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Neue Fahrten in den Berner Alpen

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Neue Fahrten in den Berner Alpen.

Von Willi Weizenbach und Erich Schulze.

Vorbemerkung.

Weite, sanft geneigte Firnflächen, gewaltige Gletscherströme, flutendes Licht und die erhabene Ruhe einer arktisch anmutenden Landschaft: das ist das Bild, das sich jedem Besucher des Jungfraujoches offenbart, das sind Begriffe, die untrennbar verbunden sind mit der Natur des Berner Oberlandes.

Das Berner Oberland nennt aber noch eine zweite Natur sein eigen: ragende Steilwände von schwindelnder Höhe, enge Gletschertäler, kalte Schatten in abgründigen Tiefen und die wilde Romantik einer durch die Macht der Naturgewalten belebten Hochgebirgsnatur. Das ist das Bild, das sich dem Beschauer von Norden bietet, das sind die Bergformen, die mit erdrückender Wucht die Täler von Lauterbrunnen und Grindelwald überragen und durch ihre Gegensätzlichkeit zu den sanften Formen der Niederungen der ganzen Landschaft einen romantischen Zauber verleihen.

Und diese schönste, wildeste Seite des Berner Oberlandes ist zugleich auch die gemiedenste. Hier finden sich abseits der Heerstrasse des Turisten-und Fremdenverkehrs einsame Winkel, die kaum je eines Menschen Fuss betrat, hier fanden sich bis in die jüngste Zeit Steilwände von gewaltiger Grösse und Wucht, die unberührt geblieben waren durch all die Zeitläufe.

An diesen letzten und grössten Problemen der Berner Alpen vollzog sich im Zeitraum von wenig mehr als einem Jahrzehnt eine wohl einzigartige Erschliessungstätigkeit. Es würde zu weit führen, die Namen und Fahrten all jener zu nennen, die an dieser Erschliessungsarbeit Anteil hatten. Besonders würdigen möchte ich aber die Erfolge Dr. Laupers und seiner Seilgefährten an den Nordabstürzen des Jungfraustockes, die jüngst in der Bezwingung der Eigernordwand ihre Krönung fanden.

Daneben wurde auch vom Verfasser dieser Zeilen und seinen Freunden eifrig gearbeitet. Fünf grosse Wände fielen als Ergebnis dieser Tätigkeit. Wie sie bezwungen wurden, soll nachfolgend berichtet werden.W. W.

Die Nordostwand des Gspaltenhorns.

Der Absturz des Gspaltenhorns in das Sefinental stellt eine der gewaltigsten Flanken der Berner Alpen dar; 1750 m beträgt die Wandhöhe, 1900 m überragt der Gipfel den Talboden des Kilchbalm.

Es ist verständlich, dass diese himmelstürmende Mauer schon vor uns die Aufmerksamkeit unternehmungslustiger Kämpen auf sich gelenkt hatte. Dr. Walter Amstutz und Gottlieb Michel waren am 9. September 1928 in die Wand eingestiegen. Sie benutzten als Anstieg eine ausgeprägte Gratrippe, die vom Fusspunkt der Wand nach rechts gegen den Nordwestgrat emporzieht. Für diese Rippe schlugen die Erstbegeher die Bezeichnung Kilch- balmgrat vor. Da, wo sich die Rippe einige hundert Meter unter dem Hauptgrat in der Wand verliert, querten sie nach rechts und erreichten über die obersten Hänge des Hirtligletschers die Büttlassenlücke. Ein Angriff auf die etwa 800 m hohe Gipfelwand war der Partie Amstutz-Michel infolge schlechter Verhältnisse unmöglich gewesen.

Über diesen Versuch an der Sefinenwand des Gspaltenhorns hatte ich im Jahresbericht des A.A.C.B.ern eine Notiz gelesen, die mein lebhaftes Interesse erregte. Ich verschaffte mir ein Bild der Wand, studierte es aufmerksam und kam schliesslich zu der Meinung, dass der Gipfelaufstieg unter günstigen Umständen zu meistern sei. Es konnte meines Erachtens gelingen, von jener Stelle, wo sich der Kilchbalmgrat verflacht, in einer Querung nach links die Gipfelwand zu erreichen. Auf einem System von schwach ausgeprägten Rippen in der Gipfelfallinie müsste sich dann der höchste Punkt gewinnen lassen.

Schon für den Frühsommer 1932 hatte ich unter anderem einen Angriff auf die Sefinenwand des Gspaltenhorns vorgesehen. Damals glückte uns als einziger Erfolg die Bezwingung der Grosshornnordwand, weitere hochfliegende Pläne wurden im strömenden Regen ersäuft. Im September des gleichen Jahres kehrte ich abermals in die Berner Alpen zurück. Altes Sehnen wies mir den Weg ins Sefinental.

Es war ein wundervoller Nachmittag, als wir, mein Freund Schulze und ich, durch das Tal der Sefinen-Lütschine wanderten. Dunkle Wälder füllen den Talgrund, durch den die Wildwasser sich tosend einen Weg zur Tiefe bahnen. Auf sanft ansteigendem Pfad kamen wir an eine Talbiegung; hier offenbarte sich uns ein Bild von grossartiger Schönheit. Eine düstere himmelragende Mauer steigt aus dem hintersten Grund des Sefinentales empor, kulminiert in einem weiss leuchtenden trapezförmigen Gipfelaufbau: die Nordostwand des Gspaltenhorns. Zur Linken schliesst sich an diese Wand der langgestreckte, firngekrönte Kamm des Tschingelgrates, zur Rechten der Steilabsturz des Büttlassen. Diese Bergformen lasten mit erdrückender Wucht über dem Kilchbalm, einem einsamen, begrünten Talboden am Fuss der Wände.

Gemächlich schlenderten wir bis zum hintersten Grund des Tales. Hier galt es, nach einer Lagerstätte Umschau zu halten. Wir entdeckten eine mächtige ausgeräucherte Höhle am nördlichen Talhang. Sie war zum Teil mit duftendem Heu gefüllt, das von zähen Bergbauern aus den Steilhängen zusammengetragen worden war. Eine Feuerstelle und ein paar primitive Bänke bildeten die Einrichtung, ein rieselnder Quell am Eingang versorgte uns mit Wasser. Was wollte unser Herz noch mehr!

