Wenn es mir gelingt, den Fuss auf jenen Rand zu setzen, werde ich mich ausruhen, denke ich. Ich erreiche ihn und stütze das Knie darauf; aber der vorspringende Fels drückt mich heraus, während ich mich strecke. Fieberhaft taste ich ihn auf- und abwärts ab, kann mich kaum noch im Gleichgewicht halten. Noch zwei Meter... die Hände vorgestreckt in schmerzhaftem Krampf.

Meine Kameraden, einer über dem andern im Kamin, sahen aus dem Nebel auf dem Rand des Felsens erst eine Hand auftauchen, dann meine Haare und die andere Hand, dann den Pickel und schliesslich meine Schultern. Jetzt schwebe ich im Kamin. Mit dem Rücken gegen eine Wand und den Füssen gegen die andere gestemmt, ruhe ich aus wie in einem Lehnstuhl.

Carrel stellt eine Frage an Gaspard, der den Haken oben erreicht hat und verschwindet. Enzo ist neben mir im Kamin; wir sprechen aber nicht. Wir frieren sehr, können uns aber nicht rühren. Weiter oben wäre es vielleicht besser; ganz langsam verändern wir etwas die Stellung. Der gegen den Stein gedrückte Rücken fängt an zu schmerzen, auch die Knie ermüden. Wäre es nicht vielleicht besser, rechts die weisslichen Felsen zu erreichen und von dort aus den Grat zu ersteigen? Das Felsendach springt schwer über uns vor. « Noch zwei Schritte! » ruft Carrel. « Ah! » Ein Schrei und ein Gepolter: ein Felsblock ist auf Carrel heruntergestürzt, hat die Beinkleider zerfetzt und ihn am Fuss verletzt. Heulend stürzt der Block in die Tiefe, Carrel aber ist noch auf seinem Platz. « Oh! Ich habe nur einen Felsblock hinuntergeworfen », sagt er mit fester Stimme.

Auch Bich ist jetzt bei Carrel und Gaspard angelangt. Ab und zu sehen wir ihre Köpfe und dann ein dünnes Seil in der Luft. Gegen den Nebel zeichnet sich ein Vorsprung ab, oben abgerundet, der dann plötzlich ein menschliches Profil annimmt: das Kinn, die Lippen, die Nase, die hohe Stirn, die zerzausten Haare; beinahe wir ein von Paolo Trubetzkoy modellierter Kopf. Das kleine Seil bewegt sich wieder in der Luft; man erkennt, dass es doppelt und über jenen Felsen geworfen worden ist. Erst später erfahren wir, dass Gaspard sich schwingend ins Leere heruntergelassen hat, um das Ende des auf der anderen Seite hängenden Seils zu fassen. Eines der beiden Enden liegt zwischen den Lippen, das andere über dem Kinn jenes wunderbaren Felsenprofils.

Seit drei Stunden sehe ich denselben Stein vor mir. Zwischen den Knien sehe ich den Rand der Felsen nahe über dem Abgrund, den wir heraufgeklettert sind, aber der Nebel entzieht uns den Schrecken der leeren Tiefe; alles ist milchweiss und gleichförmig unter uns. Meine Jacke ist im Rucksack Gaspards.

Was die dort oben nur machen? Carrel steht aufrecht auf dem Kopf jener seltsamen Gestalt. Gaspard schwebt im Leeren und hängt an einem Seil. Ich sehe seinen Rucksack, den Pickel, einen Fuss gegen den Himmel. Er schlägt gegen den Felsen, steigt wieder hinauf, erfasst den Rand und steht neben Carrel.

Auch die andern kommen hinüber, einer nach dem andern; ich sehe sie in seltsamen Verkürzungen. Endlich komme auch ich an die Reihe. Am Haken unter dem Dach angekommen, verstehe ich nicht, wie es möglich war, weiter zu kommen. Wo ich ein Band erwartet hatte, finde ich lediglich ein glattes, schiefes Gesims vor. Ich strecke mich darauf aus, wage aber nicht, das Seil vom Haken zu lösen. Zehn Meter von mir hält Carrel es waagrecht gespannt; wenn ich ausrutsche, werde ich einen Kreisbogen ins Leere beschreiben und schliesslich gegen eine Felskulisse aufschlagen.

