Meine Freundin, die Sphinx
Annelise Rigo, Leysin
1 Die ( Sphinx>: eine Felsformation an der Tour d' Aï in den Waadtländer Alpen.
Manchem ist eine Katze oder ein Hund der beste Freund - ich habe mir dazu eine Sphinx ausgewählt! Es handelt sich wirklich um eine echte Sphinx mit allen Merkmalen ihrer Gattung: sie ist aus Stein, unbeweglich und durch nichts zu erweichen, majestätisch, voller Geheimnisse und Rätsel.
Aber wie kann man - werden Sie fragen -für ein solches Wesen Freundschaft empfinden? Ach, das ist eine ganze Geschichte. Eine Geschichte, die so beginnen könnte: Es war einmal - lang, lang ist es her, noch ehe es Menschen gab - eine Zeit, in der sich Mutter Natur damit vergnügte, Gebirge, Täler, Schluchten und Felsen zu formen. Sie bearbeitete Blöcke aus hartem Fels, Kalkstein, Nagelfluh und liess so aus der grauen Erdkruste Türme, Festungen und auch Tiere entstehen -eine grossartige versteinerte Menagerie. Und so erwachte eines Tages mitten im Grün der Wiesen eine Sphinx. Sie fühlte sich so fern ihrer Wüste recht fremd. Der erste Schnee überzog sie mit seinem Glanz. Und nach und nach fand sie Gefallen daran, erinnerte sie doch dieser Glanz an die blendende Sonne des Südens. Wie lange blieb sie so in voller Einsamkeit, die Augen der untergehenden Sonne zugewandt?
Schliesslich, nach vielen tausend Jahren der Öde, begann sich das Gebirge zu beleben. Gemsen besuchten sie, und der Adler wählte sie zur Heimat.
Später noch kamen Menschen und weideten ihre Herden zu ihren Fussen. Sie betrachteten die Sphinx, jedoch nur von ferne, aus achtungsvoller Distanz. Sehr viel später bauten andere Menschen Skilifte mit lärmenden Maschinen. Der Winter veränderte sein Gesicht. Jetzt sah die Sphinx nicht mehr die grossen unberührten Flächen zu ihren Fussen, sondern ein Ameisengewimmel, ein zügellos-ausgelassenes Ballett, von dem ihr schwindlig wurde. Die Menschen betrachteten sie noch immer von ferne, bewundernd oder gleichgül-tig-zerstreut. So kam es, dass Langeweile sie packte, dass sie sich einen Kameraden wünschte. Sie träumte von einem Freund, der Das der Sphinx treuer wäre als die eiligen Skifahrer, von jemandem, der bereit wäre, mit ihr zu spielen, zu reden und Zärtlichkeiten auszutauschen...
Dieser Ruf reisst mich brüsk aus meinen Träumen. Ich lasse das Seil los und warte, ehe ich weitersteige, bis ich von oben ein verheissungsvolles ( Nachkommen !) höre. Der Fels fühlt sich warm an, die Füsse suchen nach Haltepunkten. Ich klimme Griff um Griff empor, dem so beruhigend wirkenden roten Seil folgend. Und jetzt? Ich zögere, versuche, verklemme mich etwas - oh, diese blödsinnigen Kamine, aus denen ich nicht weiss, wie wieder herauskommen, nachdem ich mich ganz in sie hineingezwängt habe! Dann kommt eine wahre Treppe, die ich mich - wenn auch atemlos - in einem Zug zu überwinden bemühe. Ein Vogel schlüpft aus einer Ritze, ein Aus dem französischsprachigen Teil. Übersetzt von Roswitha Beyer, Bern.
Alpenmauerläufer. Er nistet ganz nah, und während er hin und her fliegt, kann ich sein vornehmes rot und graues Gefieder und seinen merkwürdig flatternden Flug bewundern. Noch sind einige Meter zu klettern, bei denen ich mich auf die Griffe konzentriere - dann der nächste Standplatz. Hier kann ich, einmal eingerichtet, meinen Gedanken von neuem freies Spiel lassen...
Der Traum der Sphinx ist Wirklichkeit geworden. Die Jungen sind zu ihr gekommen, haben versucht, sie zu zähmen, die Probleme, die sie bietet, zu überwinden. Und nach und nach ist es ihnen gelungen, nicht durch raffinierte Berechnungen, sondern in hartem, hautnahem Ringen, in einem Spiel, bei dem sie sich vorbehaltlos einsetzten. Glücklich über diese neugewonnene Gesellschaft liess sich die Sphinx bezähmen.
Vom Moment an, wo die Tage wieder schön werden, kehren auch ihre Freunde zurück, um sie zu erklettern. Sie versuchen, neue Passagen zu bewältigen, neue Varianten zu eröffnen, oder sie klettern rein zu ihrem Vergnügen auf bekannten Routen. Auch ich habe mich, bezaubert von der Schönheit und Majestät der Sphinx, ihr genähert, habe begonnen, ihr zu schmeicheln, ihre rauhen, steinernen Flanken zu liebkosen, mit ihr zu spielen, bis sie mich ihren Rücken erklettern liess. So entstand von Saison zu Saison allmählich eine Freundschaft zwischen uns...
Mit Bedauern verlasse ich den Standplatz, einen richtigen Ausguck, von dem aus der Blick über ein weites Stück der Landschaft schweift: über den grünen See; über Wiesen, die an den tieferliegenden Stellen - dort, wo der Schnee gerade erst verschwunden ist -noch braun sind; bis zu der weit in der Ferne gestaffelten Silhouette der blauen Berge. Ein Sausen wie von einem Segelflugzeug: tatsächlich, eine Alpendohle, die Königin aller Segler! Sie verspottet mich durch ihre Ungebundenheit, mich, die ich mühselige Anstrengungen auf mich nehmen muss, um nur etwas Höhe zu gewinnen. Doch trotz allem: wir sind Gefährten in diesem luftigen Reich, beide trunken vom Gefühl der Weite.
Jetzt sind noch einige heikle Schritte in dieser letzten Seillänge zu überwinden, und dann folgt der Abstieg in eine von Frühlingsblumen übersäte Wiese: zarte Soldanellen, winziger Krokus und Anemonen mit ihrem feinen Flaum.
Adieu, meine Sphinx, auf bald, bis zu einem nächsten Aufstieg und zu neuen Träumen!