Es war eines der herrlichsten Freilager, die ich je erlebte. Lange sassen wir ums glosende Feuer, rauchten Schweizerstumpen, lauschten auf das Rauschen der Bergwasser und führten weise Reden über die Probleme des Lebens. Spät krochen wir ins duftende Heu und träumten von der Romantik der geplanten Fahrt.

Morgens 4 Uhr: Graue Wolken umhüllten die Bergesflanken, nur der Talgrund war frei von Nebeln. Rasch wieder zurück ins warme Nest.

il Morgens 7 Uhr: Heller Sonnenschein weckte uns aus dem Schlaf. Ein wolkenloser Himmel blaute über den Bergeshäuptern. Das Schicksal hatte uns genarrt. Rasch waren wir auf den Beinen. Ohne Frühstück verliessen wir 15 Minuten später unseren Wigwam und strebten eiligst über steile Grasschrofen am nördlichen Talhang einem von Lawinenschnee erfüllten Kar zu, das rechts des Kilchbalmgrates unter den Abbrüchen des Hirtligletschers eingelagert ist.

Bald erkannten wir, dass alles Rennen aussichtslos sei, dass es uns nie mehr gelingen würde, die gewaltige Mauer am heutigen Tage zu bezwingen; nun, so wollten wir wenigstens den Einstieg und den untersten Teil der Wand erkunden, um für einen späteren Angriff gewappnet zu sein.

Wir liessen uns auf einem mächtigen Felsblock nieder und studierten den Kilchbalmgrat, der mit einem mächtigen Pfeilerabbruch im Schutt fusst. Wir erkannten, dass auch unsere Route in ihrem unteren Teil über den Kilchbalmgrat führen musste, denn die steile plattige Wandeinbuchtung, die zu seiner Linken aus gewaltigen Lawinenkegeln emporsteigt, ist unbegehbar. Wo waren die Erstbegeher dieser Gratrippe eingestiegen? Wie waren sie gegangen? Wir wussten es nicht, hatten keine Fahrtbeschreibung zur Hand. Wir mussten uns also selbst einen Weg zum etwas flacheren Teil des Kilchbalmgrates suchen. Dieser Weg dürfte keine allzu grossen Schwierigkeiten bieten, denn es galt, ihn vor Tagesanbruch zu begehen, wollten wir die gewaltige Wand ohne Biwak meistern.

Nachdem wir dies festgestellt hatten, querten wir über Schutt nach links zum tiefsten Fuss des Pfeilerabbruches und versuchten, hier hoch zu klimmen. Es war unangenehmste, schwerste Arbeit. Steiler plattiger Fels mit Gras durchsetzt und von Wasser überronnen bot ernste Schwierigkeiten. Das war nichts für eine Nachtkletterei. Wir zogen uns zurück, querten am Fusse der Felsen weit nach rechts und gingen über ein höher liegendes, ansteigendes Band wieder nach links an die Kante. Hier schien ein Vorwärtskommen leichter möglich zu sein, doch war das Gelände immer noch zu schwierig für einen nächtlichen Anstieg. Nun stiegen wir rechts des Pfeilers ein Stück über den steilen Lawinenkegel empor, der unter den Abbrüchen des Hirtligletschers eingelagert ist. Hier entdeckten wir in der nördlichen Begrenzungsflanke des Kilchbalmgrates rechts von zwei tiefeingerissenen, nahezu parallelen Kaminen eine etwas gegliederte Wandpartie, durch die vielleicht ein leichterer Aufstieg zum Grat möglich war.

Ich querte den steilen Firnkegel zum Fusspunkt der Kamine. Freund Schulze war etwas zurückgeblieben und dirigierte meinen Anstieg durch Zurufe von unten. Über Bänder nach Westen querend, entdeckte ich hinter einer Kulisse verborgen ein Riss- und Rinnensystem, durch das ich rasch emporklomm. Schon sah ich die Nähe des Grates, da wurde meinem Vordringen durch eine steile Plattenzone ein vorläufiges Ziel gesetzt. Doch ich hatte genug gesehen. In Kletterschuhen musste es zweifellos möglich sein, über die Platten und durch die kaminartige Fortsetzung der Rissreihe den Grat zu erreichen. Damit war der Schlüssel zur Ersteigung der untersten Zone der Wand gefunden. Befriedigt vom Ergebnis der Erkundung stieg ich zurück; dann schlenderten wir gemächlich im Dämmerschein des Abends zu unserem Biwak am Kilchbalm.

Der andere Morgen sah uns im Tal. Wir erwarteten Freund Drexel, der sein Kommen angekündigt hatte. Schon am Nachmittag stiegen wir gemeinsam wieder zum Kilchbalmbiwak auf. Ein wolkenloser Tag ging zur Neige. Goldig spielte die Abendsonne über die Gipfelkrone des Gspaltenhorns, während im Tale schon dämmerige Schatten lagen.7. September: Um 2 Uhr morgens verliessen wir unseren Schlafplatz. Dank der vorausgegangenen Erkundung gelang es uns erstaunlich gut, in mondloser Nacht durch das komplizierte Gelände den Weg zum Einstieg zu finden.

Noch in der Dunkelheit — es war 415 Uhr — begannen wir auf der erkundeten Route emporzuklimmen. Langsam wurde es im Osten hell. Silbern schimmerte das graue Kalkgestein im Frühlicht des werdenden Tages. Als wir an jene Stelle gelangten, wo ich bei meiner Erkundung umkehrte, war es vollends hell geworden. Hier vertauschten wir die Nagelstiefel mit den Kletterschuhen, dann ging 's durch die am Vortage festgestellte Kaminreihe empor. Ein schwerer Überhang dicht unter der Gratschneide verwehrte uns noch den Ausstieg; Freund Drexel, der ihn bereits überwunden hatte, liess uns zu kurzer Sicherung ein Seilende herab, an dem wir rasch zur Höhe klommen.

Hier öffnete sich uns erstmals der Blick auf die gewaltige Gipfelwand des Gspaltenhorns. Noch gönnten wir uns keine Zeit zum geruhsamen Schauen; wir wollten erst den Kilchbalmgrat hinter uns bringen, ehe wir uns dem Studium der Wand widmeten. In geradezu einzigartiger, prächtiger Kletterei stürmten wir über die Gratrippe empor, die aus festem, plattigem Fels aufgebaut ist. Keiner dachte daran, das Seil anzulegen. Wozu auch? Warum sollten wir uns den Genuss der prächtigen Kletterstellen durch behindernde Seilbedienung vergällen lassen?