Ich entschliesse mich und komme kriechend vorwärts; der ganze Körper schmiegt sich an den Stein; die Hände suchen nach rauhen Stellen, die Finger möchten sich in den Fels einkrallen. Ich komme langsam vorwärts, halte mit den Fingernägeln den Körper, der immer rutschen will. Verlassen komme ich mir auf dem Berg vor, der mich zurückstösst und umwerfen möchte; aushalten heisst es, sich irgendwo anklammern... da, weiter vorn, ein bisschen weiter rechts, eine kleine Rauhigkeit auf dem gleichförmigen Fels. Das Gesims ist unterbrochen.

Zwei oder drei Blöcke ragen drüben hervor, wie Zähne aus dem Zahnfleisch herausstehen. Ich ergreife den Rand des ersten und lasse mich gehen, die Füsse bleiben, ich weiss nicht wo, da der Block überhängt. Ich komme vorwärts und klammere mich mit beiden Händen am schmalen, vorspringenden Rand fest; da, ein Platz für den Fuss! Noch sechs Meter.

Nach dem Block ein Loch, als hätte dort früher ein anderer Block gesessen; vielleicht war es der, der auf Carrel gestürzt ist. Etwas weiterhin werde ich einen Haken finden, von dem aus ich mich mit dem Seil herablassen muss, um mit einer kleinen Pendelschwingung in der Luft schwebend ein anderes Knotenseil zu fassen, wie die andern es schon getan haben.

Ich strecke mich vor: der Rand des Blocks gibt nach und zerstückelt sich unter meiner linken Hand!

Schwebend halte ich mich mit der rechten Hand fest und werfe die Felsbrocken weg. Langsam drehe ich mich um; der Haken hat sich aus seiner Ritze gelöst und hängt an dem im Seil eingedrückten Karabiner herunter; er schwingt hin und her, klirrt gegen den Stein, kommt langsam tiefer und bleibt auf meiner Brust hängen. Gleichzeitig bricht und zerkrümelt unter der rechten Hand der Rest des vorspringenden Felsrandes. Ich bleibe dadurch im Gleichgewicht, dass ich die geöffneten Hände mit aller Kraft gegen den flachen Stein presse. Schweigen!

« Bindet den Hammer ans Seil und lasst ihn herunter, ich werde den Haken wieder einschlagen... » « Nein, nein, es ist besser so. » Sie werfen mir das Ende eines anderen Seils zu:

« Binden Sie sich fest! » Ich lege mich in die Schlinge und lege dabei erst die eine und dann die andere Hand am Felsblock an.

« Gut so! Nun lassen Sie sich fallen! » Der Nebel leckt die Felsen unter mir.

Ich lasse die Finger über den mit Bruchstücken und Staub belegten Stein gleiten; ich hänge in der Luft — mit der ganzen linken Seite schlage ich gegen den Fels an. Verwünschter Pickel! Ich fasse das Knotenseil: ein Meter, zwei Meter... das Seil schwingt. Gott, wie ist das anstrengend! Noch einen Meter. Eine Schuhsohle kommt über meinem Kopf zum Vorschein — ich fasse nach dem Schuh — ich keucheeine Hand fasst mein Handgelenk. Ich berühre den Fels wie der Schwimmende das Ufer; ich krümme mich mit letzter Kraftanstrengung zusammen... ich bin am Ziel!

Erneut sind wir alle beisammen über jenem seltsamen Profil, das man von unten sah: ein Felsblatt, das wenige lose Steine stützt; zwischen einem und dem andern sieht man das Weisse des Nebels. Der Himmel ist ganz bedeckt und dunkel. Ich werde gewahr, dass ich im Mund mit einem Pflaumen-kern spiele.

Bich und Carrel lösen die Knoten des Seils; sie haben keine Eile: « das Grösste haben wir hinter uns », sagt Carrel und schaut nach oben, wo nur Felsen zu sehen sind und wiederum Felsen. Ganz hoch erscheint undeutlich ein strauchähnliches Gebilde: es ist ein Block, der aus dem Kamm vorspringt und zum Teil durch Fransen von riesigen Eiszapfen verdeckt wird. Sechs Uhr abends.