Mählich verflachte sich der Kilchbalmgrat ein wenig. Wir sahen schon in nächster Nähe die Firnkalotte schimmern, die seinen Scheitel krönt. Freund Schulze war weit vorausgeeilt; er sass auf einem Felskopf am Rande der Firnhaube und beäugte die Gipfelwand.

Bald waren wir bei ihm. Es war erst 7 Uhr morgens. Wir hatten reichlich Zeit und konnten uns mit Musse dem Genuss des prächtigen Morgens und dem Studium des Weiterweges hingeben.

Von der eigentlichen Gipfelwand trennte uns eine tiefeingerissene Steilmulde, aus der eine fast senkrechte Wand zum Nordwestgrat emporsteigt. Wollten wir die Gipfelwand gewinnen, so mussten wir entweder durch eine Reihe brüchiger Rinnen in die Steilmulde absteigen oder die sie westlich begrenzende Wand auf abschüssigen Bändern in langen Querungen überwinden. Beide Wege schienen gangbar zu sein.

Aber in welcher Verfassung befand sich diese Gipfelwand! Schon von unserem Standplatz aus erkannten wir, dass sie aus morschem, dachziegelartig nach aussen geschichtetem Fels aufgebaut ist. Jedes Band war mit Schnee bedeckt, jede Runse und jeder Riss war mit Eis gefüllt. Das mochte harte Arbeit geben.

Schulze war vom Grat aus ein Stück abgestiegen und in die Wand hinein-gequert, um den Weiterweg zu erkunden. Er bog um eine Ecke, dann war er unserem Blick entschwunden. Wir sahen nichts mehr von ihm, hörten nur mehr das Gepolter der unter seinen Tritten sich lösenden Steinschläge. Langsam kletterten wir nach, noch unschlüssig, ob wir unserem Freunde folgen sollten. Als wir um die Ecke bogen, erblickten wir ihn bereits in der Nähe des die Gipfelwand rechts begrenzenden Firncouloirs.

Nun bestand auch für uns kein Zweifel mehr darüber, welchen Weg wir einschlagen sollten. Wir folgten den Spuren unseres Freundes bis zum Rande des von Steinschlägen bestrichenen Couloirs, überschritten dasselbe in grösster Eile und stiegen dann über die Felsrippen in der Mittellinie der Wand empor. Freund Schulze hatte indes einen wesentlich schwierigeren Weiterweg gewählt. Er war durch das Couloir angestiegen und erkämpfte sich hoch oben über vereistem Fels einen Ausstieg aus der Rinne auf die von uns benützte Rippe. Auf einem spärlichen Platz konnten wir uns endlich wieder vereinigen und die weiteren Massnahmen beraten. Sollten wir das Seil anlegen? Sollten wir Seillänge um Seillänge sichern? Nein, es hätte keinen Zweck gehabt. Der Fels war so brüchig und griffarm, mit Schnee, Eis und Grus bedeckt, von Wasser überronnen und dabei von so ausserordentlicher Steilheit, dass eine ordnungsgemässe Sicherung unmöglich gewesen wäre. Die Seilbedienung hätte den Zeitaufwand und die objektiven Gefahren des Steinschlages vervielfacht und hätte im Falle des Sturzes eines der Teilnehmer vermutlich das Schicksal aller besiegelt. So entschlossen wir uns, auf Seilsicherung zu verzichten.

Peinlichste Vorsicht wahrend, stiegen wir weiter, berührten alles und nichts. Unsere Bewegungen waren mehr ein Schleichen denn ein Klettern; jeder hielt sich in einer anderen Fallirne, um den Kameraden nicht durch unvermeidliche Steinschläge zu gefährden. Hin und wieder kamen knatternd Geschosse aus grossen Höhen, schlugen rechts, links von uns auf steile Platten, stoben splitternd weiter in die Tiefe. Es war ein nerven-anspannendes Ringen, doch wir sahen wenigstens Erfolg: wir gewannen rasch an Höhe.

Näher und näher rückten wir dem trapezförmigen Gipfelaufbau. Schon befanden wir uns in der Höhe des grossen Gendarmen im Gspaltenhorn-nordgrat, schon sahen wir den firnigen Gipfelgrat leuchten, auf dem gerade eine Partie im Abstieg begriffen war.

Das Rippensystem verliert sich mit zunehmender Höhe mehr und mehr in eine Zone von abschüssigen Platten; erst dicht unter dem firnigen Gipfelaufbau setzt es mit einer Steilstufe wieder an. Die Platten waren mit Schnee und Eis bedeckt. Zu gerne hätten wir hier die nun gänzlich unangebrachten Kletterschuhe mit den Nagelschuhen vertauscht, doch wir fanden keinen Stand, keine Möglichkeit, den Schuhwechsel zu betätigen. So stiegen wir denn in Kletterpatschen weiter, säuberten mit dem Pickel Griffe und Tritte vom Schnee und hieben schmale Kerben in die glasige Eiskruste der Felsen, um den weichen Filzsohlen eine notdürftige Auflagerfläche zu schaffen. Wir umgingen den letzten Steilaufschwung, der sich auf gleicher Höhe mit dem Abbruch des Gspaltenhorn-Nordwestgrates befindet, durch eine Wandeinbuchtung zur Rechten und querten an seinem oberen Rande zurück an die Kante.

Die Kletterer am Nordwestgrat hatten uns inzwischen bemerkt. Erregt winkten sie uns zu und spendeten uns Worte der Anerkennung zu unserem Erfolg. Eine brüchige, aus splittrigem Fels aufgebaute Stufe war noch in heikelster Arbeit zu überwinden, dann standen wir vor der geschlossenen Firnwand. Jeweils auf einem Bein stehend, konnten wir hier endlich die Nagelschuhe anlegen. Der Eispickel trat in Tätigkeit, Kerbe reihte sich an Kerbe. Nachmittags 3 Uhr war die letzte Stufe geschlagen; siegesfroh drückten wir uns am Gipfelsteinmann die Hände.

Lange blickten wir in die Weite, starrten hinüber zu einer Wand, der unser Begehren galt: zur Nordwand des Lauterbrunnen-Breithorns. Hier harrte noch das Problem eines geraden Gipfelanstieges der Lösung. Kaum waren wir den Greulichkeiten der Gspaltenhornnordwand entronnen, da schlich auch schon die Sehnsucht nach neuem Erleben in unsere Brust. Doch je länger wir die Wand betrachteten, desto mehr kamen wir zu der Meinung, dass diese gewaltige, eisdurchsetzte Steilflanke jedenfalls sehr grosse, vielleicht unüberwindbare Schwierigkeiten bieten musste.

Unschlüssig über unsere weiteren Ziele, doch beglückt und befriedigt ob unseres jüngsten Erfolges, stiegen wir über den Nordwestgrat zur Büttlassenlücke ab. Dort angekommen, blickten wir nochmals zurück in unsere Wand und konnten kaum glauben, dass es uns gelungen war, durch diese abweisenden Flanken einen Weg zum Gipfel zu finden.W. W.

Die Nordwestwand des Gletscherhorns.

Als wir am Tage nach dem Sturm auf die Gspaltenhornwand über die Sefinenfurgge wieder ins Sefinental hinüberstiegen, zeigten sich uns die Nordabstürze des Gletscherhorns in ihrer ganzen Wucht. Unnahbar hoch und steil erhebt sich die Wand aus dem hintersten Grunde des Rottales. Sie bildet den östlichen Abschluss der von der Wetterlücke zum Lauitor ziehenden gewaltigen Fels- und Eismauer.

Schon im Jahre 1930 war die Rottalflanke des Gletscherhorns von Heinz Tillmann und Willi Weizenbach belagert worden. Schlechtes Wetter und tiefe Neuschneelage verhinderten damals einen Angriff.

Auch diesmal dünkten uns die Verhältnisse nicht gerade einladend zu sein. Schwärzliches Eis schimmerte uns aus der Wand entgegen. Trotzdem glaubten wir, einen Erfolg in der Gletscherhornwand noch leichter erringen zu können als in der schauerlichen Nordwand des Lauterbrunnen-Breithorns. Eines wussten wir jetzt schon: Die Bezwingung der Flanke würde viel Zeit und härteste Arbeit erfordern.

Freilich, am nächsten Morgen — es war der 9. September — stiegen wir von Stechelberg zur Rottalhütte auf. Unsere Zeit war beschränkt, da Freund Drexel schon am übernächsten Tag aus beruflichen Gründen die Heimreise antreten musste. Wir beschlossen deshalb, noch mittags in die Wand ein- zusteigen und möglichst hoch in den Felsen zu biwakieren, um anderntags schon zeitig den Ausstieg zu erreichen.

Von der prächtig gelegenen Rottalhütte aus konnten wir den Schauplatz des kommenden Ringens genau betrachten: Dicht unter dem Gipfel ist in die Wand ein kleiner Hängegletscher eingelagert, darunter befindet sich in etwa halber Wandhöhe eine steile, fast senkrechte Felsstufe. Der untere Wandteil ist von einer mächtigen Steilrinne durchzogen, die das Sammel-couloir für die Steinschläge und Eislawinen des gesamten oberen Wandteiles bildet. Diese Rinne durften wir nicht betreten, wollten wir nicht unser Leben aufs Spiel setzen. Die beste Anstiegsmöglichkeit durch die untere Wandhälfte schien eine breite, schwach ausgeprägte Felsrippe zu bieten, welche nordöstlich vom Hauptcouloir gegen eine senkrechte Wandstufe der Mittelzone emporzieht. Diese Wandstufe mussten wir an ihrer niedersten Stelle zur Linken überwinden, um das steile Eis des obersten Wandteiles zu gewinnen. Der Ausstieg aus der Wand musste wohl rechts von einem unter dem Nordgrat hinziehenden steilen Felsgürtel erfolgen.

Noch zögerten wir kurze Zeit, blickten empor zum Himmel: Die Sonne, die noch wenige Stunden vorher warm vom allzu klaren Himmel strahlte, hatte sich hinter schwarzen Wolkenbänken verkrochen. Langsam fing es an zu regnen. Sollten wir den kühnen Wurf wagen? Ja! Für Freund Drexel bot sich heute die letzte Möglichkeit, vor Ablauf seines Urlaubs die Wand anzugehen. Dieser Umstand war bestimmend.

Es war 12 Uhr mittags, als wir die Rottalhütte verliessen. Ohne Schwierigkeit überquerten wir den in seinem Sammelbecken fast ebenen Rottalgletscher bis zum hintersten Winkel am Fusse der Wände. Wir hatten eine Höhe von 2800 m erreicht. Fast 1200 m überragte der Gipfel des Gletscherhorns noch unseren Standplatz. Wie lange würde es dauern, diese 1200 m zu meistern? Wann würden wir den höchsten Punkt betreten?

Um 1330 Uhr standen wir am Bergschrund dicht neben dem Hauptcouloir. Der Schrund zeigte ein wildes, abweisendes Gesicht. Überhängende Eiswülste und von Lawinen glatt gescheuerte, senkrechte Felsabbrüche bildeten mit dem heraufleckenden Gletscher einen tiefen, unüberwindlich erscheinenden Schrund. Freund Drexel wollte schon den Kampf an einer Eisbarriere, die eine fragwürdige Möglichkeit zu bieten schien, beginnen. Da entdeckten wir weiter links eine Stelle, an der mittels eines weiten Spreizschrittes ein bequemer Übertritt vom Firn auf den jenseitigen Fels möglich war. An spärlichen Griffen kletterten wir über die steile Einstiegwand empor auf etwas flacheres Gelände. Mit glückhaftem Instinkt hatten wir den einzig möglichen Durchstieg gefunden.

Wir stiegen zunächst einige Seillängen über die Rippe gerade hinan, dann hielten wir uns nach rechts gegen eine schwach ausgeprägte Steilrinne, welche die Rippe in einen breiteren östlichen und einen schmäleren westlichen Teil spaltet. Gutgriffiger Fels ermöglichte hier ein flottes Klettern. Rasch sank das unbewegte Meer des blassgrauen Gletschers tiefer.

Die Rinne geht nach etwa 100 m in ein morsches, schräg nach links ansteigendes Band über, welches eine Zone von splitterigen Bratschen durch- zieht. Mit unendlicher Vorsicht kletterten wir weiter, hieben mit der Eisaxt Stufen in das blätterige Gestein, krallten uns mit den Fingern in rieselnden Grus. Etwa 150 m würgten wir uns über das Band empor, dann wies gegliedertes Gelände wieder den Weg gerade nach oben.