Wir haben das Dach links umgangen: nun sind wir auf einer schiefen Platte, die von einer Kruste von Eis und hartem Schnee bedeckt ist. Wir schlagen kleine Stufen hinein. So nähern wir uns einem Kamin. Der Fels ist nass. Regnet esEs schneit! Ganz wenig zwar, aber es schneit. Oben hämmert Carrel wie rasend auf den leuchtenden Fels, die andern sind alle im Kamin. Langsam fällt der Schnee, schmilzt auf dem noch lauwarmen Stein, bleibt auf den Kleiderfalten liegen, tritt am Halskragen ein. Der Fels wird kalt, und der Schnee schmilzt nicht mehr. Die Finger werden steif, und die Fingerspitzen ertasten unterm Schnee den Stein. Nach und nach werden sie gefühllos wie der Stein und das Eis. Ein Lichtschein leuchtet im Nebel auf, als hätte sich für einen Augenblick die Tür eines glühenden Ofens geöffnet. Ich habe das Gefühl, als hätte zwischen dem rechten Ellbogen und dem Handgelenk eine elektrische Entladung stattgefunden, ähnlich dem Gefühl, das man hat, wenn man einen Stoss gegen den Ellbogen bekommt. Ich habe aber nirgends angestossen. Der Schnee fällt gleichmässig und fein ohne jeglichen Wind.

Im Kamingrund ist ein dünner Stein eingezwängt; er scheint fest, bewegt sich aber, wenn man ihn berührt. Man muss auf den beiden Wänden je einen Fuss halten, was aber sehr ermüdet. Ich stütze einen Fuss auf den Stein, ohne jedoch zu stark aufzutreten. Er scheint standzuhalten. Ich halte mich inzwischen dadurch aufrecht, dass ich die beiden Hände wie auf Armlehnen auf zwei Vorsprünge stütze. Plötzlich wird die rechte Hand heftig vom Stein weggerissen. Ich weiss nicht, ob eine fremde Kraft sie weggeschleudert hat oder ob die Bewegung instinktiv war; das Geräusch des Donners hallt auf den Felsen wider und verliert sich in der Ferne. Ich versuche, mich auf den eingeklemmten Stein zu setzen; es ist jedoch nicht möglich, irgendwie auszuruhen. Ich klettere einige Meter höher. Die anderen müssen ein besseres Plätzchen gefunden haben, denke ich. Ein gelbliches Licht gleitet nochmals über die Felsen; nach und nach wird es grau und bleifarbig. Enzo ist noch bei uns; dann folgt auch er Carrel und Gaspard. Er verschwindet. Ich sehe oben einen Stock, der sich gegen das schwache Himmelslicht abhebt: vielleicht ist es der Pickel, der aus Carrels Rucksack herausragt.

Ich sehe nichts mehr, höre nur ferne Stimmen. Warum soll ich im dunkeln weiterklimmen, über Felsen, von denen ich sicher abrutschen muss? Schliesslich ist es Zeit, einen Platz für die Nacht ausfindig zu machen. Wäre es nicht besser, im Kamin zu bleiben? Den Fels mit den mir fremd gewordenen Fingern abfühlend, komme ich über dem fürchterlichen Abgrund des Furggen höher. Ich fühle die Leere unter mir. Es schneit immer weiter.

Um halb neun Uhr abends hielten wir auf einem etwa dreissig Zentimeter breiten und einige Meter langen Eisband an, das sich gerade unter dem äussersten Rand des grossen Überhangs befindet. Carrel, Gaspard und Benedetti waren, wie wir am nächsten Morgen sahen, noch weiter oben unterhalb der Gipfelwächte.

Man konnte auf dem Band nicht aufrecht stehen, weil der Fels darüber vorsprang. Bei Licht einer Kerze suchten wir eine Spalte und klopften, da wir den Hammer verloren hatten, mit dem Pickel einen Haken ein. Einen anderen schönen, neuen und glänzenden Aluminiumhaken hatte Carrel schon in eine andere Spalte eingeschlagen; er bewegte sich aber. Wir banden uns an den Haken fest. Von oben kam ein Ruf, dann nichts mehr. Es war, als wären wir allein auf dem Berg.

Auf jener Eiswächte verbrachten wir elf Stunden. Es schneite die ganze Nacht. Nur um 10 Uhr liess uns ein kurzes Aufleuchten den Monte Rosa erkennen, wo Leuchtfeuer angezündet wurden. In der Richtung des linken Hanges leuchtete ein Licht: Zermatt, dreitausend Meter tiefer.

Die unter uns gegen die Wand gedrückten Nebel machten uns den Eindruck, als würde der Berg gleich auf den Furggengletscher hinunterstürzen, wo der Mond sich in zwei kleinen Seen spiegelte. Der vom Wind aufgepeitschte Schnee prasselte uns plötzlich über Gesicht und Kleider, von wo er mit einem Geräusch abfiel wie auf trockene Blätter gestreuter Sand. Wir blieben unbeweglich und hart wie die Felsen.

Der Mond verschleierte sich wieder und sah in den Dämpfen durchsichtig und ganz nahe aus. Um elf Uhr war der letzte Stern verschwunden. Es fiel wieder ganz feiner Schnee über unsere schon steifen Kleider; nur über den Knien, wo der Stoff auf der Haut auflag, schmolz der Schnee.

Die Biwaksäcke und einige kleine Kocher hatten wir in Valtournanche gelassen. Ich war überzeugt, dass ich das Sonnenlicht nicht mehr sehen würde und wartete stumpfsinnig und unbeweglich.

Maurizio hat das kleine Seil zu einem Ring gedreht, ihn am Haken festgemacht und sich in den Ring geschoben. So hängt und sitzt er gleichzeitig. Wir wärmen etwas Wein. Die Flamme der Kerze, die wir zwischen den Fingern halten, wird durch die hohle Handfläche geschützt.

Die Kerze ist ausgegangen. Die Hand ist im Dunkel verschwunden. Kein Wort. Meine Kameraden werden eins mit dem Berg.

Unter den Plakaten in der Stadt sind einige, die einen Bernhardinerhund mitten im Schnee mit einem Fläschchen am Hals darstellen. Lucianos Beinkleider sind über dem Knie zerrissen: der Schnee schmilzt auf der nackten Haut... Warum macht er den Riss nicht zu? Auch er ist ganz stumpfsinnig. Ich strecke ein Bein aus; der Schuh wirft etwas Schnee ins Leere und bleibt ohne Stütze; ich lege das Bein wieder in die alte, gebeugte Stellung.

Am Rand eines Flusses entlang spazierend, gibt mir ein Freund plötzlich einen Stoss und hält mich an den Schultern zurück. Welch dumme Witze! Ich erwache mit baumelnden Armen über den Abgrund gebeugt und vom Seil gehalten.

Ich strecke das andere Bein ins Leere; die Knie wollen nicht mehr gebeugt und unbeweglich bleiben. Nach vielen Jahren fand man im Polareis unter dem Schnee die Reste Andrees: weisse Knochen, Seile, Werkzeug, ein Tagebuch. Wieder fahre ich aus dem Schlaf und reisse die Augen über dem schrecklichen Dunkel auf. Es schneit. So vergeht langsam die schönste Nacht meines Lebens.

Ein ruhiges Licht auf dem Mischabel: ein Biwak? Nein! Ein Lichtschimmer zwischen zwei Spitzen unter den Wolken. Die Sonne ist schon aufgegangen, ist aber noch verdeckt; das grosse Tal ist kalt und leblos. Der neue Tag ist angebrochen, und wir sind mit unsern Seilen noch an den Fels gebunden wie seinerzeit der heilige Sebastian an die Säule. Wie werden diese eisigen Hände durch den Schnee dringen und sich am Fels anklammern? Man muss abwarten.

Da kommen fröhliche Stimmen von oben: das Leben! Wieviel fehlt uns noch?