In gleichem Masse als wir höher stiegen verschlechterte sich das Wetter. Im harten Kampf hatten wir nicht beachtet, wie graue Nebel von Westen herankrochen und langsam das Rottal füllten. Das leichte Tröpfeln zu Beginn der Fahrt war längst schon in eisigen Sprühregen übergegangen. Um die Gipfelgrate hörten wir den Sturmwind toben. Im oberen Wandteil fiel Schnee. Im tollen Tanze wurden die Schneemassen vom Sturmwind aufgewirbelt, jagten in Kaskaden über die Wand herab, sammelten sich zu Sturzbächen von Schnee, die rauschend durch die Steilrinnen den Weg zur Tiefe nahmen.

Die Verhältnisse schienen wahrlich nicht danach angetan, eine der höchsten Westalpenwände zu bestürmen. Doch so rasch geben wir den Kampf noch nicht auf. Wir wollten zumindest den andern Morgen abwarten, ehe wir uns zu weiterem Angriff oder zum Rückzug entschlossen.

Schon um 1530 Uhr in etwa 400 m Wandhöhe bezogen wir ein Biwak. Wir wollten uns nicht allzu weit in die Wand empor wagen, damit sich bei einer etwaigen Umkehr am anderen Morgen der Abstieg über die Wand nicht allzu lang und gefahrvoll gestalte.Vor dem Unwetter Schutz suchend, wählten wir im steilen Fels eine seichte Nische als Unterschlupf. Der Raum war jedoch so beschränkt, dass höchstens zwei Mann Platz finden konnten. Freund Drexel erbot sich deshalb, allein auf einem überdachten Band einige Meter über unserem Standplatz die Nacht zu verbringen. Wir anderen säuberten den Grund der Nische von Eis, trieben einen Mauerhaken in den Fels, banden uns daran fest, damit wir nicht durch eine unvermutete Bewegung zu Fall kämen und stülpten einen von unseren beiden Zeltsäcken über uns.

Wir beiden, die wir unten sassen, hatten nicht übermässig unter der Kälte der Nacht zu leiden, da wir in der Nische vor dem Sturmwind einigermassen geschützt waren und uns gegenseitig unter dem Zeltsack erwärmen konnten. Um so unangenehmer war hingegen unsere Lage. Auf einer abschüssigen Platte sitzend, rutschten wir immer wieder tiefer, bis das Seil, mit dem wir uns angebunden hatten, in unseren Leib schnitt. Wir wussten nie, welche Stellung wir am zweckmässigsten einnehmen sollten. Ein unangenehmes Zwitterding zwischen Sitzen und Liegen war das Los dieser Nacht.

Freund Drexel hatte es in dieser Hinsicht etwas besser getroffen. Auf seinem Bande liegend, konnte er sich wenigstens bequem ausstrecken. Dagegen litt er trotz seines Mosettigsackes sehr unter Kälte. Schutzlos war er den Angriffen des Sturmes preisgegeben. Schutz suchend, wechselte er in dieser Nacht mehr als einmal seine Liegestatt und warf uns unten Sitzenden jedesmal als Zeichen seiner « höheren Stellung » eine Ladung Steine auf die Köpfe.

Langsam schlichen die Stunden. Zu all den gewaltigen Eindrücken dieser Sturmnacht kam noch ein Umstand, der unser Innerstes aufwühlte.

Am Vorabend hatten wir die Nachricht erhalten, dass einer unserer besten Freunde und liebsten Berggefährten, Dr. Leo Maduschka, in der gewaltigen Nordwestwand der Civetta einem Unwetter zum Opfer gefallen war. Nicht mit dem gleichen Unternehmungsgeist wie sonst waren wir in die Wand eingestiegen. Unsere Gedanken weilten zur sehr beim toten Freunde, der seine grosse Leidenschaft zu den Bergen mit dem Leben bezahlen musste.

Vierzehn Stunden mussten wir auf unserem kärglichen Biwakplatz ausharren, vierzehn Stunden sind lang; sie wurden nicht kürzer durch die Melodie des Sturmliedes, durch das Donnern niederbrechender Seraks, durch die Gedanken an das, was uns der kommende Tag bringen würde.

Mit dem herannahenden Morgen hatte die Kraft des Sturmes nachgelassen. Das Dunkel der Nacht wich dem Dämmern des jungen Tages. Wir hoben den Zeltsack hoch und schauten hinaus in einen klaren Morgen. Nur über dem Gipfel der Jungfrau hingen noch einzelne Wolkenfetzen.

Rasch waren wir munter. Nun hiess die Losung: Kampf bis zum Sieg. Um 545 Uhr verliessen wir unseren Biwakplatz. Über steilen, vereisten und verschneiten Fels stiegen wir gegen den linken Rand der senkrechten Felsstufe an, welche den Zugang zur obersten Wandhälfte sperrt. In zähem Ringen überwanden wir diese Zone an ihrer niedersten Stelle, dann lag der oberste Wandteil frei vor uns.

Eine steile von einzelnen morschen Felspartien durchsetzte Eishalde zieht von hier bis zu einem senkrechten Wandgürtel dicht unter dem Nordgrat empor. Am rechten Rande dieses letzten Felsbollwerks musste wohl der Ausstieg aus der Wand erzwungen werden, sofern es nicht gelang, den Gipfel direkt zu erreichen.

Nach einer kurzen Rast setzten wir mit neuer Tatkraft unseren Anstieg fort. Freund Drexel führte die folgenden Seillängen. Mit verbissener Wut bearbeitete er das Eis, welches hart war wie Glas. Die Felspartien, die an manchen Stellen aus dem Eismantel hervorlugten, waren von ausgesuchter Brüchigkeit. Nur langsam kamen wir hoch. Stundenlange Stufenarbeit war oft nötig, um Strecken von wenig Seillängen zu überwinden.

Im heissen Kampfe hatten wir nicht bemerkt, wie das Wetter sich neuerdings verschlechterte. Nebelfetzen hatten sich an die Bergesflanken geheftet, wurden zusehends grösser und verhüllten den Blick zur Höhe. Ein böiger Wind war aufgesprungen und jagte pulverigen Schnee über die blanken Eisflächen der Wand.