Ein mit schmalen Schneestreifen und Eiszapfen beränderter schwarzer Turm fällt zur Linken senkrecht und furchterregend ab. Wer wird sich je an jene Felsen wagen?

Noch ein Ruf! Das Licht ist immer noch grau und kalt. Die Seile sind steif und wollen sich nicht aus den Karabinern lösen lassen. Über dem Haken ist der Fels von der Kerze geschwärzt. Ausser dem Haken lassen wir ein halbverbranntes Streichholz dort, sonst nichts!

Um halb acht Uhr bezwangen wir den Felsen, der über unserm Biwakband vorsprang, die Füsse Maurizios warfen viel Schnee ab und verschwanden. Der Furggen- und auch der Hörnligrat waren nah. Vierzig Meter höher vereinigten sie sich: der Gipfel!

Die kalten Felsen waren hellgrau und durch den Schnee sahen sie aus wie dicke Glasblöcke. Der Nebel war leicht und blau; bald brach die Sonne durch, und der Himmel ward ganz klar.

Unsere Kameraden warfen uns im letzten Hang, der sich über Nacht mit Schnee und Eis bedeckt hatte, ein Seil zu. Als wir sie erreichten, hatte Carrel mit dem Pickel schon die Schneewächte des Gipfels durchhauen. Im Sonnenglanz erschien alles freudig und jung wie an einem Festtage.

Am 19. September um 830 Uhr war der Durchstieg der Matterhorn-Ostwand vollbracht!

Am selben Abend sassen wir mit einigen Freunden in Breuil um die von Maurizios Bruder reich ausgestattete Festtafel.

Vier Nächte lang war das Ausruhen mit vielen anderen guten Vorsätzen vergessen worden. So war es auch an jenem Abend. Wir waren auch von der Müdigkeit aufgeregt. Der Durchstieg lag ja schon weit zurück, gehörte der Vergangenheit an und schien uns schon so einfach und natürlich. Eigentlich war alles fertig, und wir waren wieder ins Alltagsleben zurückgekehrt. Die Welt hatte sich nicht geändert.

Nur dort auf dem Berg, wo er am stolzesten und abweisendsten erscheint, bezeugen einige im verwundeten Fels gebliebene Haken die Willenskraft der kleinen Menschen, die das Vorrecht gehabt haben, ihm sein letztes Geheimnis entlocken zu dürfen. Das Matterhorn ragt einfach, gross und herrlich aus den Gletschern auf: ein Symbol des Unendüchen! Und doch fällt auch es der Zerstörung anheim. Die Gletscher tragen die Steine ins Tal, die von seinen himmelhohen Flanken gerollt sind; die Bäche tragen sie weiter und zerbrechen sie, und die Flüsse bringen den Sand zum Meer.

Einer fehlte an jenem Abend, um unsere Freude voll zu machen. Wir hatten Guido Rey geschrieben, er solle seine Abreise um einige Tage verschieben; der Brief kam zu spät nach Breuil. Wir wollten ihm selbst die gute Kunde bringen. Er hätte uns gewiss nicht gesagt: « Ihr habt den Durchstieg erzwungen, aber Ihr habt erst Seile gelegt. Ohne Seile kann man unmöglich hinauf », wie uns jemand sagte. Diese Unglaublichkeit erbittert uns nicht; sie erregt unsern Stolz. Lohnt es sich denn im Alpinismus und auch im Leben — hat sich noch mancher gefragt —, nur das Möglichste zu verlangen? Um besser zu werden, ist es notwendig, die Grenzen unserer körperlichen und geistigen Leistungen zu sprengen.

Der Alpinismus ist eine der erhabendsten Ausdrucksformen unseres Wissensbedürfnisses. Man hat gesagt, er sei edel wie die Kunst und schön wie der Glaube. Wie der Glaube lässt er uns im eigenen Innern etwas erkennen, dessen Existenz wir nur über uns suchten. Er nähert uns der idealen Vervollkommnung eines Lebens, das würdiger ist, ertragen zu werden.

Die grossen Unternehmungen auf den Bergen sind Versuche, uns über unsere begrenzte Natur hinauszuheben.

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