Nun hiess es, so rasch als möglich aus der Wand zu kommen. Wir vermuteten am rechten Rande des sich unter dem Nordgrat hinziehenden Felsgürtels hinter einer Kulisse eine Steilrinne, durch welche sich wohl ein Ausstieg zum Nordgrat ermöglichen lassen würde. Unsere Vermutung erwies sich beim Näherkommen als richtig. Etwa zwei bis drei Seillängen arbeiteten wir uns in heikler Kletterei durch die plattige Rinne empor, bis es möglich war, nach rechts über steilen, eisdurchsetzten Fels die Grathöhe zu gewinnen.

Es war 1545 Uhr; durch jagende Nebel sahen wir aus nächster Nähe den Gipfel winken. Ein letzter kurzer Ansturm folgte, dann war um 1615 Uhr der Sieg errungen.

Mühsam erkämpften wir uns im böigen Sturm den Abstieg zum Lauitor, dann sprangen wir in grossen Sätzen über die steilen Gletscherhänge zwischen Rottalhorn und Kranzberg hinab zum Jungfraufirn. Müde wateten wir im dämmerigen Abend durch aufgeweichten Schnee empor zum Joch.

Der folgende Morgen war schön und klar. So entschlossen wir uns, der Jungfrau einen Besuch abzustatten und über die Rottalroute ins Lauterbrunnental abzusteigen.

Lange sassen wir auf dem Gipfel der Jungfrau und blickten hinüber zur düsteren Wand des Gletscherhorns. Wir freuten uns an der abweisenden Steilheit dieser schaurigen Flanke, freuten uns in der Einnerung an den harten Kampf, in dem Bewusstsein des schwer errungenen Sieges. Glücklich und zufrieden stiegen wir daraufhin über die klassische Route des Rottalgrates talwärts.

Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedeten wir uns in Lauterbrunnen von Freund Drexel, den die Pflicht von uns abberief. Wir beiden anderen aber rüsteten zum letzten Schlag.E. Sch. und W. W.

Die Nordwand des Lauterbrunnen-Breithorns.

Das Lauterbrunnen-Breithorn ist die formenschönste Berggestalt im Gipfelkranz des Lauterbrunnentales. In eisgepanzerter, mehr als 1300 m hoher Flucht steigt die Nordflanke aus dem Breithorngletscher auf.

Die Wand ist von einzigartigem Aufbau: Eine ebenmässig gebaute, von schmalen Felsrippen und Eisrinnen gegliederte Gipfelwand fusst auf zwei mächtigen Strebepfeilern, die aus dem unteren Wandteil beiderseits der Gipfelfallinie hervortreten. Zwischen diesen Pfeilern ist eine breite, schluchtartige Wandeinbuchtung eingelagert. Dem Grunde dieser Bucht entquillt ein steiler Gletscherarm, der von den Lawinen aus der Wand gespeist wird.

Diese stolze Flanke war schon früher Ziel einer kühnen Unternehmung geworden. Dr. D. Chervet und Dr. W. Richardet 1 ) erzwangen sich am 12. August 1924 den ersten Aufstieg von Norden. Die beiden umgingen jedoch die untere Steilzone der Wand in einem weiten Bogen nach links, indem sie über die Breithornjochroute zum oberen Breithorngletscher anstiegen. Hier querten sie nach rechts an den Fusspunkt einer ausgeprägten Felsrippe, welche durch den obersten Teil der Wand emporzieht. Über diese Rippe gewannen sie den Ostgipfel. Das Problem schien also, wenigstens zum Teil, gelöst. Trotzdem hatte die Wand mein besonderes Interesse erweckt. Es dünkte mir eines der vornehmsten Ziele in den Berner Alpen zu sein, durch diese Mauer, und zwar durch die Steilschlucht an ihrem Fusse, einen direkten Weg zum höchsten Punkt zu finden.

Viele Tage waren wir im Juli 1932 auf der Oberhornalp gewesen, hatten bei ziehenden Nebeln und rieselndem Regen unbezwungene Wände belagert. Und wenn sich dann zeitweise die Nebel teilten und der Durchblick frei wurde auf die neuschneeüberzuckerte, feingegliederte Nordwand des Breit- horns, aus der die Lawinen stäubend zu Tal fuhren, dann begruben wir all unsere Hoffnungen, durch diese Wand jemals den erstrebten Durchstieg erzwingen zu können.

Damals fiel die Nordwand des Grosshorns als einziger Erfolg unseres Harrens, die direkte Nordwand des Breithorns aber war unberührt geblieben.

Vom Gipfel des Gspaltenhorns hatten wir die Wand wieder beäugt, hatten Pläne geschmiedet und wieder verworfen, hatten Hoffnungen gehegt und wieder begraben. Doch was half alles Zaudern? Die Entscheidung konnte nur ein entschlossener Versuch bringen.

Nach der Durchsteigung der Gletscherhornnordwand waren Freund Schulze und ich allein in Stechelberg zurückgeblieben, etwas abgekämpft zwar, aber doch entschlossen, einen Versuch der endgültigen Lösung des Breithornnordwandproblems zu machen.

Am Nachmittag des 12. September stiegen wir zur Oberhornalpe auf. In grauen Nebeln war die Natur ertrunken, einförmig trommelte der Regen auf das Dach der Hütte. Missmutig legten wir uns ins Heu. Die frühen Morgenstunden brachten keine Besserung des Wetters. Noch immer umhüllten ziehende Nebelschwaden die Bergesflanken. Da plötzlich um 9 Uhr morgens wurde es licht, die Schwaden zerteilten sich und gaben den Durchblick frei auf den Gipfelbau des Breithorns, der unnahbar hoch aus einer tiefliegenden Wolkenbank herauszuwachsen schien.

Das plötzliche Aufklaren war für uns das Signal zum Aufbruch. Sollte uns in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit auch der Gipfelsieg nicht beschieden sein, so wollten wir doch wenigstens die Wand für den morgigen Ansturm erkunden.

Über Moränenhänge nach Süden ansteigend, erreichten wir den Breithorngletscher. Wir überquerten ihn zum Fusspunkt des steilen Gletscherarmes, der dem unteren Wandteil entströmt. Hier legten wir die Steigeisen an, dann begannen wir über steiles, zerschrundetes Eis emporzusteigen. Nach etwa 200—250 m verflachte sich die Neigung des Eises ein wenig. In der Nähe der in glatten Plattenwänden aufragenden untersten Steilzone der Wand hielten wir inne.

Es ist ein einzigartig wilder Felszirkus, der den Beschauer hier umgibt. Hufeisenförmig streben allseits glattgescheuerte, wasserüberronnene Plattenlagen empor, die keine Möglichkeit des Durchstiegs zu bieten scheinen. Ratlos liessen wir den Blick über die Wände emporgleiten. Sollten wir uns an den steinschlagbestrichenen Platten im Grunde der Schlucht versuchen? Aus-sichtslosOder sollten wir über den Felspfeiler zur Rechten ansteigen? Hier schien ein Durchkommen möglich zu sein. Doch würde diese Route nicht auf den Gipfel führen; sie schien indirekter als der Anstieg Chervet-Richardet zu sein. Wieder suchte das Auge. Da entdeckten wir in der senkrecht erscheinenden Wand des zur Linken vorspringenden Felspfeilers ein horizontales Band, welches nach einer Unterbrechungsstelle in eine gegen den Schluchtgrund ansteigende Plattenrampe übergeht. Vom Ende dieser Rampe müsste wohl durch eine schwach nach links emporziehende Steilrinne der Aufstieg aus der Schlucht in den oberen Wandteil möglich sein. Glückte es, über ein System von Rissen das oben erwähnte Band und über dieses die Plattenrampe und die Steilrinne zu erreichen, so war vermutlich der Schlüssel der Ersteigung gefunden.

Während wir noch diese Möglichkeiten erwogen, durchzitterte plötzlich ein unheimliches Krachen die Luft. Eine Steinsalve kam über die Wand herabgefegt; krachend schlugen die Trümmer aufs steile Gletschereis und sprangen in mächtigen Sätzen die jähen Halden herab. Wir warfen uns zu Boden, suchten Deckung hinter niederen Eisblöcken. Langsam verstummte das Heulen der Steingeschosse, die augenblickliche Gefahr war vorüber.

Eiligst verliessen wir unseren Standplatz und querten nach links zum Fusspunkt des Riss- und Rinnensystems, das zum Beginn des horizontalen Bandes empor führt. Bequem liess sich der Bergschrund überschreiten. Wider Erwarten rasch kamen wir hoch. Bald standen wir auf dem breiten, überdachten Bande, wo wir einen schönen Steinmann errichteten.

Wir verfolgten das sich mehr und mehr verschmälernde Band nach rechts bis zur gefürchteten Unterbrechungsstelle. Auch diese liess sich leichter als wir vermuteten überwinden; eine kurze senkrechte Wandstelle galt es zu meistern, dann standen wir auf der Plattenrampe.

In zunehmender Schwierigkeit stiegen wir über die Rampe empor, bis sie sich am Fusse einer senkrecht aufsteigenden Wandstufe verliert. Rechts dieser Wandstufe erblickten wir die Steilrinne, welche den Schlüssel der Ersteigung bildet. Durch sie mussten wir die obere Wandzone erreichen, sonst war unser Versuch missglückt.

Bis hieher waren wir ohne Seil gegangen. Auch jetzt noch trachtete jeder von uns, auf eigene Faust den Weiterweg zu finden. Freund Schulze probierte an der Steilstufe zur Linken und verbiss sich hier in plattigen Fels. Ich versuchte, durch die wasserführende Rinne zur Rechten emporzuklimmen.

Langsam schob ich mich an kleinen abschüssigen Tritten empor, jede Bewegung des Körpers sorgfältig abwägend. Wieder kam unheimliches Surren aus den obersten Teilen der Wand. Ich stand an der gefährlichsten Stelle, im engsten Teil eines Sammeltrichters, durch den alle Geschosse zur Tiefe breschen. Eng presste ich den Leib an den glitschigen Fels, die Stirne ins rinnende Wasser. Bange Sekunden verstrichen, während die Geschosse dicht über meinem Kopf hinweg heulend den Weg zur Tiefe nahmen. Noch einige Meter kämpfte ich mich in grösster Hast empor, streckte mich auf dürftigem Stand, blickte für Sekunden um einen flachen Wulst. Ich hatte genug gesehen; hier war ein Durchkommen möglich, der Schlüssel der Ersteigung war gefunden. Eilig trat ich den Rückzug an, während neuerliche Steinsalven durch die Rinne prasselten.

Bald war ich wieder bei Freund Schulze, der seinen Versuch als aussichtslos aufgegeben hatte. Wir zogen uns aus dem Steinfallbereich zurück und berieten: Es war 2 Uhr nachmittags. An eine Bezwingung der Wand war bei der fortgeschrittenen Tageszeit nicht mehr zu denken. Nun blieben uns zwei Möglichkeiten. Entweder wir drangen in der Wand so hoch als möglich empor und biwakierten, oder wir traten den Abstieg zur Hütte an und versuchten die Durchsteigung in einem Zuge am kommenden Tag. Wir über- legten weiter: Die Steinfallgefahr war jetzt um die Mittagszeit grösser als zu jeder anderen Stunde des Tages. Das Wetter war noch immer unsicher. Qualmende Wolkenbänke füllten die Täler, schleierartige Zirruswolken überzogen das Firmament. Überraschte uns im Biwak ein Wettersturz, so mussten wir anderntags bei den zu erwartenden Schwierigkeiten um unser Leben kämpfen, um wieder aus der Wand zu kommen. Diese Erwägungen waren bestimmend für den Entschluss zum Rückzug. Gemächlich stiegen wir wieder über die Wand hinab. Die Schatten des Abends lagen schon über den Tälern, als wir die Oberhornalp betraten. Mehr als einmal hielten wir an diesem Abend nach dem Wetter Ausschau. Wolkenfahnen hingen an den Gipfeln der Berge; der aufsteigende Mond war von einem grossen Hof umgeben. Missgestimmt legten wir uns schlafen. Sollte uns das Wetter wieder narren?

Als wir bald nach Mitternacht vor die Hütte traten, war die Wetterlage wenig verändert. Dennoch machten wir uns um 230 Uhr auf den Weg. Ohne Schwierigkeit fanden wir dank der vorausgegangenen Erkundung im nächtlichen Dunkel den Anstieg; als der junge Tag erwachte, waren wir bereits auf dem Schuttband bei dem Steinmann, den wir tags zuvor errichtet hatten.

Hier warteten wir kurze Zeit. Noch zauderten wir. Sollten wir bei dem immer noch unsicher scheinenden Wetter den Weiterweg wagenVorerst schon noch, zur Umkehr war immer noch Zeit. Dann stiegen wir über die Rampe empor bis zu jener Stelle, wo es gilt, in die Wasserrinne zu queren. Hier legten wir Seil und Kletterschuhe an.

Freund Schulze ging als Erster die Wasserrinne an. Erst langsam, dann immer rascher lief das Seil ab. Ich hatte nur noch wenige Schlingen in den Händen, und immer noch hatte Schulze keinen Stand gefunden. « Seil aus », brüllte ich. « Kein Stand, ungesichert nachkommen », war die Antwort. Behutsam schob ich mich im nassen, griffarmen Fels empor, stets bewusst, dass der geringste Fehltritt für beide Verderben bedeutete. Schulze war längst meinem Blick entschwunden, nur am ruckweisen Ablaufen des Seiles merkte ich, dass auch er kletterte. Kurze Zeit stockten die Bewegungen des Seiles, dann wurde es rasch eingezogen; Freund Schulze hatte einen Sicherungsstand gefunden.

In kürzester Zeit war ich bei ihm, und nun ging 's im tollen Stürmen durch das Rinnensystem weiter, denn schon begannen wieder Steinsalven aus der Gipfelwand herniederzuprasseln. Es war unangenehmstes Gelände, in dem wir uns bewegten. Nasser Fels wechselte mit glasigem Eis und hartem Firn. Die Kletterschuhe waren längst durchweicht. Auf einem schmalen Sims wechselten wir sie mit den Nagelschuhen und legten die Steigeisen an.

Befriedigt konnten wir auf unseren bisherigen Erfolg blicken. Die unterste Steilzone der Wand lag unter uns, das Haupthindernis war damit gemeistert. Auch das Wetter schien sich zum Besseren wenden zu wollen. Der Himmel war klar geworden, nur einzelne weisse Wölkchen schwammen am tiefblauen Firmament.

Mit froher Zuversicht gingen wir wieder ans Werk. Über einen steilen Firnkegel stiegen wir gegen den zweiten, sperrenden Wandgürtel an, der sich in gleicher Höhe mit den auf den beiderseitigen Felspfeilern aufgelagerten Eisnollen befindet. Durch eine mit einem Überhang ansetzende, wasserüberronnene Verschneidung und eine schwierige Wandstelle ward diese Zone überwunden. Darüber setzt die schwach ausgeprägte Felsrippe an, die rechts von der durch Chervet und Richardet benutzten Rippe in der Gipfelfallinie zum höchsten Punkt führt.

Noch trennten uns 700 m vom Gipfel. Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren über das Ringen mit dieser Rippe, nur die allgemeinen Eindrücke will ich schildern. Es war härteste Fels- und Eisarbeit, die wir zu leisten hatten. Morsches, bratschiges Gestein, das behutsamste Behandlung erheischte, wechselte mit kleingriffigem, steilem Fels, der grösste Klettergewandtheit erforderte. Lockerer pulvriger Schnee auf glatten Platten wich glasigem Eis, das in harter Pickelarbeit zu meistern war. Mehr als ein halbes Dutzend mal haben wir im Verlauf der Fahrt, oft nur in einer schmalen Eiskerbe stehend, auf abschüssigen Platten klebend, die Kletterschuhe mit den Nagelschuhen, die Nagelschuhe mit den Kletterschuhen vertauscht. Wohl ebenso oft mussten wir auf schlechten Ständen unsere Steigeisen an- und wieder ablegen, mussten wir die gewichtigen Rucksäcke abnehmen, um Notwendiges hervorzuholen, Überflüssiges zu verstauen.

Oft blickten wir zur Höhe, wo die im hellen Sonnenlichte leuchtende Gipfelwächte als lockendes Ziel winkte, doch nur langsam, unendlich langsam rückten wir ihr näher. 1340 m Wandhöhe wollten erkämpft sein.

100 m unter dem Gipfel stellte sich uns ein mächtiger Kantenabbruch als letztes Hindernis entgegen. Aus morschen übereinander geschichteten Blöcken baut er sich nahezu senkrecht auf. An einem spärlichen Stand, dicht unter dem Abbruch, trieb Freund Schulze einen Haken ins Gestein, hängte einen Karabiner ein und zog zur Sicherung das Seil hindurch. Mit unendlicher Vorsicht schob er sich Meter für Meter empor, dann entschwand er meinem Blick hinter einer sonnenumspielten Felskante.

Bald waren wir wieder vereinigt auf luftiger Kanzel. In nächster Nähe winkte der Gipfel. In freudigem Ansturm wurden die letzten Felsstufen überwunden. Um 1535 Uhr setzten wir unseren Fuss auf die stolze Zinne.

Es war wohl die schönste Gipfelrast, die ich im Verlaufe dieses erfolgreichen Sommers in den Berner Alpen verlebte. Unendliche Freude über den unerhört schönen Sieg durchströmte unsere Brust. Zu dieser Freude gesellte sich noch das Glück des unendlichen Schauens. Hemmungslos glitt der Blick nach Süden, wo über einem brandenden Wolkenmeer die Walliser Hochgipfel in den Himmel ragten, nach Südwesten zum Firndom des Mont Blanc, den zarte Wolkenkämme umspielten.

Nach langem Träumen stiegen wir über den Westgrat zur Wetterlücke ab. Violette Schatten schlichen in die Täler, während wir müde um den Südfuss des Tschingelhorns dem Petersgrat zustrebten. Fahles Mondlicht spielte über die Gletscher, als wir über die weite Schneefläche des Kanderfirns zur Mutthornhütte wanderten.

Anderen Tages: Ein wundervoller Herbstmorgen lag über den Berner Alpen. In eiliger Fahrt führte uns unser Wagen talaus. An einer Wegbiegung hielten wir kurz inne, blickten zurück auf die Berge, die uns gewaltiges Erleben gegeben hatten, erinnerten uns der Stunden härtesten Kampfes, der Freuden glücklicher Siege. Dann wandten wir uns der Heimat entgegen in dem Bewusstsein, nicht umsonst gekämpft zu haben, in der Überzeugung, Werte errungen zu haben, die das Leben lebenswert gestalten, die dem Dasein dauernden Inhalt zu geben vermögen, die den Menschen aus dem Alltags-dasein emporführen zu wahrer Menschlichkeit.W. W.

( Schluss folgt. )

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